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ES GESCHAH.../029: Der Anekdotenkammer achtundzwanzigste Tür, Schachgeister, Teil 2 (SB)


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Anekdoten sind historischen Wahrheiten nicht verpflichtet. Und überdies: Was zwischen dem Gestern und dem Heute vorbeirauscht wie im Flug, bringt kein Erinnerungsgrübeln mehr ans Licht zurück, und so mag der Kunstgriff gestattet sein, eine Episode auszuschmücken, die sich in dieser Form sicherlich nicht zugetragen hat, aber dennoch Einzelheiten enthält, die den Fortgang der Geschichte, die hier erzählt wird, aufs Sinnreichste illustriert. Wir wechseln in ein anderes Zimmer. Winter und Yates stehen an der Hausbar. In den Händen halten sie ein Glas mit goldschimmerndem Sherry. Umar Hayat Khan und sein Diener warten derweil im Nebenraum auf die Rückkehr der beiden Schachmeister, die sich eine Viertelstunde ausgebeten haben, um zu beratschlagen, was mit Sultan Khan weiter zu geschehen sei.

"Nun, William, was hältst du von dem Possenspiel eben?" Yates zündet sich eine Zigarette an und lehnt mit dem linken Ellbogen auf dem schwarzglänzenden Thresen.

Bevor sich Winter zu einer Antwort anschickt, nimmt er noch schnell einen tiefen Schluck; sich mit so edlen Tropfen, wie sie ihm von den Regalen entgegenlächeln, zu verköstigen, lässt sein bescheidenes Honorar als Berufsschachspieler und gelegentlicher Redakteur von Schachnachrichten für englische Tageszeitungen nicht zu. Als er sich seinem Freund zuwendet, strahlt er über das ganze Gesicht.

"Ich bin in meiner Schachkarriere so manchem Amateur begegnet, der vom Schach weniger verstand, als in einem Fingerhut Weisheit passt, und doch die Noblesse besaß, den von mir geschätzten Siegbert Tarrasch als Dummschwätzer zu kritisieren. Der Inder spielte, zugegeben, die Eröffnungen schlecht, aber in der Tiefe seines Denkens, ahne ich, schläft dennoch ein unerweckter Riese."

Yates blickt seinem Freund tief in die Augen und schmunzelt schweigend. Es hat den Anschein, als würde er über einen Gedanken brüten. Auf seinem bartlosen hageren Gesicht regt sich nichts. Dann, wie erwachend aus Grübeleien, spitzt er die blassen Lippen, und nachdem er sich die Brille auf die Nasenwurzel hochgezogen hat, sagt er: "Ich muss dir beipflichten, teurer Freund, für jemanden, der aus dem fernen Indien kommt, entbehrt sein Spiel einer gewissen Raffinesse nicht. Ich gehe nicht so weit, zu sagen, dass seine Züge beeindruckend waren, mitnichten, aber doch ganz akkurat, ja, ja. Jedenfalls sind mir in der Provinz schon schlechtere Spieler begegnet."

Verärgert zieht Winter die dichten Augenbrauen hoch, und in seine Stimme tritt ein leicht gepresster Unterton. "Ist hier ein Echo im Raum? Du wiederholst nur meine Worte, aber was sagst du zu seinem schlummernden Talent?"

Eine indignierte Falte kräuselt sich auf der Stirn von Yates, aber er hat sich, ganz Gentleman, rasch wieder im Griff und nimmt einen langen Zug aus seiner Zigarette. Als er den Rauch genüsslich in die Luft bläst, huscht ein Lächeln über seine Lippen. "Insofern teile ich deine Einschätzung, als er die Eröffnungen in der Tat nicht beherrscht und aufgrund dieses Mangels aus dem Stegreif heraus zieht, eben so, wie es ihm sein schlichtes Gemüt gebietet. Allerdings möchte ich mich nicht dazu hinreißen lassen, ihn dafür zu tadeln. Es ist nicht seine Schuld, dass er die Eröffnungen nicht kennt. Schließlich handelt es sich um Zeugnisse der europäischen Kulturgeschichte. Hier in den Grenzen Europas entwickelte sich über eine lange Zeit eine Systematik der ersten Züge. Eröffnungen sind demnach die Quintessenz von Jahrhunderten, von Köpfen ersonnen, die ein strategisches Grundmuster, eine Linie der Logik, wenn du so willst, in den Bau hineinlegten. In Indien, weit weg von der Geburtsstätte dieser Ideen, scheint man davon noch nichts gehört zu haben."

