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KLIMA/769: Plötzlichkeit inbegriffen (SB)



Seit der letzten Kaltzeit erwärmt sich die Erde. In Folge dessen schrumpfen die mächtigen Eisschilde auf der Nord- und Südhalbkugel, taut der Permafrost auf und ziehen sich die Gletscher der Hochgebirge zurück. Waren zum Höhepunkt der Vereisung vor 21.000 Jahren rund 32 Prozent der Erdoberfläche mit Eis bedeckt, sind es inzwischen etwa zehn Prozent. Vor etwas mehr als 11.000 Jahren endete die letzte Kaltzeit, seitdem befindet sich die Erde im Erwärmungstrend. Dieser ist bereits "im System" angelegt. Vergleichbar mit einer Gefriertruhe, deren Inhalt nicht augenblicklich auftaut, sobald sie von der Stromzufuhr getrennt und der wärmeren Umgebungstemperatur ausgesetzt wird, verliert auch die Erde ihre Eisschilde nicht schlagartig. Normalerweise dauert es Stunden, bis eine Gefriertruhe aufgetaut ist, und es dauert Zehntausende von Jahren, bis die einst in weiten Teilen gefrorene Erde einen Zustand erreicht, der ihrer "Umgebung", der Zufuhr an Wärmeenergie durch die Sonne, entspricht.

In beiden Beispielen kann der Auftauvorgang beschleunigt werden: Bei der Gefriertruhe beispielsweise mit einem Gasbrenner, bei der Erde mit Treibhausgasen. In beiden Fällen ist mit heftigen Folgeschäden zu rechnen - sowohl für den Gebrauch des Haushaltsgeräts als auch für den Gebrauch des Planeten durch Menschen und ihrer nicht-menschlichen Mitwelt.

Mit dem Beginn der Industrialisierung vor 150 bis 200 Jahren und darauf aufgesetzt nochmals kräftig verstärkt in den letzten Jahrzehnten verbrennen die Menschen große Mengen an fossilen Energieträgern Kohle, Erdöl und Erdgas. Die dabei produzierten Abgase enthalten Kohlenstoffdioxid (CO₂). Von diesem Gas werden durch menschliche Aktivitäten jeden Tag ca. 100 Millionen Tonnen in die Luft geblasen. Das CO₂ reichert sich in der Atmosphäre an, und obgleich sein Anteil an ihr gering ist - gegenwärtig 421 auf eine Million Teile -, übt es eine entscheidende Funktion in der Energiebilanz des Planeten aus, also im Verhältnis von Zu- und Abfuhr an Wärmeenergie.

Durch die sogenannten Treibhausgase wird ein Teil der langwelligen Wärmeabstrahlung der Erdoberfläche absorbiert und daran gehindert, ins Weltall zu entweichen, mit der Folge, dass die globale Durchschnittstemperatur ansteigt. Dieser menschengemachte Einfluss auf das Klima ist bereits so dominant, dass, so zeigen es Modellrechnungen vom PIK, dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung ("Nature", 2016), die nächste Kaltzeit, die aufgrund von Parametern der Erdbahn um die Sonne in 50.000 Jahren zu erwarten gewesen wäre, um 50.000 Jahre hinausgezögert wird oder gar komplett ausfällt, abhängig von den ab heute noch zusätzlich in die Erdatmosphäre entlassenen Treibhausgasen.

Bereits frühere Forschungen hatten gezeigt, dass der menschliche Einfluss auf das Klima so stark ist, dass er Zehntausende von Jahren anhält. So lange würde es dauern, bis das menschengemachte CO₂ innerhalb der Erdsysteme erneut gebunden wird und dadurch seine Treibhausgaswirkung entfällt. Indem der Mensch durch das Verbrennen fossiler Energieträger in den sogenannten Kohlenstoffkreislauf des Planeten eingreift, hinterlässt er ein geologisches Erbe, da sich die Veränderung des Kohlenstoffgehalts in den Sedimenten niederschlägt.

Aus der Interpretation von sogenannten Klimaarchiven (u.a. Sedimentschichten - Warven genannt -, Baumringen, Eisbohrkernen, Stalagmiten) leitet die Wissenschaft ab, welches Klima in der Vergangenheit auf der Erde bestanden hat. Dabei gilt die Faustregel, dass, je weiter man in die Erdgeschichte zurückzublicken versucht, desto unsicherer die Deutungen werden.

