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ES GESCHAH.../030: Der Anekdotenkammer neunundzwanzigste Tür (SB)


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Alexander Aljechin gehört zweifelsohne zu den skurrilsten Gestalten der Schachgeschichte. Sein Ruhm und Ruf eilten durch Länder und Jahrzehnte, er hinterließ Meilensteine von unvergesslicher Dauer, trieb aber auch Kummerfalten auf die Stirn der Historiker, die sein Leben und Wirken in einem Prisma einzufangen versuchten. Sein Elternhaus war vermögend, sein Vater, selbst ein passionierter Schachspieler, unterstützte die Leidenschaft seines Sohnes nach Kräften und stiftete nur allzu gern das Reisegeld für ein internationales Turnier in Düsseldorf 1908, an dem Aljechin als 15-jähriger teilnahm und mit einem geteilten 4. und 5. Platz für ein kleines Aufsehen sorgte. Nach dem Turnier spielte er am selben Ort noch einen Wettkampf gegen den deutschen Meister Curt von Bardeleben, den Aljechin mit 4,5:0,5 krachend schlug.

Seine ersten Sporen hatte er sich verdient und im Jahr darauf in St. Petersburg erwarb er sich den Meistertitel. Doch das Zarenreich kannte viele namhafte Meister und so musste Aljechin auch manchen herben Rückschlag einstecken. Er lernte emsig weiter und verbesserte sein Spiel in den St. Petersburger Spielzirkeln mit unermüdlichem Eifer. Den nächsten Schritt auf seiner Karriere vollzog er 1914 am großen Turnier in St. Petersburg, wo nur anerkannte internationale Meister an den Start gingen. Aljechin sorgte für eine glänzende Sensation, als er hinter dem amtierenden Weltmeister Lasker und Capablanca, der Lasker später den Titel abringen sollte, Dritter wurde.

Der gebürtige Russe aus adligem Hause wurde wie viele Millionen bald schon in das betäubende Grollen eines Weltkrieges geworfen. Verletzungen im Inneren und äußere Blessuren zeichneten diese Kriegsjahre aus. Nach dem Kanonendonner an der Ostfront stützte die Oktoberrevolution von 1917 die bröckelnde Zarenmonarchie und trieb Russland in die Wirren eines unversöhnlichen Bürgerkriegs. 1919 wurde Aljechin in Odessa verhaftet unter dem Verdacht, Spionage für die Weißgardisten betrieben zu haben. Viele Aspekte aus dem Leben Aljechins konnten von Historikern in späteren Jahrzehnten nie gänzlich bestätigt werden, und so mutet es wie ein blasses Gerücht an, dass kein Geringerer als Trotzki ihn im Gefängnis besucht und mit ihm dort eine Partie Schach gespielt haben soll. Vielleicht waren die Verdachtsmomente gegen Aljechin nicht haltbar gewesen, vielleicht war sein Ruf als großer Schachmeister ausschlaggebend dafür, dass er schließlich entlassen wurde.

Derart bedroht von der Zange der Bolschewiki und Zarentreuen, emigrierte Aljechin im Februar 1921 in den Westen. Über einen kurzen Zwischenstopp in Berlin reiste er weiter nach Paris. Seine Heimat unterdessen sollte er nie wiedersehen. Das Schach war immer schon sein Leben gewesen, von Kindesbeinen an strebte er nach den Geheimnissen auf dem Brett und überzeugt davon, dass selbst in scheinbar verlorenen Stellungen noch ein Rettungsweg für ihn verborgen lag, zweifelte er nie an seinem Talent, einer Gabe wie von höheren Weihen.

Bis 1927 verfolgte Aljechin sein Ziel mit Engagement und Hartnäckigkeit, die höchste Ehre der Schachkunst zu erringen. In Buenos Aires konnte ihm Capablanca keinen Stolperstein mehr in den Weg legen. Die Schachwelt selbst forderte einen Thronwettkampf zwischen den beiden besten Schachspielern auf dem Globus. Obwohl Aljechin bis dahin keine einzige Partie gegen den Kubaner gewonnen hatte und alles nach einem ruhmschnittigen Sieg Capablancas aussah, geschah das schier Unmögliche. Mit 6:3 und unzähligen Remispartien bezwang der Russe, der inzwischen die französische Staatsbürgerschaft trug, den für unbesiegbar geltenden Kubaner und avancierte so zum vierten Weltmeister in der Schachgeschichte.