"Über diesen Gedanken solltest du einen Artikel im Manchester Guardian schreiben, Frederick." Winter klopft seinem Freund süffisant auf die Schulter. "Ich für meinen Teil bin jedoch der Auffassung, dass dieser Turbanträger mit dem modernen Geist der Schachstrategie irgendwann einmal zumindest in zarte Berührung gekommen sein muss."

"Gewiss, das ist unverkennbar, und ich will es auch nicht leugnen, aber er spielt Fragment, wie vom Hörensagen ahmt er nach, was nicht tief in ihm gereift ist. Eine Maschine, nichts weiter. Und doch gibt mir sein Spiel Rätsel auf. Ich bin noch nicht hinter sein Denken gekommen. Am meisten überrascht hat mich jedoch seine bemerkenswerte Hartnäckigkeit. In meiner Partie gegen ihn stand er im Mittelspiel bereits bedenklich. Ich glaubte mich schon am Ziel, aber dann leistete er einen solch kreativen Widerstand gegen die drohende Niederlage, dass ich all mein Können aufbieten musste, um ihn zur Kapitulation zu zwingen. Ja, er hat mich verblüfft und auch ein wenig an meine eigenen frühen Turnierjahre erinnert, als ich noch solange um jede Partie kämpfte, bis die letzte Spur von Hoffnung aus der Stellung verschwunden war."

"Ha! So spielst du heute noch, mein schlaues Gürteltier, und vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass die Deutschen deinem Spiel das Prädikat verliehen, du seist ein tiefer Denker. Aber stellen wir den Humor hintenan: Was sollte der ganze Firlefanz mit dem Trainingsturnier?" Winter gießt sich ein neues Glas mit goldgelbem Whisky ein.

"Der indische Oberst scheint einflussreiche Freunde bei der britischen Regierung zu haben."

"Du meinst ...", haucht Winter verschwörerisch.

"Möglicherweise. Warum sonst wurden wir bestellt, um seinen Diener auf Herz und Nieren zu prüfen."

"Sultan Khan ..., das klingt wie ein Name aus einem Märchenbuch."

Yates zerdrückt den Rest seiner Zigarette im Aschenbecher und fingert sich aus einem silbernen Etui eine neue hervor. Ein Hustenreiz schüttelt ihn, aber die Unpässlichkeit ist bald überstanden. "Wenn ich mich recht entsinne, wird in dem Teil Indiens, dem er entstammt, jeder, der einen Flecken Erde besitzt, mit Khan angesprochen, unabhängig davon, ob er allen Ernstes ein Großgrundbesitzer ist oder gerade einmal so viel Land sein eigen nennt, um darauf Tennis zu spielen. Sultan ist wahrscheinlich ein üblicher Vorname in der Region dort und keineswegs ein militärischer Rang."

"Herr und Diener sind demnach nicht verwandt."

"Ich glaube nicht und könnte es mir auch nicht vorstellen. Um ehrlich zu sein, erinnert mich der junge Mann in seinem Frack eher an einen kostümierten Affen, der das Pech hatte, leidlich vom Schach zu verstehen, um seinem Herrn bei den Verhandlungen hier nützlich zu sein."

"Wie sollte ein wortkarger Pinguin dazu in der Lage sein?" Winter zieht ein verwundertes Gesicht.