Es wäre vermessen zu behaupten, man wüsste ganz genau, wie die Erde in 50.000 Jahren aussehen wird. Aber die eigentliche Botschaft der Modellrechnung des PIK bezieht sich weniger auf die ferne, sondern auf die unmittelbare Zukunft: Wer seine Gefriertruhe nicht ruinieren will, rückt ihr eben nicht mit dem Gasbrenner zu Leibe, und wer die Lebensverhältnisse auf dem Planeten nicht - insbesondere und an vorderster Stelle für die ärmeren Menschen - zerstören will, stoppt unverzüglich den Einsatz des Gasbrenners, der hier symbolisch für die Myriaden von Bränden steht, in denen über Jahrmillionen entstandene fossile Energieträger binnen zwei Jahrhunderten verfeuert werden.

Im übertragenen Sinn ist das auch eine der Kernaussagen des jüngsten Berichts des Weltklimarats IPCC, des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimawandel: Von der durch anthropogene Treibhausgase beschleunigten globalen Erwärmung sind jene Menschen am stärksten betroffen, die nicht über die notwendigen Mittel verfügen, sich vor dieser existenzbedrohenden Entwicklung zu schützen oder ihr zu entfliehen. 3,3 bis 3,6 Milliarden Menschen sind laut dem IPCC vom Klimawandel bedroht. Das betrifft an vorderster Stelle nahezu ganz Afrika, Südasien, Zentral- und Südamerika und die auf kleinen Inseln gelegenen Entwicklungsländer.

Im Rahmen des inzwischen 6. Sachstandsberichts (AR6) des 1988 vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) und der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) gegründeten IPCC hat Ende Februar die Arbeitsgruppe II unter dem Titel "Folgen, Anpassung und Verwundbarkeiten" auch jene wissenschaftlichen Publikationen, die in den letzten rund sieben Jahren seit der Veröffentlichung des Vorgängerberichts zu diesem Themenkomplex veröffentlicht worden sind, analysiert. Mehr als 270 Forscherinnen und Forscher aus 67 Ländern waren an der Auswertung von über 34.000 Publikationen beteiligt.


Beim Interview mit dem Schattenblick - Foto: © 2019 by Schattenblick

Prof. Hans-Otto Pörtner, Leiter der Abteilung für integrative Ökophysiologie am Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
Foto: © 2019 by Schattenblick

Der Biologe Hans-Otto Pörtner, einer von zwei Co-Vorsitzenden der Arbeitsgruppe II, sagte, dass der Bericht die Welt dazu bringen soll, mit dem Klimawandel richtig umzugehen. Im Unterschied zu früheren IPCC-Berichten werde das sehr viel engere Verhältnis zwischen Mensch, Klima und Naturräumen deutlich. Deren Wechselwirkungen müssten respektiert werden, denn sie bestimmten die Handlungsspielräume der Menschen auf dieser Erde, erläuterte er bei einer virtuellen Veranstaltung des Deutschen Klima-Konsortiums (DKK) im Vorfeld der Veröffentlichung des IPCC-Berichts. Das Zeitfenster für eine klimaresiliente Welt schließe sich, es müsse rasch gehandelt werden. Es gehe um eine große gesellschaftliche Transformation.

Der IPCC führt keine eigenen Untersuchungen durch, betreibt aber insofern Forschung, als dass er ähnlich einer Meta-Studie, in der Einzelstudien ausgewertet werden, übergreifende Trends und Zusammenhänge beschreibt. Zugleich sind die IPCC-Berichte stark anwendungsbezogen. Auch der erste Teilbericht, der sich mit den "naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels" befasst hat und im August vergangenen Jahres veröffentlicht wurde, enthält eine Zusammenfassung für politische Entscheidungsträgerinnen und -träger. Das gilt auch für den aktuellen Teilbericht sowie den kommenden zur Frage der Bewältigung der Klimwandelfolgen, dessen Erscheinen für Ende März angekündigt ist.

Die Hauptaussagen aus der "Zusammenfassung für die politische Entscheidungsfindung" des Berichts der Arbeitsgruppe II, die von der Deutschen Koordinierungsstelle des IPCC ins Deutsche übersetzt worden sind, knüpfen an die früheren Berichte an und setzen die aktuellen Trends ins Verhältnis zu diesen. Einleitend wird noch einmal klargestellt, dass der Klimawandel zweifelsohne menschengemacht ist und dass die damit verbundenen Verluste und Schäden (loss and damage) für die Menschen und ihre Mit- und Umwelt über die natürliche Klimavariabilität hinausgehen. Dabei sei über die Erdteile hinweg zu beobachten, dass die verwundbarsten Menschen am stärksten betroffen sein werden, in vielen Fällen existentiell.

