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KOMMENTAR/288: Herrschaft und Leistung ... (SB)


Macht kaputt, was euch kaputt macht.


(Ton Steine Scherben, Rockband)


Gegenwärtig wird das kommerzielle und politische Treiben im internationalen Sport vollkommen vom NATO-Russland-Krieg in der Ukraine überschattet. Der Ausschluss Russlands von vielen Weltsportveranstaltungen und seine Dämonisierung könnte eine unvoreingenommene, dem Kindeswohl und nicht den kommerziellen und politischen Interessen dienende Auseinandersetzung um ein höheres Mindestalter für die Teilnahme an Olympischen Spielen ersticken, bevor sie richtig begonnen hat.

Nachdem die 15jährige Eiskunstläuferin Kamila Waljewa aus Russland dem Druck von Dopingvorwürfen und harschen Leistungsforderungen ihrer Trainer bei den Olympischen Winterspielen in Beijing nicht mehr standhielt und eine Medaille verpasste, ist einmal mehr eine öffentliche Diskussion über das Mindestalter für die Teilnahme an Olympischen Spielen ausgebrochen. Auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat angekündigt, die Diskussionen darüber mit den Weltverbänden, die die Altersgrenzen nach eigenem Gusto - sprich Wirtschaftsinteressen - festlegen, in Gang zu bringen.

Bei den Sommerspielen in Japan waren zahlreiche Teenager am Start, etwa im neuen Skateboard-Wettbewerb, wo die Olympiasiegerin Momiji Nishiya (Japan) gerade einmal 13 Jahre alt war und die Silbermedaillengewinnerin Rayssa Leal (Brasilien) sogar noch jünger. Mit "Kinderstars", die aufgrund ihrer noch nicht entwickelten Physis zu spektakulären Sprüngen, Drehungen oder Biegungen in der Lage sind, lassen sich eindrucksvolle Bilder für die olympische Aufmerksamkeitsökonomie generieren.

Gefordert wird ein Alter von etwa 17 Jahren - was allerdings verdeckt, dass Talente bereits im Kindesalter in den Vereinen, Verbänden und "Eliteschulen des Sports" für den prestigeträchtigen Hochleistungssport regelrecht herangezüchtet und Schwerstarbeit vergleichbaren Bedingungen ausgesetzt werden - allen Postulaten von einer "behutsamen" Heranführung an das Leistungsniveau der internationalen Spitze zum Trotz. Zudem veranstaltet das Internationale Olympische Komitee (IOC) seit 2010 (Sommer) bzw. 2012 (Winter) Olympische Jugendspiele für 14- bis 18jährige, wo ein ähnlicher Leistungsdruck herrscht, nur dass die Jugendlichen nicht so stark im Rampenlicht der Medien stehen. Die Jugendspiele dienen dem marktwirtschaftlich orientierten Olympiakonzern auch als Testfeld für innovative Sportarten - etwa Sportklettern, 3x3-Basketball, Breakdance oder Skateboarding -, um juvenile Zielgruppen ansprechen und das oft altbacken wirkende olympische Programm für neue Aktiv- und PassivsportlerInnen interessant machen zu können.

Es bleibt der Spekulation überlassen, ob die Krokodilstränen von Ex-Eiskunstläuferin Katarina Witt im ARD-Studio oder von IOC-Präsident Thomas Bach, der die "ungeheure Kälte" im Umgang mit der 15jährigen Kamila Waljewa durch Trainerin Eteri Tutberidz beklagte, auch geflossen wären, wenn die Goldfavoritin im Einzelwettbewerb eine Kür ohne Patzer aufs Eis gebracht hätte. Denn freudestrahlende Siegesgesichter und jubelnde TrainerInnen, wie sie das Unterhaltungsgewerbe wünscht, sagen überhaupt nichts darüber aus, welchen Preis SportlerInnen für die Tränen des Glücks und des augenblicklichen Triumphs zahlen mussten. Waljewa war die erste Frau, der bei den Olympischen Spielen ein Vierfachsprung gelang - und das gleich zweimal im Mannschaftswettbewerb, den das Russische Olympische Komitee (ROC) gewann.

Die Sensationslust des Fernsehpublikums nach technisch hochwertiger Akrobatik erhielt jedoch einen jähen Dämpfer, als die Dopingkeule auf das "Wunderkind" niederging und sich Medien, Politik und Sportjustiz auf den undurchsichtigen Fall Waljewa stürzten. Am 25. Dezember 2021, also noch weit vor den Spielen, sollen Spuren der verbotenen Substanz Trimetazidin in ihrem Körper gefunden worden sein (nachfolgende Proben, die am 13. Januar und 7. Februar entnommen wurden, waren negativ, so das CAS-Urteil). Die positive Probe war aber offenbar aufgrund von Coronafällen bei den Kontrolleuren erst am 8. Februar - einen Tag nach dem Sieg des russischen Teams um Waljewa - ausgewertet worden. Aufgrund der unklaren Schuldlage setzte das IOC die Medaillenzeremonie ab, und der Internationale Sportgerichtshof CAS entschied aufgrund des Versagens der Anti-Doping-Agenturen zu Gunsten der Sportlerin, dass sie unter Vorbehalt für die Einzelkonkurrenz starten durfte, wo sie dann unter dem Druck der Ereignisse mit ihren sportlichen Leistungen einbrach.

