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FRAGEN/014: Faiza Shaheen - Lateinamerika. Auf in eine neue ungleiche Normalität? (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Lateinamerika
Auf in eine neue ungleiche Normalität?

Von Nils Brock und Pamela Cuadros


Ein Interview mit der britischen Ökonomin Faiza Shaheen zu gesellschaftlichen Ausschlüssen in Lateinamerika vor, während und nach der Covid-19-Pandemie.


Porträt - Foto: Meaning conference (youtube), CC BY 3.0  [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0], via Wikimedia Commons/3.0

Die linke britische Ökonomin Faiza Shaheen bei einem Panel 2016.
Foto: Meaning conference (youtube), CC BY 3.0
[https://creativecommons.org/licenses/by/3.0], via Wikimedia Commons/3.0

(Berlin, 2. Januar 2022, poonal) "Wie ist es möglich, dass arme Menschen und ausgegrenzte Minderheiten in Städten von New York bis Neu-Delhi massenhaft sterben konnten, während andere überlebten, weil sie sich zu Hause schützen oder private medizinische Versorgung in Anspruch nehmen konnten? Wie ist es möglich, dass wir zusätzlich 120 Millionen extrem Arme und 75 Millionen neue Arbeitslose haben, während das Vermögen der Milliardäre der Welt während der Pandemie von fünf auf 13 Billionen Dollar anstieg? Wie ist es möglich, dass einige Länder über einen so großen Vorrat an Impfstoffen verfügen, dass er bei der derzeitigen Verwendungsrate zu verfallen droht, während andere Länder nicht nur um Impfstoffe, sondern sogar um eine medizinische Grundausstattung betteln müssen?"

Komplexe Fragen. Vorangestellt sind sie einer im Oktober 2021 erschienenen Studie [1] der New York University, NYU. Die beteiligten Forschenden liefern darin gemeinsam eine ebenso einfache wie bedrückende Antwort: Seit Jahrzehnten leben wir in einer Welt wachsender Ungleichheit. Einer Welt, in der fast die Hälfte der Weltbevölkerung kaum ihre Grundbedürfnisse decken kann, die am Rande einer Klimakatastrophe steht und in der eine Pandemie namens Covid-19 all das auf unbestimmte Zeit noch ein bisschen schlimmer macht...

Ein düsteres, lähmendes Szenario. Wohl auch deshalb hat das globale Team der NYU seine Studie "From Rhetoric to Action" [1] getauft. Die Forschenden fragen offensiv, was die Grundlagen solidarischen Handelns sind. Wie können wir verhindern, dass soziale und ökonomische Ausschlüsse in der neuen Normalität zur Norm werden? Welche historischen Wurzeln und aktuellen Trends verstärken die weltweite Ungleichheit noch? Und was lässt sich dagegen tun?

Poonal sprach darüber mit Faiza Shaheen [2]. Die britische Ökonomin und linke Aktivistin war federführend an der Untersuchung beteiligt. Ihr Interesse galt dabei vor Allem der Frage nach der "ungleichen Erholung" der derzeitigen Pandemie in den Ländern Lateinamerikas.


Poonal: Faiza, eure Länderstudie "From Rhetoric to Action" verspricht ja schon im Titel allerhand: Von Worten zu Taten, um endlich weltweit Gleichheit und Inklusion zu verwirklichen. Was unterscheidet eure akademischen Rezepte von vorherigen Strukturanpassungsmaßnahmen, Weißbüchern und anderen großen Erzählungen?

Faiza Shaheen: Das war ja nicht allein ein akademisches Projekt, sondern fand unter Beteiligung ganz unterschiedlicher Partner*innen statt. Wir arbeiteten mit der Zivilgesellschaft, Akademiker*innen, internationalen Organisationen und Regierungen zusammen. Das ist schon einzigartig. Wichtig war uns bezüglich der politischen Programme nicht nur zu schauen, was technisch funktioniert, sondern auch wie diese erfolgreich kommuniziert und aufeinander bezogen werden. Wie schafft man es, Menschen für Ideen zu gewinnen und einen beabsichtigten Wandel zu erreichen? Das beruht auf dem Verständnis, das tatsächliche Veränderungen auf der materiellen Basis der Menschen sichtbar werden sollten. Und dafür muss die Solidarität zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppen aufgebaut und Vorurteile abgebaut werden.

Dann fangen wir gleich damit an. Welche Vorurteile siehst du beim Blick auf Lateinamerika?