Auch Ökosysteme sind unterschiedlich verwundbar. Aus dem neuen IPCC-Bericht geht hervor, dass die Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit von Ökosystemen gegenüber Veränderungen, um so stärker entwickelt ist, je breiter sie aufgestellt sind. Landwirtschaftliche Anbauflächen, zumal in Form von Monokulturen, gelten als schwach resilient. Um die Ernährungssicherheit für alle Menschen zu sichern, empfiehlt der IPCC-Bericht die Stärkung anderer Landnutzungsformen, beispielsweise Agroforstwirtschaft, sowie die bessere Einbindung der lokalen Erzeugerinnen und Erzeuger von Agrarprodukten.

Einige der Folgen des Klimawandels gelten bereits als irreversibel, beispielsweise der rapide Verlust an Arten. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Natursysteme verändern und in Zukunft weiter wandeln werden, ist für viele Arten zu hoch. Sie kommen dem Trend nicht mehr hinterher. Hatte es im Laufe der Erdgeschichte beispielsweise sehr viel saurere Ozeane gegeben als heute, in denen sogar Korallen lebten, kann die Evolution der Korallen das gegenwärtige Tempo der Versauerung nicht mehr mithalten und diese befähigen, überlebensfähige Arten zu entwickeln, deren kalkhaltigen Strukturen nicht vom sauren Ambiente zersetzt werden. Sterben die Korallen, werden die bedeutendsten marinen Lebensräume, die Kinderstube für zahlreiche Arten sind, stark beschädigt oder komplett zerstört.

Die meisten Tiere ziehen weiter, sobald sich ihr Lebensraum zu ihrem Nachteil wandelt. Auch Pflanzenarten breiten sich beispielsweise nach Norden oder in höhere Bergregionen aus, wenn es ihnen zu warm oder zu trocken wird. Eine Neuansiedlung gelingt Tieren und Pflanzen jedoch nur unter der Voraussetzung, dass ihnen dafür die notwendige Zeit gelassen wird. Josef Settele, Abteilungsleiter im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle, schlägt vor - wie auch vom IPCC empfohlen -, dass über die unverzichtbaren Klimaschutzmaßnahmen hinaus 30 bis 50 Prozent der Meeres- und Landfläche geschützt werden, um die Artenvielfalt zu bewahren. Wobei "Schutz" vieles bedeuten könne, sagte er bei der virtuellen Veranstaltung des DKK. Es gehe nicht nur um Wildnis, sondern auch um Kulturlandschaften. Jede Art, die ausstirbt, sei letztlich auch ein ganz kleiner "tipping point". Denn damit gingen Millionen von Jahren Evolution verloren.

Einst hatte Hans Joachim Schellnhuber, langjähriger Direkter des Potsdam-Instituts für Klimawandelfolgen, den Begriff "2-Grad-Ziel" weltweit publik gemacht, um Politik und Öffentlichkeit die Bedeutung des Klimawandels auf griffige Weise nahezubringen und einen einfachen Grenzwert festzulegen, der nicht überschritten werden dürfe. Der Wert bedeutet, dass die anthropogenen Treibhausgasemissionen, die Haupttreiber der Erderwärmung sind, zurückgefahren werden müssen, um die globale Durchschnittstemperatur um nicht mehr als zwei Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit steigen zu lassen.

Schellnhuber hatte die 2-Grad-Schwelle nie als ideal angesehen, doch hat er diese Zahl präferiert, weil sie einprägsam ist. Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zum Klimawandel, die inzwischen veröffentlicht worden sind, zeigen, dass dieses Ziel, das bis heute absehbar nicht eingehalten wird, zu weit vorausgesteckt ist und die Gefahr mit sich bringt, dass in den Natursystemen unaufhaltsame Entwicklungen in Gang gesetzt werden, die hochgefährlich für die menschliche Zivilisation sein können. Also wurde im Klimaabkommen von Paris (2016 in Kraft getreten) beschlossen, die globale Erwärmung um nicht mehr als zwei Grad, möglichst um nicht mehr als 1,5 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit steigen zu lassen.

Sogar dann würde es noch immer mehr Naturkatastrophen geben, als sie heute auftreten. Sollte die Erderwärmung in naher Zukunft aber 1,5 Grad Celsius erreichen, birgt dies unvermeidlich "vielfältige Klimagefahren" für Menschen und Ökosysteme, heißt es im jüngsten IPCC-Teilbericht. Ausmaß und Geschwindigkeit, mit der sich das Klima wandelt und mit denen Risiken entstehen, seien von den Minderungs- und Anpassungsmaßnahmen (mitigation and adaptation) in der nahen Zukunft abhängig. Werden nicht unverzüglich entschiedene Maßnahmen ergriffen, werden die Verluste und Schäden "mit jedem weiteren Zuwachs der globalen Erwärmung" eskalieren.