"Ganz einfach, indem er den Anspruch erhebt, dass selbst ein ungebildeter Inder, der noch nie im Leben etwas von den Werken Shakespeares gehört hat und die Verse eines Percy Shelley wahrscheinlich für das irre Geschwätz eines Mondsüchtigen hält, dennoch die intellektuelle Reife aufbringt, dem englischen Meisterschach auf Augenhöhe zu begegnen", doziert Yates und tippt sich leicht auf die Stirn. "Jedenfalls würde das die Unterredungen ungemein erleichtern. Umar Hayat Khan kam sicherlich nicht als Chefunterhändler der indischen Regierung nach London, aber er gehört seit längerem dem Rat des indischen Außenministers an. In der Kronkolonie kündigt sich ein Tumult an, um nichts Schlimmeres heraufzubeschwören wie den Sepoy-Aufstand von 1857. Ein Massaker käme der britischen Regierung zu diesem Zeitpunkt ziemlich ungelegen. Dass man ihn hierher gebeten hat, könnte der Absicht geschuldet sein, wie ich insgeheim vermute, die Front der Inder zu spalten, beispielsweise, indem man den Moslems Avancen und Zugeständnisse macht, natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, hingegen die Hindus mit der kalten Schulter britischer Überlegenheit abweist. Für den Erhalt der Kolonie wäre auf diesem Wege viel erreicht."

"Ein abgefeimtes Spiel?", ruft Winter erbost aus.

"Nennen wir es lieber Weltmachtpolitik", antwortet Yates kühl.

"Das nimmt dem Geschäft nichts von seiner Verwerflichkeit. In meiner Brust schlägt noch immer das Herz eines Kommunisten. Hätte ich mehr Blut in den Adern ..."

"Statt Gallonen von Alkohol, nicht wahr, William", wirft Yates rasch dazwischen.

"... ich wollte die alten Parolen wieder von Londons Straßen widerhallen lassen."

Beschwichtigend schüttelt Yates den Kopf. "Bedenke, dass du ein halbes Jahr wegen kommunistischer Agitation im Gefängnis gesessen hast. Das ist zwar Jahre her, aber ein kaltes Verlies hat bisher noch jedes Rebellenherz abgestumpft."

"Ja", flüstert Winter bekümmert, "und auch die Wettpartien im St. George's Cafe haben mich verweichlicht und wider Willen zum Bohemien werden lassen. Amateure auszunehmen, die nicht für einen Penny Schachverstand besitzen, glaubst du, dass dies einen Kapitalisten aus mir macht?"

"Du bist, was du bist, William, ein Patriot, der von der Weltrevolution träumt", lacht Yates amüsiert auf, doch als er weiterspricht, mischt sich Trauer in seine Stimme. "Um Sultan Khan tut es mir dennoch leid. Er wirkt malade und unglücklich, das feuchte Klima schadet seiner Gesundheit und mehr noch seinem Geist das Ränkespiel seines Herren. Ich habe nicht den Eindruck, dass er das Schachspiel wirklich liebt."

"Sprachst du deshalb vorhin von einem Possenspiel?", will Winter wissen.

"Ja auch. Er gibt sich größte Mühe, diesen Umstand zu verbergen, aber wenn er seine Züge macht, wirkt er völlig teilnahmslos, als wüsste er nicht, was die Steine auf dem Brett mit ihm und seinem Leben zu tun haben. Viel lieber würde er wohl die Felder seiner Vorfahren bewirtschaften, als hier in einem fremden Land, für das sein Herz nicht schlägt und dessen Kultur ihm wohl despotisch vorkommen muss, wie eine Jahrmarktsattraktion angestaunt zu werden. Wenn er lächelt, kommt keine Wärme rüber, und wenn er lacht, dann wie ein Kind, das seine Verlegenheit zu überspielen versucht." Yates verstummt kurz, aber als er fortfährt, kann er die Empörung in seiner Stimme nicht unterdrücken. "Nur weil er dem Oberst loyal verpflichtet ist, lässt er es sich gefallen, wie ein Schwamm zwischen den Backen seines Herren zerkaut zu werden."

Winter legt seinem Freund begütigend die Hand auf den Arm. "Die Dinge so zu sehen, heißt, mit der Ursache aller Ungerechtigkeit zu hadern, Frederick. Es klingt gemein, doch weiß ich keinen Flecken auf der Erde, wo 's anders wäre: Wer Diener ist, kann sich seinen Herrn nicht aussuchen. Und doch glaube ich, in einer warmen Stube Schach zu spielen, ist von den Flüchen, die ein Menschenhaupt auf dieser Welt treffen können, noch einer der geringsten."