Über Aljechin existieren Anekdoten, deren Zahl Legion zu sein scheint. Sie heben entweder Randmomente seiner glorreichen Karriere hervor oder spielen mit seinem oft wandelbaren psychologischen Profil. Vieles sprüht vor Esprit, anderes erscheint eher hausbacken und trivial. In der heutigen Anekdotenkammer mit der Nummer 29 haben wir es mit einer kleinen Geschichte zu tun, die mutmaßlich Aljechins Schlagfertigkeit in zivilen Situationen umkrönt, beim näheren Hinsehen jedoch etwas ganz anderes zum Vorschein bringt.

Nach seinem Sieg in Buenos Aires war Aljechin abgekämpft nach Paris zurückgekehrt und flanierte durch Gassen, die ihm wenig vertraut waren. Der Spaziergang hatte ihn müde und durstig werden lassen, und so entschloss er sich, in ein kleines Café einzukehren, um sich eine Erfrischung zu gönnen. Als er so an der Theke stand, bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass weiter hinten im Raum Schach gespielt wurde. Aljechin musste wohl ins Starren gekommen sein, denn nach einer Weile erhob sich ein Herr und marschierte zielstrebig auf den Gast an der Theke zu.

Etwas schüchtern fragte ihn dieser, ob er vielleicht gewillt sei, mit ihm eine Partie Schach auszutragen. Die Anekdote verrät nicht, ob der Herr Aljechin als den amtierenden Weltmeister erkannt hatte. Aber dieser Punkt spielt für den weiteren Verlauf keine Rolle. Man darf annehmen, dass Aljechin für ihn lediglich ein interessanter Schachgegner gewesen war. Aljechin willigte ein und beide setzten sich an einen leeren Tisch, auf dem der Gastwirt gerade ein Schachbrett samt Figurenset abgelegt hatte.

Nachdem die Figuren aufgestellt waren, überraschte Aljechin seinen Kontrahenten mit der kühlen Bemerkung: "Ich gebe Ihnen einen Turm vor." Der andere, leicht entrüstet, erwiderte: "Aber wieso denn? Sie kennen mich doch überhaupt nicht." Aljechin schmunzelte ein wenig und auf seiner Zunge formten sich die berüchtigten Worte: "Eben deswegen!"

War das ein Geistesblitz oder doch nur eine Spielart des Hohns? Doch die letzte Antwort von Aljechin soll die eigentliche Dreistigkeit nur überdecken, der Wurf mit Dreck, quasi die Verletzung aller im Schach der Archaik des Blutes abgerungenen Tugenden von Respekt und Wertschätzung, steckte bereits in der Ankündigung, einen Turm vorzugeben, was in früheren Zeiten bei Wettpartien um Geld von einem sehr starken Spieler, in der Regel einem renommierten Meister, an die Adresse eines grünhäutigen Novizen gerichtet wurde, um ihn zu seinem "Glück" zu überreden. Eine ökonomische List, nichts weiter, denn der Meister war sich im klaren darüber, gegen wen er spielte.

In dem Pariser Café wurde jedoch nicht um Geld gespielt, und Aljechin hatte schließlich zugesagt, eine ernsthafte Partie mit dem für ihn Unbekannten auszutragen. Schon ein Schachanfänger lernt, spiele nicht mit deinem Gegner, besiege ihn auf dem kürzesten Wege, ohne Pardon und Hinterfotzigkeit. Denn beide verbindet dieselbe Leidenschaft für die Schachkunst.

Die Anekdote zielt also weniger auf die pfeilschnelle Spitzfindigkeit Aljechins, vielmehr soll sie, wer immer der Autor gewesen war, trefflich unterstreichen, dass Aljechin auch eine dunkle, hochmütige Seite hatte.

16. Dezember 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 178 vom 24. Dezember 2022


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