Das birgt auch die Gefahr, dass bei einem Überschreiten (overshoot) der 1,5-Grad-Schwelle, zu dem es möglicherweise schon in acht Jahren kommen wird, Grenzen überschritten werden, deren Folgen nicht mehr umzukehren sind. Eben davor warnte bereits 2016 Hans Joachim Schellnhuber im Gespräch mit dem Schattenblick, damals noch bezogen auf die 2-Grad-Schwelle. Er bezeichnete es als eine "hochriskante Strategie", zu glauben, man könne diese Schwelle überschreiten, wenn man nur bis Ende des Jahrhunderts durch gigantische Geoengineering-Maßnahmen - Stichwort negative Emissionen - wieder unterhalb landet.


Schmaler Viertelbogen eines extrem dicht besiedelten Atolls - Foto: Mark Uriona, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Der Meeresspiegel steigt, die "Anpassungsgrenze" wird schon bald erreicht.
Majuro Atoll, Marshall-Inseln, 12. Februar 2020
Foto: Mark Uriona, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Eine der Hauptaussagen des aktuellen Teilberichts des AR6 bestätigt die Einschätzung Schellnubers. Schon heute wurden in einigen Ökosystemen "harte Anpassungsgrenzen" erreicht, und mit zunehmender globaler Erwärmung werden weitere menschliche und natürliche Systeme "an Anpassungsgrenzen stoßen", heißt es. Der Bericht der Arbeitsgruppe II zeigt gegenüber dem Vorgängerbericht aus dem Jahr 2014 deutlicher auf, dass die Grenzen der Anpassung erreicht wurden. Das bedeutet, dass Tiere, Pflanzen und Menschen ihren Lebensraum verlieren, sei es beispielsweise aufgrund von anhaltenden Dürren, Hitzeperioden, Überschwemmungen, Gletscherverlusten oder auch Überschwemmungen in Folge des Meeresspiegelanstiegs. Es werden lebensfeindliche Klimazonen entstehen, die dann nicht mehr bewohnbar sind. Das verbirgt sich hinter dem bürokratisch anmutenden Wort "Anpassungsgrenzen".

Unter dem Stichwort "Klimaresilienz" werden in dem aktuellen Sachstandsbericht Wege und Maßnahmen beschrieben, wie sich Städte besser auf den Klimawandel einstellen und wie Politik und Gesellschaft besser zusammenarbeiten können. Auch wird gefordert, dass mehr auf indigene Gemeinschaften gehört wird, haben diese doch einen eigenen Zugang zu den Naturräumen. Sie hätten nicht so lange überlebt, wenn sie sich nicht mit der nachhaltigen Nutzung von Ressourcen auskennten.

Das wurde bislang von der globalen Klimapolitik im UN-Klimaverhandlungsprozess unterschätzt und hatte am 22. April 2010 in Bolivien zur Verabschiedung des Cochabamba-Protokolls, einem Abkommen der Völker, geführt. Es war die aktuelle Antwort einer Koalition der Willigen auf den katastrophalen Verlauf und das weitgehende Scheitern der UN-Klimaverhandlungen der COP15 im Jahr 2009 in Kopenhagen. Im Cochabamba-Protokoll wird mit der vorherrschenden Produktionsweise abgerechnet, und obschon Bolivien selbst, das zu dem alternativen Klimagipfel nach Cochabamba geladen hatte, seine wirtschaftliche Prosperität nicht zuletzt an den Rohstoffabbau bindet, wurde in dem Protokoll das kapitalistische System kritisiert:

"Das kapitalistische System hat uns eine Logik der Konkurrenz, des Fortschritts und grenzenlosen Wachstums auferlegt. Dieses Regime der Produktion und des Verbrauchs strebt nach grenzenlosem Gewinn, Trennung des Menschen von der Natur, gebietet Überlegenheit über die Natur, verwandelt alles in Waren: Wasser, Erde, menschliches Erbgut, Kultur der Vorfahren, Artenvielfalt, Justiz, Ethik, Rechte der Völker und das Leben selbst." (Zitiert nach: Ökologische Plattform bei der Linken)

Seit dem letzten Sachstandsbericht des IPCC vor acht Jahren hat sich die globale Durchschnittstemperatur schon um mehr als 0,2 Grad auf nunmehr 1,2 Grad C erhöht. Konsequenterweise findet der jüngste Teilbericht des AR6 sehr viel dringlichere Worte zum Klimawandel und seinen erwartbaren Folgen als die früheren Teilberichte, die ihrerseits wenig an Deutlichkeit über die heraufziehenden Bedrohungen missen ließen. Der AR6 liest sich stellenweise so, als sei er von Initiativen wie "Scientist Rebellion" oder "Deep Adaptation" verfasst worden.