Die gesellschaftlich sakrosankte Dopinghatz gipfelte schließlich in Rufen der kalten Krieger aus den USA, erstmals das vor knapp zwei Jahren vom Kongress verabschiedete und vom damaligen US-Präsidenten Donald Trump unterschriebene "Rodtschenkow-Anti-Dopingbetrug-Gesetz" zur Anwendung zu bringen. Es gibt den Behörden der Vereinigten Staaten die Möglichkeit, Doping bei Sportgroßereignissen als Straftatbestand einzuordnen, wenn amerikanische Unternehmen, etwa als Sponsor, im Spiel sind. Den sogenannten Hinterleuten drohen dann hohe Haft- und Geldstrafen. Selbstredend, dass sich das Gesetz nur gegen das Ausland richtet, während die dopingbelasteten Profiligen und der Hochschulsport in den USA unbehelligt bleiben. Obwohl das US-Gesetz unschwer als Instrument des kalten Krieges zu erkennen ist, wird es auch in vielen deutschen Redaktionsstuben begrüßt. Während man überall das Dopinggras wachsen hört, mag man sich offenbar nicht vorstellen, dass auch mit Antidopinggesetzen ideologischer Schindluder à la "America first" betrieben werden kann.

Ohne Frage herrscht im russischen Spitzensport ein knallhartes Leistungsregime. Einige Sportjournalisten versteigen sich jedoch zu der Behauptung, in "totalitären Systemen" wie in China oder Russland gäbe es einen besonders menschenverachtenden Umgang mit den Nachwuchstalenten, während sie darüber hinwegsehen, was für harte Trainingsregime auch in westlichen Demokratien herrschen. Erst vor wenigen Jahren wurde z.B. in den USA aufgedeckt, dass Hunderte von Turnerinnen nicht nur über Jahre hinweg vom Arzt des US-amerikanischen olympischen Frauenturnteams Larry Nassar sexuell missbraucht, sondern viele auch bootcamp-ähnlichen Disziplinierungsmaßnahmen unterzogen worden waren, damit sie mehr leisten. Medaillenerfolge dienen dabei keineswegs nur als Ausweis für Politik, Unterhaltung und Sozialreputation, dass eine effiziente Sportförderung betrieben wird, sondern auch als Deckmantel für die "harten Hunde" des TrainerInnengeschäfts, mit ihrer ausbeuterischen, mitunter auch sadistischen Praxis fortzufahren.

"Er hat uns psychisch gebrochen. Er hat uns körperlich verletzt. Er hat uns beschämt. Er hat uns in Angst und Schrecken versetzt, und zwar in einer Weise, die uns unser ganzes Leben lang beeinträchtigen wird", erklärte die ehemalige Spitzenturnerin Sarah Klein, die schon im Kindesalter von ihrem damaligen US-Olympiatrainer John Geddert körperlich, verbal, emotional und psychologisch missbraucht worden war. [1] Geddert, der in persönlicher und beruflicher Beziehung zu Nassar stand und 2012 in London Gold mit der Frauenmannschaft holte, hatte sich 2021 das Leben genommen, nachdem er für zahlreiche Vergehen im Zusammenhang mit dem Missbrauch junger Turnerinnen angeklagt worden war. Wie die heutige Opferanwältin Sarah Klein jüngst in einem Beitrag für den "Guardian" [2] schrieb, sei das Schockierendste die Rolle, die das Olympische und Paralympische Komitee der Vereinigten Staaten (USOPC) und USA Gymnastics bei der Ermöglichung und Vertuschung des größten sexuellen Missbrauchsskandals in der Geschichte des Sports gespielt habe. Zudem seien die meisten derjenigen, die Nassars Missbrauch über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg ermöglichten, nie vor Gericht gestellt worden.

Mit scharfen Worten prangerte Klein auch den Umgang mit der 15jährigen Eiskunstläuferin Kamila Waljewa durch das Russische Olympische Komitee sowie das Verhalten des IOC um seinen Präsidenten Thomas Bach an. Mit ihrer Kritik am Ringekonzern, dieser schändlichen Organisation, die ihre erklärten Grundsätze "Exzellenz, Freundschaft und Respekt" aufgegeben und sich der Gier, der Korruption und des Missbrauchs verschrieben habe, steht sie sicherlich nicht allein. Auch in der kritischen Wissenschaft melden sich immer mehr VertreterInnen zu Wort, die im kommerziellen Spitzensport im allgemeinen wie auch beim IOC im besonderen die Verwirklichung von Gemeinwohlinteressen kaum mehr zu erkennen vermögen.