Yates senkt den Kopf und stöhnt leise. "Doch sollte er in Ungnade fallen, wofür vieles spricht, weil das Resultat dieses Treffens den Erwartungen von Umar Hayat Khan nie und nimmer genügen wird, droht ihm ein Ungemach. Und noch ein weiterer Gedanke plagt mich, William, seit ich über dieses Arrangement mit dem Turnier nachsinne." Er wirft seinem Freund einen langen fragenden Blick zu. "Kannst du dir vorstellen, warum man ausgerechnet mich hierher gebeten hat, den amtierenden Champion des Empires? Wozu einen Riesen aufbieten, um ein kleines Kraut zu zertreten? Irgendwie fühle ich mich mitschuldig an seinem Schicksal."

Winter nickt mehrmals, wie um den im Raum schwebenden Verdacht zu bestätigen. Dann, mit unerschütterlicher Ruhe, sagt er: "Sultan Khan könnte, ließe man ihm bloß mehr Zeit, auf dem Brett ein fürchterlicher Gegner sein. Seinem Wesen haftet etwas Unergründliches an. Tatsächlich ist mir noch niemand mit seiner Konzentrationsfähigkeit begegnet. Sein Auge hing in unserer Partie wie gebannt an den Figuren, er blickte nicht zu mir auf, und doch hatte ich das schauerliche Gefühl, irgendwie hypnotisiert zu werden ..., ja, von seinen Gedanken." Plötzlich lacht er wild auf. "Ich sage dir, von diesen Orientalen geht ein seltsamer Zauber aus, als stünden sie mit überirdischen Mächten im Bunde."

"Du solltest deine Trunksucht mäßigen, William. Du redest wirres Zeug." Ein heftiger Husten schüttelt seinen Leib. "Teufel nochmal, das wird mich eines Tages noch umbringen."

"Und ich denke, du solltest mit dem Rauchen aufhören, mein guter Frederick", entgegnet Winter mit einem breiten Grinsen.

"Dafür sind wir beide zu starrköpfig, ich aus Prinzip und du, weil du abstehende Ohren hast."

"Mach dich nicht lustig über mein gutes Aussehen, vom Vater auf den Sohn vererbt", witzelt Winter ironisch und streichelt sich über das linke Ohr.

"Du hast ja Recht, verzeih", sagt Yates versöhnlich und schweigt. Nach einer längeren Pause fügt er hinzu: "Im Sommer findet die Meisterschaft statt."

"Und?"

"Was wäre, wenn wir ihn unter unsere Fittiche nehmen, nur soviel, dass er den Rückstand zu Europa aufholt und wenigstens die theoretischen Grundkenntnisse der Eröffnungen kennenlernt. Auf diese Weise wäre seinem eigenen Talent, von dem ich überzeugt bin, dass es wie ein ungeschliffener Diamant verborgen in ihm liegt, am besten geholfen. Erinnerst du dich noch an den Inder Khadilkar, der vor Jahren an der britischen Meisterschaft teilnahm?"

"Durchaus. Er spielte nicht schlecht für einen Amateur und als Inder war sein Spiel erstaunlich gut", bemerkt Winter nachdenklich.

"Ich glaube, in Sultan Khan steckt mehr Potential. Bis Ramsgate sind es noch einige Monate. Es wäre eine Herausforderung von höchstem Rang und Reiz. Mich würde es königlich amüsieren, wenn er dem einen oder anderen Gentleman aus unseren Reihen ganz gehörig die Leviten liest. Es wäre zum Teil auch unser Verdienst, auch wenn wir den Finger stets auf den Lippen halten müssten." Yates muss unwillkürlich lächeln. "Käme unser Komplott ans Licht, würden die noblen Herren uns niemals verzeihen."

"Ein Platz im unteren Klassement, mehr wird nicht drin sein, Frederick", hemmt Winter die hohen Erwartungen seines Freundes. "Aber immerhin könnte er so seinem Gebieter wieder in die Augen schauen, ohne erröten zu müssen. Hauptsache, er wird nicht Letzter."

