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FRAGEN/003: Brasilien - Marinete da Silva über die schleppende Aufklärung des Mordes an ihrer Tochter Marielle Franco (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Brasilien

"Ich glaube an eine Gerechtigkeit voll Würde für Marielle"



Versammlung vieler demonstrierender Menschen - Foto: Romerito Pontes via Flickr (CC BY 2.0) [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/]

Seit vier Jahren dieselbe Frage: 'Wer hat Marielle getötet?'
Foto: Romerito Pontes via Flickr (CC BY 2.0)
[https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/]

Vier Jahre nach dem Mord an der Schwarzen linken Stadträtin und Aktivistin Marielle Franco spricht ihre Mutter im Interview über die schleppende Aufklärung des Verbrechens.

(Rio de Janeiro, 14. März 2022, Brasil de Fato) - Vor vier Jahren, in der Nacht des 14. März 2018, fuhren Marielle Franco und Anderson Gomes durch das Viertel Estácio im Zentrum Rio de Janeiros, als ihr Fahrzeug in einen Hinterhalt geriet und Schüsse fielen, die die Stadträtin der linken Partei PSOL und ihren Fahrer töteten [1]. Marielle Franco war auf dem Rückweg von einer Veranstaltung unter dem TItel "Junge Schwarze Frauen verändern die Strukturen" in Lapa, einem der Szeneviertel Rio de Janeiros.

Anfang März 2022 traf Marielle Francos Mutter, die Anwältin Marinete da Silva, das Ermittlungsteam, das den Mord an ihrer Tochter seit vier Jahren untersucht. In einem Interview mit Brasil de Fato sprach da Silva über das Treffen, das immer noch keine Antwort auf die Frage geben konnte, wer die Hauptverantwortlichen für das Verbrechen sind. Auf die Frage, ob sie von der Bundes- und Landesregierung unterstützt werde, antwortete sie, dieser Kommunikationskanal existiere nicht.

In den vergangenen Jahren hat die Leitung der Ermittlungen im Fall Marielle Franco [2] unter der brasilianischen Zivilpolizei mehrmals gewechselt. Die Untersuchung liegt damit nun schon beim fünften Beauftragten, der den Prozess vor etwas mehr als einem Monat übernommen hat - ohne die von der Familie, sozialen Bewegungen und brasilianischen und internationalen Organisationen geforderten Antworten zu geben.


Brasil de Fato: Es sind jetzt vier Jahre ohne Antworten auf Ihre Fragen. Wie war das Treffen mit dem neuen Zuständigen für den Mordfall Marielle bei der Zivilpolizei?

Marinete da Silva: Bei unserem Treffen ging es eher um eine Art Abrechnung dessen, was in der vergangenen Zeit geschehen ist. Es ging darum, was im Fall getan wird, um die bereits erbrachten Beweise, die bisher unternommenen Schritte und auch darum, wie es momentan insgesamt im Fall aussieht. Wenn eine neue Person kommt und eine andere geht, geht der Faden des Falles ein wenig verloren.

Und wie hat sich das neue Team positioniert?

Sie sagten, dass sie Kontinuität gewähren würden. Es handele sich um einen umfangreichen und symbolträchtigen Prozess, daher gebe es keine Möglichkeit, vorherzusagen, wann wir etwas Konkretes zu den Auftraggebern haben werden. Wir sind zuversichtlich, dass wir weiterhin Zugang zu dem haben werden, was bereits getan wurde und was getan werden muss, dass wir zu den Ermittlungen zurückkehren werden, wenn etwas aus der Vergangenheit noch nicht abgeschlossen ist und jetzt für den Prozess relevant sein kann. Wir werden alles tun, was möglich ist, damit wir eine Anklage gegen den Auftraggeber erheben können.

Sie und Ihre Familie hoffen also weiterhin auf eine Lösung?

Als Mutter darf ich zu keinem Zeitpunkt die Hoffnung verlieren. Ich glaube an eine Gerechtigkeit voll Würde für sie und wir werden zu einem Ergebnis kommen. Es geht nicht darum, dass meine Tochter eine Parlamentarierin war oder dass sie besser gewesen wäre als andere. Es gibt Hunderte solcher Fälle, die nicht aufgeklärt wurden. Die Mordkommission behandelt ein enorme Menge an Fällen.