Über einen seltenen Fall von Wissenschaftler, der nicht nur die platten Moralergüsse des Mainstreamjournalismus um etwas akademische oder philosophische Würze bereichert, konnte man nach den Spielen in Tokio und Peking in der Zeitung "Neues Deutschland" lesen. So berichtete der Journalist und Autor Felix Lill über den Sportprofessor Atsuhisa Yamamoto von der Seijo Universität in Tokio, der in seinem Buch "Post sport no jidai" (Die Post-Sport-Ära) argumentiert, wie sich der Spitzensport zuletzt immer deutlicher von dem der Allgemeinheit entkoppelt habe. "Unsere Vorstellung vom Sport, die von einem gesunden und natürlichen Körper ausgeht, ist in eine Krise geraten", schreibt Yamamoto. Zumal dann, wenn als Vorbilder die heutigen Elitesportler gelten sollen. Die seien längst künstlich verstärkte Wesen, sei es durch Doping, Datenanalyse oder teure Ausrüstung und harte Trainingsregime. [3]

Das "Monster", das Sarah Klein und andere erlebt haben und das sie vielleicht auch nie mehr loswerden, manifestiert sich nicht nur in den Personen, die auf besonders erniedrigende Weise die knochenharten Leistungsregime des Kinder- und Erwachsenensports betreiben, sondern auch dort, wo im Gewande Olympischer und Paralympischer Spiele der "Feierkapitalismus" sein Unwesen treibt. Mit diesem Begriff (celebration capitalism) in Anlehnung an Naomi Kleins "disaster capitalism" (Katastrophen-Kapitalismus) beschreibt der ehemalige US-Fußballprofi und heutige Politikwissenschaftler Jules Boykoff die Ausrichtung der Olympischen Spiele als ein feierliches Spektakel, bei dem es mehr um den wirtschaftlichen Nutzen für wenige als um den wirtschaftlichen Wohlstand für viele gehe. Die Spiele ermöglichten es den staatlichen Akteuren, Strategien einzuführen, die der Bürger normalerweise nicht akzeptieren würde. Sie nutzten die soziale Euphorie des Festes, um öffentliche Ressourcen zu privatisieren und zu kommerzialisieren, unterdrückungsbereite Sicherheit und die Polizeiarbeit zu verstärken und den öffentlichen Raum zu militarisieren. "Die Olympischen Spiele versprechen das Herbeizaubern von athletischem Geschick und schillernden Wettbewerben. Ob man es will oder nicht, es sind noch andere Spiele in der Vorbereitung - die Olympia-Bonzen entfesseln den Feierkapitalismus." [4]

Das wird auch in Paris 2024 oder Los Angeles 2028 nicht anders sein, wohin die IOC-Bonzen die Sommerspiele im Rahmen einer Doppelvergabe unter den einzig verbliebenen Bewerbern vergaben. Lupenreine Olympialobbyisten, die es in politische Ämter geschafft haben wie der neue Bundestagssportausschuss-Vorsitzende Frank Ullrich (SPD), einst Biathlon-Olympiasieger und Bundestrainer, trommeln bereits wieder vehement für Olympische Spiele in Deutschland. Wer Minderjährige vor zerstörten oder unerfüllt gebliebenen Olympiaträumen schützen will, etwa weil wie im Fall Waljewa den Konkurrentinnen aufgrund der ausgesetzten Siegerehrung ein "Moment in der Sonne, die Förderungen, ihre Möglichkeiten, Geld durch einen Olympiasieg zu verdienen", verweigert wurde, wie der Rodtschenkow-Anwalt Jim Walden reklamierte [5], der sollte Kindern olympische Blütenträume am besten gar nicht erst einpflanzen. Der körperlichen Zurichtung geht die emotionale Ausbeutung von Kinderträumen, die gewöhnlich die Interessen der Erwachsenenwelt widerspiegeln, seit jeher voran.


Fußnoten:

[1] https://www.nbcnews.com/news/us-news/worst-human-being-john-geddert-accuser-sarah-klein-says-she-n1259003. 27.09.2019.

[2] https://www.theguardian.com/commentisfree/2022/feb/24/the-kamila-valieva-case-shows-yet-again-that-the-ioc-is-betraying-teen-athletes. 24.02.2022.

[3] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1161322.olympia-in-der-pandemie-an-den-menschen-vorbei.html. 13.02.2022.

[4] https://www.theguardian.com/commentisfree/2012/apr/04/price-of-london-olympics. 04.04.2012.

[5] https://www.tagesschau.de/usa-gesetz-russland-doping-101.html. 15.02.2022.


7. März 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 172 vom 12. März 2022


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