Ersteres ist ein Zusammenschluss von Leuten aus der Wissenschaft, die in einem gemeinsamen Brief dazu auffordern, gewaltfreien zivilen Ungehorsam zu leisten, um auf die Dringlichkeit des Notstands in den Natursystemen und des Klimas aufmerksam zu machen und die Politik zu unverzüglichem Handeln zu bewegen. Wohingegen "Deep Adaptation" für den Standpunkt steht, dass die klimatische Negativentwicklung bereits zu weit fortgeschritten ist, als dass sie noch verhindert werden kann. Deshalb solle sich die Menschheit durch umfassende Anpassungsmaßnahmen heute darauf vorbereiten, dass morgen die Welt untergeht.

Letzteres ist nur deshalb bildlich gesprochen, weil der Meeresspiegel nicht von heute auf morgen ansteigt. Aber er steigt, und das mit zunehmender Beschleunigung. Während der letzten Kaltzeit war so viel Wasser in den Eismassen der Nord- und Südhalbkugel gebunden, dass der Meeresspiegel rund 130 Meter tiefer lag als heute. Umgekehrt bedeutet das, dass der Gletscherschwund, das Auftauen des Permafrosts und die physikalische Ausdehnung der Ozeane in Folge der globalen Erwärmung die weltweiten Meeresspiegel so hoch steigen lassen können, dass riesige bewohnte Gebiete und landwirtschaftlich oder auf andere Weise genutzte Flächen zum Meeresboden werden. Dann wären weltweit zahlreiche "Anpassungsgrenzen", um mit den Worten des IPCC-Teilberichts zu sprechen, überschritten.

"Scientist Rebellion" und "Deep Adaptation" begründen ihre Standpunkte mit den gleichen wissenschaftlichen Studien, wie sie auch in die Auswertung durch den IPCC eingeflossen sind. Wobei ein Unterschied sicherlich in der Gewichtung und den zu ziehenden Konsequenzen aus dem "Datenmaterial" besteht. Doch wie ein Vergleich von fünf ausgewählten Begriffen aus dem jüngsten IPCC-Teilbericht zeigt, hat sich der Charakter der letzten drei Sachstandsberichte hinsichtlich der Gefahren, die der Klimawandel mit sich bringt, deutlich gewandelt. Ausgezählt wurden die Begriffe "abrupt" (z. Dt.: abrupt), "cascading effects" (z. Dt.: Kaskadeneffekte), "non-linear" (z. Dt.: nicht-linear), "sudden" (z. Dt.: plötzlich) und "tipping points" (z. Dt.: Kipppunkte).

Alle fünf Begriffe drücken die Plötzlichkeit des Klimawandels aus. Als "nicht-linearer" Vorgang wird beispielsweise beschrieben, dass die globale Durchschnittstemperatur nicht nur ansteigt, sondern dass sie exponentiell, also beschleunigt ansteigt. Als Kipppunkt bzw. Kippelement gilt zum Beispiel der westantarktische Eisschild. Dort schmelzen die Gletscher, und es könnte sein, dass der Kipppunkt bereits überschritten ist, ab dem der Vorgang nicht mehr aufgehalten werden kann, selbst wenn der Mensch seine Treibhausgasemissionen drastisch reduzieren würde. Ein Anstieg des globalen Meeresspiegels um drei Meter in den nächsten Jahrhunderten wäre unausweichlich.


Die im Text genannten fünf Begriffe werden im aktuellen AR6 mit Abstand am häufigsten verwendet - Tabelle: © 2022 by Schattenblick

Kaskadeneffekte und plötzliche Ereignisse rücken zunehmend in die Aufmerksamkeit der Klimaforschung
Tabelle: © 2022 by Schattenblick

Man könnte argumentieren, dass die auffällige Häufung an Erwähnungen der genannten fünf Begriffe im aktuellen IPCC-Teilbericht allein seinem Umfang (3675 Seiten) geschuldet ist, der die der Vorgängerberichte aus dem AR4 (987 Seiten) und AR5 (aufgeteilt in zwei Einzelberichte von zusammen 1846 Seiten) zusammengenommen übertrifft. Allerdings wäre dem Argument entgegenzuhalten, dass der aktuelle Sachstandsbericht der Arbeitsgruppe II vielleicht deswegen so umfangreich geworden ist, eben weil von der Wissenschaftsgemeinde inzwischen die Dringlichkeit der Erforschung eines abrupten Klimawandels erkannt wurde und der IPCC dem nun umfänglicher als bisher Rechnung getragen hat.