Natürlich hat Lateinamerika den Ruf, eine sehr ungleiche Region zu sein und de facto ist dem auch so. Doch interessanter Weise lassen sich auch eine Reihe von Fällen finden, wo diese Ungleichheit abgebaut wurde. Wir haben uns sehr intensiv mit Ländern wie Uruguay und Costa Rica beschäftigt, weil es da zum Teil sehr gute politische Ansätze gab, was die Bekämpfung von Ungleichheit und Diskriminierung angeht, sei das nun der staatlich geförderte kollektive Wohnungsbau in Uruguay oder das Gesundheitswesen in Costa Rica. Auch das Empowerment von Communities gab wirklich einen sehr hilfreichen Einblick in funktionierende politische Programme.

In vielen anderen Ländern Lateinamerikas hat die Corona-Pandemie bestehende Ungleichheiten verschärft. Die Regierungen Brasiliens und Chiles beispielsweise haben sich nicht gerade als soziale Krisenmakler*innen hervorgetan.

Im Allgemeinen lässt sich in Lateinamerika schon ein Mangel an Vertrauen gegenüber den Regierungen beobachten und ein Gefühl, dass die Reichen zu viel Einfluss haben, während die Normalbürger*innen kaum auf die Entscheidungen der Regierungen einwirken können. Spannend war auch, was die Menschen für die Chancenungleichheit verantwortlich machen. Wir fragten, was es Kindern und jungen Menschen schwer mache, im Leben erfolgreich zu sein. Zwei der häufigsten Antworten waren in Armut aufzuwachsen oder behindert zu sein. Das ist wirklich außerordentlich. Eine Behinderung ist ja etwas unvermeidbares für ein Kind. Aber in Armut aufzuwachsen, demgegenüber gibt es einen ganz anderen Handlungsspielraum. Deshalb war es so überraschend, dass beide Faktoren als gleichermaßen deterministisch wahrgenommen werden. Armut ist ja im Grunde genommen das Resultat von politischen Entscheidungen.

Entscheiden müssen die Regierungen ja auch permanent, wie aktiv der Staat einzelne Bevölkerungsgruppen wirtschaftlich unterstützen sollte. Konservative warnen davor, sich während der Pandemie nicht zu überschulden, linke Analyst*innen warnen vor einer Rückkehr des Hungers in Lateinamerika...

Was ich bei den Umfragen in Costa Rica, Uruguay und Mexiko interessant fand, war die Zustimmung einer großen Mehrheit, gegenüber den Armen großzügiger zu sein - sowohl im eigenen Land als auch in den Nachbarländern. Sie fanden, dass ihre Regierungen da die Unterstützungen wie vor der Pandemie fortsetzen, wenn nicht erhöhen sollten. Und das bezog sich nicht nur auf das Impfen sondern auf ein allgemeineres Gefühl, Menschen nicht nur innerhalb der eigenen Landesgrenzen zu unterstützen. Nur wenn es auch den Menschen in anderen Ländern gut geht, wird es auch uns gut gehen. Das ist beeindruckend, denn das widerspricht völlig der Annahme, dass Menschen meist egoistisch denken.

In der Studie untersucht ihr auch langfristig gewachsene Ursachen gesellschaftlicher Ungleichheit. Dabei habt ihr auch geschaut, inwiefern die ethnische Zugehörigkeit eine Rolle spielt. Seid ihr da zu einem klaren Schluss gekommen?

Ja, die Studie zeigt ganz deutlich: Gesellschaftliche Vorurteile und die Ungleichheit bei Einkommen und Reichtum überschneiden sich. Sprache ist da ein zentrales Kriterium. Indigene Gruppen, und das ist auch in anderen Ländern Lateinamerikas so, gehören mit großer Wahrscheinlichkeit den unteren 20 Prozent der Haushaltseinkommen an. Peru schneidet dabei besonders schlecht ab. Und es ist wichtig darauf hinzuweisen: Das hat ganz klar mit historischen Vorurteilen zu tun und einem Mangel an Ressourcen.

Und wie reagieren die Regierungen auf solche eher unbequemen Schlüsse?