"Ich will noch einen Schritt weiter gehen, William, und ihm sogar einen Blick in meinen Variantenkoffer erlauben. Dann wäre er auf seine Gegner besser vorbereitet. Wenn er unbeschadet das Mittelspiel erreicht und sich geschickt ins Endspiel hineinmanövriert, du weißt schon, ganz wie Capablanca, dann sollte er genügend Remisen einsammeln, um dem Schimpf seines Herrn entgehen zu können. Und im Endspiel, das sagt mir mein Instinkt, spielt er nicht schlechter als irgendeiner von uns."

"Wenn du ihm zu viel verrätst, schnappt er dir zuletzt noch den Titel vor der Nase weg. Das wäre ein schöner Reinfall", lacht Winter vergnügt auf.

"Ha! Ha! Eher wollte ich an den Untergang des Empires glauben, als dass ein Kolonialinder die Schachwelt in Erstaunen versetzt. Aber im Ernst: Ich glaube, mein Terminkalender wird mir in diesem Jahr nicht erlauben, in Ramsgate zu starten. Die Schande fiele dann auf dich allein."

"Dieses Risiko gehe ich gerne ein. Also abgemacht, wir wollen ihn in das europäische Schach einweihen, damit ihn sein Herr nicht wie einen Hund prügelt." Winter leert sein Glas.

"Wie ich gehört habe, kehrt der Oberst noch in diesem Jahr nach Indien zurück. Mehr als diese Gelegenheit wird Sultan Khan nicht bekommen. Wir sollten jetzt in den Saal zurückgehen und dem Oberst unseren Vorschlag unterbreiten."

Die Monate gingen ins Land, und der Sommer ließ die Blumen aufblühen. Sultan Khan lernte mit dem Fleiß einer Biene, und mit dem Gedächtnis eines indischen Elefanten verstaute er das neu erworbene Wissen. Besonders zu Yates fasste er in dieser Zeit eine tiefe Zuneigung und Dankbarkeit.

Als Ramsgate seine Pforten öffnete, war Sultan Khan längst zum Stadtgespräch geworden. Ein indischer Hausdiener, der die britische Meistergilde herausfordert! Eine willkommene Abwechslung, jubelten die einen erheitert, eine Frechheit, grollten die anderen gekränkt, und doch war man gespannt zu sehen, wie einer, der keinen englischen Satz formen konnte und mit Gesten und Grimassen sprach, beim Meistertreffen abschneiden würde. Kurzum: Sensationsgelüste trieben Scharen von Neugierigen in den Turniersaal. Yates musste seine Teilnahme mit großem Bedauern absagen, er war nicht abkömmlich, ließ sich aber Depeschen schicken über den Fortgang der Runden.

Woran niemand je zu glauben gewagt hätte, weil es schlicht unvorstellbar war, geschah. Sultan Khan musste im Wettkampf nur eine einzige Niederlage einstecken. Größere Verblüffung erregte freilich, als der Turnierfavorit Winter, obgleich er eine klare Gewinnstellung auf dem Brett hatte, den Inder in ein Patt entkommen ließ. Winter konnte sich diesen Patzer nicht erklären und sprach ausweichend von einem überirdischen Zufall. Die Reihe der Sonderbarkeiten riss damit nicht ab. So leisteten sich Michell und Drewitt, eigentlich zwei starke britische Meister, gegen Sultan Khan simple Figureneinsteller. Journalisten prägten daraufhin das Bild von einem indischen Magier, der sich auf die Künste der Hypnose verstünde. Dass Sultan Khan während der Meisterschaft unter Malaria litt und dennoch den Meistertitel errang, ließ die phantastischsten Gerüchte ins Kraut schießen.

Kurz nach seinem Sensationssieg in Ramsgate kehrte Sultan Khan mit seinem Herrn nach Indien zurück. Das letzte Kapitel war jedoch noch nicht geschrieben. Im Mai 1930 reiste der Oberst nach England zurück und schickte seinen Schützling zu den Hochburgen Europas, wo Sultan Khan auf die stärksten Meister der Zeit traf. In Lüttich 1930 errang er den zweiten Platz hinter Savielly Tartakower, wurde Dritter in Hastings 1930/31 hinter Max Euwe und José Raúl Capablanca und geteilter Dritter mit Isaac Kashdan in London 1932 hinter Alexander Aljechin und Salo Flohr. In Hastings feierte Sultan Khan den wohl schillerndsten Sieg seiner kurzen Laufbahn, als er mit den weißen Steinen keinen geringeren als den Ex-Weltmeister Capablanca in 64 Zügen bezwang. Tartakower sprach ehrfürchtig von einem wahrhaft gigantischen Kampf.