In dieser Hinsicht hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Noch 2017 sagte der Klimaforscher Stefan Rahmstorf im Schattenblick-Interview, es sei bislang kaum untersucht, inwieweit Wechselwirkungen auch zwischen den Kipppunkten existieren und wie sie funktionieren. Das sei Thema eines Forschungsantrages, den eine Kollegin von ihm kürzlich gestellt habe.

In der Tat hat das PIK in den letzten fünf Jahren mehrere Studien zu diesem Themenkomplex veröffentlicht. Zu den jüngeren Publikationen, in denen das Zusammenwirken von Kippelementen unter dem Einfluss der globalen Erwärmung, der sogenannte "klimatische Domino-Effekt", untersucht wird, gehört die Studie "Interacting tipping elements increase risk of climate domino effects under global warming" (Earth System Dynamics, 2021).

Bis in die 1950er Jahre hinein hatte die Wissenschaft angenommen, dass sich klimatische Veränderungen über Zehntausende von Jahren hinziehen und keineswegs schneller sein können. Dann wurde aufgezeigt, dass ein weitreichender Klimawandel wohl schon innerhalb von Tausenden von Jahren eintreten kann. Aufgrund weiterer, noch genauerer Untersuchungen in den nächsten Jahrzehnten verkürzte sich die Zeit auf Jahrhunderte (70er Jahre), oder gar ein Jahrhundert (90er Jahre). Seit Beginn der Nuller Jahre gilt als gesichert, dass sich im Laufe der Erdgeschichte plötzliche Klimawandel innerhalb von Jahrzehnten oder gar innerhalb eines Jahrzehnts eingestellt haben, schrieb Spencer Weart, ehemaliger Leiter des Center for History of Physics des American Institute of Physics, in "Physics Today" (August 2003).

An Wearts Ausführungen anknüpfend könnte man sagen, dass im 6. Sachstandsbericht nicht nur Beispiele für einen plötzlichen Klimawandel genannt werden, sondern dass man rund 20 Jahre später sehr viel genauer weiß, dass man viel zu wenig weiß, insbesondere über plötzlich eintretende, sich selbst verstärkende Prozesse, die darüber hinaus mit Prozessen, die einer ähnlichen Dynamik unterworfen sind, zusammentreffen und sich verstärken (oder abschwächen). Der Versuch, solche "Kaskadeneffekte" zu modellieren, hat sich zu einer wichtigen Stoßrichtung der Klimaforschung entwickelt.

Jedenfalls ist im 6. Sachstandsbericht von vielfältigen, zeitgleich auftretenden Klimagefahren die Rede, und es heißt, dass ein Zusammentreffen von klimatischen und nicht-klimatischen Risiken "Risikokaskaden" auslösen dürfte, die sich über Weltregionen hinweg und in Sektoren wie Nahrung, Energie, Wasser und Gesundheit ereignen. Den Hintergrund für solche Aussagen bilden Arbeiten unter anderem von Tim Lenton, Direktor des Global Systems Institute an der Universität Exeter, UK. Er sagte im vergangenen Jahr laut einer Meldung des Centrums für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN) des Klimaforschungs-Clusters in Hamburg:

"Die jüngste Vergangenheit der Erde zeigt uns, wie abrupte Veränderungen im Erdsystem kaskadenartige Auswirkungen auf Ökosysteme und menschliche Gesellschaften auslösten, während sie um Anpassung kämpften (...) Wir stehen jetzt wieder vor dem Risiko kaskadenartiger Kipppunkte - aber dieses Mal haben wir sie selbst verursacht, und die Auswirkungen werden global sein."


