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REPRESSION/1687: US-Gefängnisse - eine Zeitbombe ... (SB)



Jetzt ist es an der Zeit, die Gefängnisse zu leeren. Mit mehr als zwei Millionen Menschen eingesperrt, die große Mehrzahl davon für nicht gewalttätige Straftaten, zusammengepackt wie Sardinen, bietet die Überbelegung perfekte Voraussetzungen für die massenhafte Ansteckung der Insassen und die Verbreitung der COVID-19-Seuche unter ihnen. Nicht gewalttätige, für Drogenvergehen verurteilte Gefangene, Menschen, die keine Kaution aufbringen konnten, die älteren und kranken - alle sollten befreit werden, bevor sie infiziert werden, die Seuche verbreiten und sterben.
Eve Otterberg - Prisons are a COVID-19 Petri Dish [1]

Life without parole - die dunkle Seite des Kampfes gegen die Todesstrafe in den USA besteht in der Umwandlung dieser Urteile in lebenslängliche Haftstrafe ohne Möglichkeit der Begnadigung oder andere Formen von Langzeitstrafen, die fast aufs Gleiche hinauslaufen. Diese Art von Ersatzstrafe wird in einer wachsenden Anzahl von US-Bundesstaaten verhängt und konfrontiert die Betroffenen damit, das Gefängnis voraussichtlich in einem Sarg verlassen zu müssen. Wer im Alter von 20 Jahren wegen Mordes verurteilt wurde, kann auf diese Weise Zeitstrafen von 50 Jahren und mehr absitzen, ohne Aussicht darauf, wenigstens für einige Jahre noch einmal außerhalb des Strafvollzuges zu leben. Obwohl die Zahl sogenannter Kapitalvergehen seit 25 Jahren in den USA rückläufig ist, nimmt die Zahl von Langzeitgefangenen immer mehr zu.

Das hat im Fall von New York dazu geführt, daß von 91.000 Strafgefangenen des Staates insgesamt über 10.000 mehr als 50 Jahre alt sind. Die Zahl der älteren Insassen ab 50 Jahre aufwärts hat sich zwischen 2000 und 2013 verdoppelt. Die davon Betroffenen gehören weit überproportional den Gruppen schwarzer und hispanischer Insassen an, was für alle Ebenen und Institutionen des US-Strafvollzuges gilt. Er ist von grundauf rassistisch, nicht nur, weil er die auf starker Benachteiligung nichtweißer Minderheiten fußende Sozialstruktur der US-Gesellschaft abbildet, sondern weil Strafrecht und Strafprozeß nichtweiße Angeklagte benachteiligen. Für alle Altersgruppen gilt zudem, daß nichtweiße Insassen die schlechtesten Chancen darauf haben, für eine vorzeitige Entlassung in Frage zu kommen.

So werden die in diesen Gruppen besonders häufigen Drogenvergehen, auch wenn keine Gewalt im Spiel ist, als permanente Bedrohung der Gesellschaft betrachtet, was dazu führt, daß sich unbefristete Haftstrafen länger und länger hinziehen können. Bei der Anhörung vor der Begnadigungskommission wird die Dauer der bereits verbüßten Strafe nicht in Rechnung gestellt, sondern stets auf den strafrechtlichen Anlaß geschaut, auch wenn dieser schon ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Zudem sind die Parole Boards dem Druck politischer Partikularinteressen ausgesetzt, weil ihre Mitglieder vom Gouverneur ernannt und vom Senat bestätigt werden müssen.

Da ältere Gefangene zu der Gruppe mit dem höchsten Risiko gehören, an COVID-19 zu erkranken und zu sterben, setzen sich Initiativen wie Release Aging People in Prison (RAPP) für die schnelle Entlassung so vieler Insassen wie möglich aus humanitären Gründen ein. Das gilt insbesondere für ältere Gefangenen - sie weisen die geringste Rückfallrate auf und befinden sich häufig schon seit Jahrzehnten hinter Gittern. RAPP-Mitbegründerin Laura Whitehorn [2] und die beiden anderen GründerInnen, die ehemalige Weather Underground-Aktivistin Kathy Boudin und der verstorbene Mujahid Farid, saßen ihre langjährigen Haftstrafen während des Beginns der AIDS-Epidemie ab. Sie haben miterlebt, wie zahlreiche Gefangene unter schlechten hygienischen Bedingungen ohne angemessene medizinische Versorgung in der Enge der Haftanstalten mit dem neuen Erreger angesteckt wurden und verstarben.

Sie wissen, was es bedeutet, wenn eine potentiell tödlich Infektionskrankheit in die Knäste eindringt. Für die Gefangenenbevölkerung gibt es praktisch keine Ausweichmöglichkeiten, so daß ansteckende Krankheiten unter den schlechten hygienischen Bedingungen der häufig überbelegten Haftanstalten mit großer Geschwindigkeit um sich greifen. Daher wendet sich RAPP zur Zeit mit allen Mitteln an PolitikerInnen und die Öffentlichkeit, um eine möglichst weitreichende Entlassung nicht nur, aber besonders älterer Gefangener zu erreichen [3].