Auch bei der britischen Meisterschaft sollte Sultan Khan nochmals glänzen. In Worcester 1931 belegte er punktgleich mit Winter den dritten Platz. Yates gewann die Krone, aber gegen seinen einstigen Lehrling, dessen Ursprünglichkeit des Könnens ihn von Anfang an tief beeindruckt hatte, musste er sich geschlagen geben. Im Jahr darauf in London erlitt Yates abermals eine Niederlage gegen Sultan Khan und musste den Titel an den Inder abgeben. Bald darauf endete ihre Freundschaft, doch nicht aus Gründen gekränkter Ehre. Am 1. November 1932 ereilte Yates ein tragisches Schicksal. Aufgrund eines defekten Gasofens verstarb er im Schlaf an den Folgen einer Kohlenmonoxidvergiftung. 1933 wiederholte Sultan Khan seinen Erfolg in Hastings. In vier Anläufen hatte er dreimal den Titel des britischen Meisters gewonnen.

Anfang 1934 kehrte Sultan Khan für immer nach Indien zurück und verschwand damit vollständig aus dem Blickfeld Europas. Er hatte seinem Herrn treu gedient und verließ den alten Kontinent ohne das geringste Gefühl eines Bedauerns. Tatsächlich hatte ihn vor allem das nebelfeuchte Klima in England arg zugesetzt. So litt er häufig unter Grippe und Erkältungen und spielte am Brett nicht selten mit einem dicken Schal um den Hals.

Lange Zeit hieß es, er habe nie wieder die Figuren angerührt. Heute weiß man, dass er im Februar 1935, also fast ein Jahr nach seiner Heimkehr, ein Match gegen den amtierenden indischen Landesmeister Khadilkar austrug, der 1924 als erster Inder an der britischen Meisterschaft teilgenommen hatte. Sultan Khan, an europäischen Turnieren gereift, ließ seinem Landsmann keine Chance. Nach einem Auftaktremis erzielte er neun Siege in Folge. Danach trat er vollständig von der Schachbühne ab. Im Sommer 1966 meldete die englische Zeitschrift "Chess", dass Sultan Khan am 25. April des Jahres im Alter von 61 Jahren an den Folgen einer Tuberkulose verstorben war.

Nun könnte man geneigt sein, diese Anekdote als enthüllenden Blick auf das Wirken einer Schachlegende aufzufassen, die England und das europäische Festland für die Dauer einiger Jahre in Atem gehalten hatte. Der Eindruck drängt sich jedenfalls auf, dass Sultan Khan ohne den Unterricht zweier Briten niemals zu solchen Ehren gelangt wäre. Der britischen Eitelkeit mag dies schmeicheln. Doch verhält es sich wirklich so?

Als Sultan Khan gegen die britischen Elitespieler im Trainingsturnier antrat, war sein Spiel schwach, ließ aber genügend positionelles Grundverständnis durchblicken, dass er nicht wie ein Stümper wirkte. Tatsächlich hatte er bis dahin kaum belastbaren Kontakt mit dem europäischen Schach gehabt. Als er in seinen Partien zunehmenden Widerstand leistete, schien dies Winter und Yates dazu aufzureizen, all ihr Können in die Waagschale zu werfen und so die Feinheiten ihrer Technik preiszugeben. Mehr brauchte Sultan Khan nicht hervorzulocken. Den Rest konnte er selbst ergründen. Dass er sich also flügellahm und zögerlich gab und sein strategisches Geschick verheimlichte, geschah aus Klugheit und Kalkül. Dies war seine List, war die Quintessenz seiner Erfahrungen mit dem britischen Kolonialgeist. Später brauchte er nie wieder darauf zurückzukommen. Er hatte von seinen Gegnern genug gelernt.

27. Juni 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 175 vom 2. Juli 2022


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