Bodenbedeckende Pflanzenart mit zahlreichen weiß-gelben Blüten - Foto: Muriel Bendel, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Der Name Dryas für die erdgeschichtliche Klimastufe wurde 1935 von dem dänischen Botaniker und Quartärgeologen Knud Jessen vom botanischen Gattungsnamen der Alpentundra-Wildblume Dryas octopetala (Weißer Silberwurz) hergeleitet. Sie siedelt sich vorzugsweise in den gletscherfreien Gebieten der Hohen Breiten und Hochgebirgen an, und gilt als Indikatorgattung. Ihre Blätter finden sich beispielsweise in spätglazialen, skandinavischen Seesedimenten. Die Aufnahme stammt aus dem Hinteren Lauterbrunnental, Berner Oberland, Schweiz.
Foto: Muriel Bendel, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Ein typisches Beispiel für plötzliche Klimaveränderungen ist die Jüngere Dryas. Diese erdgeschichtliche Klimastufe liegt noch gar nicht so lange zurück, sie ist am Ende der letzten Kaltzeit angesiedelt. Die Jüngere Dryas ist die letzte Phase vor Beginn des heutigen Holozäns. Damals erwärmte sich die Erde nicht kontinuierlich, sondern sie bzw. vor allem die Nordhalbkugel wurde zwischen rund 10.730 und 9.700 Jahren wieder so kalt wie während der vorangegangenen Kaltzeit. Aus grönländischen Eisbohrkernen lässt sich ablesen, dass es zu einer plötzlichen, großflächigen Vergletscherung kam. Dieser mehr als 1000 Jahre währende Kälteeinbruch endete sogar nochmals schneller, als er begonnen hatte, und die Temperaturen stiegen innerhalb von zehn Jahren um zehn Grad Celsius an; einige erbohrte Eiskernproben ließen sogar auf eine Temperaturzunahme von 16 Grad C innerhalb einer Dekade schließen. Auf der Südhalbkugel der Erde wurden nicht so starke Temperaturschwankungen nachgewiesen.

Über den Auslöser des Kälteeinbruchs mit anschließender plötzlicher Erwärmung während der Jüngeren Dryas ist sich die Wissenschaft nicht einig. Zur Diskussion steht ein Vulkanausbruch auf Island, durch den Aerosole in die Stratosphäre aufgestiegen sind, und ein Meteoriten- oder Kometenabsturz über Kanada, der einen Eisschild destabilisiert und Waldbrände ausgelöst hat. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass sich durch die Erwärmung eine große Menge Schmelzwasser (Agassiz-See) hinter einer Eisbarriere im Norden Nordamerikas, auf Höhe der heutigen Hudson Bay, gesammelt hatte, das sich nach einem Dammbruch plötzlich in den Nordatlantik ergoss, woraufhin die Meeresströmung (thermohaline Zirkulation) unterbrochen und Westeuropa nicht mehr vom "Golfstrom" mit Wärme versorgt wurde.

Ob ein einzelnes Ereignis genügt hat, den warmen Meeresstrom um über 1000 Jahre zu unterbinden, wurde angezweifelt. Darum kam die Idee auf, dass ein weiterer Faktor hinzugerechnet werden müsste, in diesem Fall der länger anhaltende Eintrag größerer Mengen an Schnee, dessen Schmelzwasser verhindert hat, dass der Golfstrom wieder anspringt.

Ebenfalls wird ein Ausbruch des Laacher Sees in der Eifel als möglicher Auslöser des Kälteeinbruchs der Jüngeren Dryas diskutiert. Die ausgesprochen schwefelreichen Vulkangase wären bis in die Stratosphäre aufgestiegen und hätten sich dort verteilt. Das hätte die langwellige Wärmestrahlung der Erdoberfläche absorbiert.

Das Ende der Jüngeren Dryas mit seiner plötzlichen Erwärmung wird auch als Vorbild dafür gehandelt, was passieren kann, wenn im Rahmen von Geoengineering künstliche Schwefelpartikel in der oberen Atmosphäre verteilt werden und diese Maßnahme aus irgendeinem Grund (Geldmangel, Krieg, ...) wieder eingestellt würde. Computerberechnungen zufolge käme es dann zu einem "termination shock", einem abrupten Hochschnellen der Temperatur mit hochwahrscheinlich katastrophalen Folgen für die menschliche Gesellschaft.

Die Analyse von Schlammbohrkernen aus den Sedimenten des urzeitlichen Sees Lough Monreach im Westen Irlands lassen den Forscher William Patterson von der University of Saskatchewan in Kanada und sein Team vermuten, dass sich das Klima auf der Nordhalbkugel zu Beginn der Jüngeren Dryas nicht innerhalb von zehn Jahren, sondern weniger Monate, höchstens zwei Jahren abkühlte (Cordis, 2009). Die Eisbohrkerne von Grönland und auch andere Proxydaten aus Klimaarchiven geben diese hohe Geschwindigkeit der Abkühlung nicht her, doch zeigen beide Beispiele, dass das Klima der Erde äußerst empfindlich auf plötzliche Veränderungen reagieren kann und drastische Veränderungen zumindest innerhalb einer Dekade eintreten können.