Das ist eine gute Frage. Mit einigen Regierungen haben wir eng zusammengearbeitet, sie wussten von den Umfragen und wollten sich auch an einem Dialog beteiligen, um einen neuen Blick auf ihre Länder zu bekommen, ein besseres Verständnis von den gravierenden Ungleichheiten entwickeln, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen. Costa Rica und Kanada zum Beispiel haben keinen Hehl daraus gemacht, wie schwer es einzelne gesellschaftliche Gruppen haben. Aber wir wissen auch, dass viele Länder im Allgemeinen noch nicht mal die Statistiken aufbewahren wollen, ganz zu Schweigen davon anzuerkennen, dass es gegenderte, ethnische oder andere gruppenspezifische Ungleichheiten gibt.

In der Studie wird deutlich, dass soziale Ungleichheit nicht nur auf nationalstaatlicher Ebene bekämpft werden muss, sondern dass es auch überregionale Probleme gibt, die ein Land allein gar nicht bewältigen kann.

Ja, die Studie schaut sehr genau darauf, was sich auf nationaler Ebene ändern muss, wo sich eine Reihe von Hindernissen ausmachen lassen. Das offensichtlichste und dringlichste davon ist derzeit sicher der Zugang zu Impfstoff. Das geht Hand in Hand damit, dass hoch verschuldete Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen mehr Zinsen auf Kredite zahlen als reiche Länder. Covid hat dort wirtschaftlich so noch einmal ganz andere Auswirkungen.

Unterm Strich bezahlen diese Länder mehr für Impfstoff als andere und das ist eine riesige Ungerechtigkeit. Und diese Botschaft haben die befragten Länder in der Studie, die keine reichen Länder sind, sehr klar rübergebracht: Die internationale Gemeinschaft müsste den Fokus darauf setzen, dass die Verteilung von Impfstoffen auf sehr viel gerechtere Weise stattfindet. Und das müsste mit Maßnahmen gegen die Überschuldung einhergehen, weil sonst Länder im Gesundheitswesen, bei der Bildung und anderen staatlichen Leistungen einsparen müssten - und das just in einem Moment, wo die Bevölkerung dafür ist, in diesen Bereichen nach Covid deutlich mehr zu tun.

Lassen sich denn allgemeine Schlüsse darüber ziehen, welchen Einfluss die in den 1980er Jahren in Lateinamerika begonnene Privatisierungswelle öffentlicher Güter und der Abbau staatlicher Leistungen auf die heutige Widerstandsfähigkeit von Ländern während der Covid-Pandemie haben?

Es gibt meiner Meinung nach klare Anzeichen dafür, dass Länder, die auf umfassende staatliche Leistungen gesetzt haben, die Privatisierungen rückgängig gemacht und die damit einhergehende Korruption und Reichtumskonzentration bekämpft haben, in Sachen Ungleichheit deutlich besser abschneiden. Das sind wichtige Maßnahmen, sowohl was die staatliche Versorgung angeht als auch die Verteilung gesellschaftlichen Reichtums. Die Menschen müssen spüren, dass ihre kollektiven Ressourcen, sei das nun Wasser oder Bodenschätze, tatsächlich als gemeinsames Eigentum genutzt werden.

Also sich als Teil einer Gesellschaft zu verstehen und nicht nur eigene Interessen verfolgen. Die Kritik an der starken Reichtumskonzentration ist doch auch ein roter Faden eurer Arbeit?

Klar, Covid hat auch dafür gesorgt, dass die Milliardär*innen ihre Vermögen um 45 Prozemt steigern konnten. Und nicht nur sie, die Reichen in allen Ländern der Erde haben ihre Einkommen enorm gesteigert, während das in niedrigeren Einkommensgruppen nicht der Fall ist. Da sind oft sogar Einbußen zu verzeichnen. Wir reden hier von Menschen im Niedriglohnsektor, die in vorderster Reihe gegen Covid kämpfen. Das ist eine schreiende Ungerechtigkeit. Deshalb sind zurecht viele wütend und es gibt weltweit immer mehr Zuspruch dafür, die Reichen höher zu besteuern.

Das geschieht bloß nicht...