Gibt es Hinweise und Anhaltspunkte, um die Auftraggeber zu finden?

Auch wenn es keine eindeutigen Beweise dafür gibt, dass es sich um diesen oder jenen Drahtzieher handelt, so gibt es doch einige Ermittlungsansätze, sodass ich weiterhin nur an die Arbeit der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Ermittlungsteams glauben kann, die seit dem Tag des Verbrechens an der Sache arbeiten. Denn es ist klar, dass wir in einer komplizierten Situation leben: Viele Menschen, von der Bundes- über die Landes- bis hin zur kommunalen Ebene, haben überhaupt kein Interesse daran, zur Auflösung des Falles beizutragen.

Wie stehen der ehemalige Gouverneur Wilson Witzel (Partido Social Cristao), der aktuelle Gouverneur Claudio Castro (Partido Liberal) und Präsident Jair Bolsonaro [3] (Partido Liberal) zu den Ermittlungen? Haben sie zu irgendeinem Zeitpunkt geholfen?

Ich werde mich nicht zu Personen äußern, zu denen ich keinen Bezug habe. Sie haben nichts beigetragen, ich bin nicht einmal in der Lage, über diese Leute zu sprechen. Witzel, der derzeitige Gouverneur, Bolsonaro und seine Misswirtschaft sowie sein völliger Mangel an Engagement für alles in diesem Land ...

Was denken Sie und Marielles Familie über diese Zeit der Ermittlungen und die Schwierigkeiten?

Mein Gefühl ist ein Gefühl der Empörung und des Schmerzes, nicht der Revolte. Es geht um eine Position, die wir weiterhin einfordern können. Es ist das Gefühl eines barbarischen Verbrechens durch eine Person, die ihren Auftrag ausübte. An jedem anderen Ort der Welt hätten wir bereits eine Antwort. Schließlich dauert diese Untersuchung bisher nicht vier Tage, nicht vier Monate, sondern vier Jahre. Diese Untersuchung so lange nicht abzuschließen, wäre in einem seriösen Land praktisch unmöglich. Mögen die Untersuchungen im Fall Marielles, Andersons und all der anderen, zu denen ermittelt wird, in Würde abgeschlossen werden. Nur so können wir die Frage beantworten, wer die Ermordung von Marielle Franco angeordnet hat.

Welche Früchte werden Marielle und ihre Geschichte für die Politik und die Welt tragen?

Die wichtigste von allem ist ihre Tochter. Die anderen Früchte sind Frauen, die sich mit der Geschichte identifizieren, die ermutigt werden, für ein Amt zu kandidieren und sich in diesen sehr ungleichen politischen Prozess einzubringen. Es sind diejenigen, die ihre Geschichte mit Würde weiterführen. Marielle ist ein Symbol des Widerstands, sie hat sich für diesen Prozess der Gleichberechtigung eingesetzt und war zehn Jahre lang eine wichtige Aktivistin in der Menschenrechtskommission des Alerj (der gesetzgebenden Versammlung des Bundesstaates Rio de Janeiro, Anm. d. Übers.). Ja, ich werde als Mutter und als Schwarze Frau weitermachen. Und ich werde nicht aufhören, denn genau das ist es, was auch Marielle getan hat.


Anmerkungen:
[1] https://www.npla.de/thema/feminismus-queer/hintergrund-marielle-franco-und-die-zukunft-in-brasilien-hoffnung-oder-barbarei/
[2] https://www.npla.de/thema/tagespolitik/neue-spur-im-mordfall-marielle-franco/
[3] https://www.npla.de/thema/tagespolitik/fernsehsender-zieht-verbindung-zwischen-bolsonaro-und-mord-an-marielle-franco/


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/memoria-justicia/ich-glaube-an-eine-gerechtigkeit-voll-wuerde-fuer-marielle/


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Quelle:
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 9. April 2022

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