Abgesehen von der Jüngeren Dryas sind noch mehr als zwei Dutzend weitere Klimaschwankungen aus der gegenwärtigen geologischen Periode des Quartär bekannt, die älter und weniger gut erforscht sind. Solche Beispiele zeigen, dass es für plötzliche Klimaveränderungen, bei denen die globale Durchschnittstemperatur innerhalb eines Jahrzehnts um mehrere Grad Celsius ansteigt, erdgeschichtliche Vorbilder gibt. Wofür es jedoch bislang keinerlei Vorbild gibt, ist, dass eine einzelne Spezies innerhalb eines Jahrhunderts das globale Klima so stark verändert wie der Mensch durch die Verbrennung von Erdöl, Erdgas und Kohle. Es ist brandgefährlich, unverdrossen so große Mengen an CO₂ zu emittieren.


Weltkarte mit mehr als ein Dutzend Kippelementen - Grafik: PIK, 2017, CC BY-ND 3.0 DE [https://creativecommons.org/licenses/by-nd/3.0/de/]

Geografische Einordnung der wichtigsten Kippelemente im Erdsystem mit Angabe der Klimazonen nach Köppen. Die Kippelemente lassen sich in drei Klassen einteilen: Eiskörper, sich verändernde Strömungs- bzw. Zirkulationssysteme der Ozeane und der Atmosphäre, und bedrohte Ökosysteme von überregionaler Bedeutung. Fragezeichen kennzeichnen Systeme, deren Status als Kippelement wissenschaftlich noch nicht gesichert ist.
Grafik: PIK, 2017, CC BY-ND 3.0 DE [https://creativecommons.org/licenses/by-nd/3.0/de/]

Einige Folgen des Klimawandels halten noch Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende an. Beispielsweise der Meeresspiegelanstieg, die Gletscherschmelze, das Schrumpfen der arktischen Meereisfläche und die Schneebedeckung, sagte der Generalsekretär der WMO, Petteri Taalas, im August vergangenen Jahres bei der Vorstellung des 1. Teilberichts des AR6 über die physikalischen Grundlagen. Man bewege sich zur Zeit auf eine Welt zu, die zwei bis drei Grad Celsius wärmer sein werde als zur vorindustriellen Zeit. Würden die Zusagen einiger Länder erfüllt, könnte man gerade noch eine 2,1 Grad C wärmere Welt einhalten, doch das genüge nicht.

Ähnlich äußerte sich Taalas kürzlich vor der Veröffentlichung des zweitens Teilberichts. Er gab laut dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (14.02.2022) aber auch zu bedenken, dass darauf geachtet werde müsse, jungen Menschen nicht zu viel Angst zu machen. Zum Auftakt der Verhandlungen über die Zusammenfassung des Berichts der Arbeitsgruppe II des 6. Sachstandsberichts sagte er: "Wir müssen vorsichtig sein, wie wir über die Ergebnisse der Wissenschaft berichten, über Kipppunkte, und ob wir über einen Kollaps der Biosphäre oder das Verschwinden der Menschheit sprechen."

Was will Taalas den jungen Menschen damit sagen? Dass sie nicht die einschlägige Literatur zum Klimawandel oder der immanenten Krisenhaftigkeit der vorherrschenden Produktionsweisen wie "Grenzen des Wachstums" (1972), "Global 2000" (1977), den Brundtland-Report (1987), "Selbstverbrennung - Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff" (2015), "Auf dem Weg in die 'Heißzeit'? Planet könnte kritische Schwelle überschreiten" (2018) oder "Heisszeit - Mit Vollgas in die Klimakatastrophe - und wie wir auf die Bremse treten" (2020) lesen und die Dringlichkeit von Klimaschutzmaßnahmen verstehen sollen?

Sicherlich, das gleichzeitige Zusammentreffen von erstens der Covid-19-Pandemie, zweitens des unermüdlich voranschreitenden Klimawandels und drittens des aktuellen Kriegsausbruchs in der Ukraine kann eine enorme psychische Belastung darstellen. Aber ein wichtiger Grund für die Verzweiflung mancher Kinder, Jugendlicher und Erwachsenen liegt vielleicht gar nicht in der Berichterstattung über die katastrophalen Entwicklungen, sondern in dem, was der Botschaft zugrunde liegt: Erstens die anscheinend unüberwindbare Beharrung der Menschen, sich trotz des wachsenden Risikos der Entstehung von Zoonosen in die verbliebenen Naturräume hinein auszudehnen oder sich tierisches Leben einzuverleiben, zweitens das klimaschädigende wirtschaftliche Wachstumsmodell beizubehalten und lediglich in grünem Licht erstrahlen zu lassen und drittens Herrschaftsräume für sich zu reklamieren, stetig zu expandieren und dadurch mit den Herrschaftsansprüchen anderer in erbitterte Konkurrenz zu treten.


7. März 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 172 vom 12. März 2022


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