Die Regierungen können schon viel tun und einige haben bereits reagiert. Uruguay ist ein interessanter Fall. Dort wurde während der Pandemie eine Solidaritätssteuer eingeführt, um die erhöhten Ausgaben zu schultern. Genau in solchen Momenten sollte so was passieren, wenn von Solidarität geredet wird, wenn es eine nationale Krise gibt und die Leute für so was Verständnis haben. Und auch in unserer Studie geht es darum zu schauen, wie eine Mehrheit der Menschen dafür gewonnen werden kann, um Maßnahmen wie Solidaritäts- oder Reichensteuern politisch umsetzbar zu machen. Derzeit ist ja fast selbsterklärend, warum Reiche mehr Steuern zahlen sollten. Ihr Wert für die Gesellschaft ist einfach nicht so hoch wie der Gewinn, den sie einstreichen. Denn wer hat uns denn in den letzten Monaten weiter die Post gebracht, an der Supermarktkasse gesessen oder im Gesundheitswesen gearbeitet? Es waren nicht die Milliardär*innen, die für uns unentbehrlich waren.

In der Studie werft ihr auch einen Blick auf positive Veränderungen, die es trotz allem gibt: bei Sozialversicherungen, Hilfsprogrammen, der Einführung von Mindestlöhnen, der Korruptionsbekämpfung. Da scheint Covid-19 manchmal sogar ein Türöffner zu sein. Nur bei einem zentralen Thema seht ihr keine Fortschritte: der Produktion und Verteilung von Impfstoffen.

Die Idee globaler Gemeingüter im Gesundheitsbereich ist gerade besonders relevant. Wir brauchen ja nur zu schauen, wie die Unternehmen westlicher Staaten die Patente für Medikamente horten. Wir müssen da andere Wege finden, wie bei der Aidspandemie, aber schneller. Denn damals sind viele gestorben. Es ist notwendig, medizinische Formeln kopieren und überall auf der Welt herstellen zu können.

Dafür gäbe es derzeit auch eine Mehrheit: "Die Menschen rund um den Globus fordern neue Formen von Gesellschaftsverträgen, um die geteilte Welt zu heilen." Zugleich warnt ihr davor, dass die Covid-Pandemie bestehende Ungleichheiten noch verstärken und damit nationalistische und populistische Ideen befeuern kann...

Deshalb sollten wir jetzt Druck für bleibende Veränderungen machen. Es geht doch nicht nur um den Covid-Impfstoff, sondern auch darum, wie die Herstellung von Medikamenten finanziert wird, all die öffentlichen Forschungsmittel, die in Pharmakonzerne gepumpt werden. Und wie werden die Ergebnisse dann geteilt? Ähnliches gilt für Klimatechnologien, Solarenergie, Dinge die uns überall auf der Welt nützlich sind. Am Ende kommt es auch den Menschen des Westens zugute, wenn Menschen anderswo bei Covid oder im Krankheitsfall eine gute Behandlung erfahren. Das Klima geht alle an. Nur wenn alle gesund sind, kann es auch der oder die Einzelne sein.

Wie können Gesellschaften konkret an einem neuen Verständnis eines gerechten und solidarischen Zusammenlebens arbeiten?

Es gibt überall eine Reihe von Dingen, die getan werden können, um die Solidarität in einer Gesellschaft zu stärken und zugleich bestehende Vorurteile abzubauen. Das können Instrumente sein, um den gesellschaftlichen Dialog anzuleiten, die sonst oft nach Konflikten eingesetzt werden, z.B. von Versöhnungskommissionen. Oder landesweite Bürgerversammlungen, wie sie zum Beispiel in Irland zum Einsatz gekommen sind. Auch ein offener Dialog mit den Entscheidungsträgern ist sinnvoll, um gemeinsam zu beraten, wie man durch Covid kommt und wie es danach weitergehen soll, so wie es bspw. in Costa Rica geschieht. [...] Und schließlich müssen wir auch die Geschichte unserer Länder anders erzählen. Die Lehrpläne der Schulen sollten den Kindern vermitteln, wie wichtig die Geschichte der Migration und des Kolonialismus sind. Es lässt sich schon einiges gegen Polarisierungen, Hate Speech und Lügen in Sozialen Medien machen. Es gibt eine Reihe von Problemen, die sich bearbeiten lassen, wenn es nur den politischen Willen gibt, etwas zu tun.

Anmerkungen:
[1] https://www.sdg16.plus/delivering-equality-and-inclusion
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Faiza_Shaheen

Audiobeitrag von Radio onda:
https://www.npla.de/thema/arbeit-gesundheit/wie-ungleich-wird-die-neue-normalitaet/


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/arbeit-gesundheit/auf-in-eine-neue-ungleiche-normalitaet/


Der Text ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

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Quelle:
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Telefon: 030/789 913 61
E-Mail: poonal@npla.de
Internet: http://www.npla.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 12. Februar 2022

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