Bisher hat New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo nicht mehr als die Entlassung von 1.100 Gefangenen in Aussicht gestellt, die wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen inhaftiert sind. Einige hundert Insassen wurden entlassen, von einer umfassenden Amnestie kann jedoch keine Rede sein. Genau das verlangen RAPP und andere Gefangeneninitiativen und Bürgerrechtsorganisationen, insbesondere wenn die Gefangenen fortgeschrittenen Alters, aufgrund einer Vorerkrankung durch COVID-19 besonders gefährdet oder schwanger sind. Zudem fordern sie die Einstellung des Systems der Zwangsarbeit in den Gefängnissen des Staates und eine normale Entlohnung für diejenigen, die freiwillig arbeiten wollen, anstatt sie mit 10 Cent die Stunde abzuspeisen. Zudem soll Cuomo sich gegen den Rollback stellen, der in der Rücknahme bereits erreichter Strafrechtsreformen besteht, und die Zahl der Insassen niedrig halten, was in Zeiten der Pandemie schon aus medizinischen Gründen absolutes Gebot ist.

Carol Shapiro, eine jüdische New Yorkerin und ehemaliges Mitglied einer Begnadigungskommission, äußerte in einem Online-Forum, das RAPP am 25. März abhielt, die Befürchtung, daß die Gefängnisse drauf und dran sind, sich zu "Todeslagern" zu entwickeln. Sie forderte, die von COVID-19 bedrohten Gefangenen "sofort und unter sehr geringen Voraussetzungen entlassen. Wir sollten nicht einmal über ihren Strafrechtsverstoß nachdenken. Laßt uns ehrlich sein, die Mehrheit der Menschen in unseren Gefängnissen müßten nicht dort sein. Wir müssen sowieso ein anderes Gespräch über dieses Problem führen!" [4] Wie andere AktivistInnen für eine grundlegende Reform des Strafvollzugssystems in den USA ist für Shapiro mit der akuten Bedrohung durch COVID-19 die Stunde gekommen, einen großen Schritt in der Sache nach vorne zu tun.

Hinter Gittern ist Social Distancing unmöglich, erklärt die Prison Policy Initiative [5] anhand des Beispiels von Kreuzfahrtschiffen und Pflegeheimen, wo COVID-19 besonders rasant um sich greift. Es gibt allerdings eine Form der Isolation im US-Strafvollzug, die auf Folter hinausläuft - Solitary Confinement [6]. Manche Gefangenen müssen die vollständige Isolation in absoluter Einzelhaft jahrzehntelang aushalten, nicht wenige werden dabei verrückt oder sterben. Rund 50.000 Menschen werden in den USA über mehr oder weniger lange Zeit auf diese Weise gefoltert, und es sollte nicht erstaunen, daß angesichts der Coronapandemie Vorschläge laut werden, doch noch mehr Gefangene in Einzelhaft zu stecken. Auch wenn es nicht genug dafür vorgesehene Zellenkomplexe gibt, könnte die Idee, als vermeintlicher Schutz vor Ansteckung bei lebendigem Leib in einem Betonsarg vergraben zu werden, nicht zynischer sein.

Mit über 100.000 Infizierten ist der Bundesstaat New York das Epizentrum der Coronapandemie in den Vereinigten Staaten, die am 3. April mit 245.500 als infiziert gemeldeten Fällen wiederum die Liste der von COVID-19 betroffenen Staaten anführen. Zugleich leistet sich die am meisten von der krassen sozialen Ungleichheit im Land profitierende EigentümerInnenklasse eine Gefangenenbevölkerung von rund 2,3 Millionen Menschen plus 39.000 inhaftierte MigrantInnen, darunter 4.000 unbegleitete Kinder ab dem Alter von 6 Jahren. Das US-Knastsystem ist eine besonders wirksame Form harscher Klassenherrschaft, entzieht es doch insgesamt rund 8,5 Millionen Menschen, die entweder inhaftiert sind oder denen als ehemalige Strafgefangene Bürgerrechte entzogen werden, fast jede Form demokratischer Teilhabe.

Aufgrund der Versäumnisse der Trump-Regierung stehen die USA erst am Beginn der epidemischen Durchdringung der Bevölkerung mit COVID-19. Noch besteht die Möglichkeit, die Knäste auf einigermaßen geordnete Weise zu leeren. Auf dem Höhepunkt der Pandemie dürften die Verhältnisse so katastrophal und chaotisch sein, daß die Gefangenen Gefahr laufen, hinter Gittern vergessen zu werden, was wiederum jede nur erdenkliche Form von Widerstand mobilisierte.


Fußnoten:

[1] https://www.counterpunch.org/2020/04/02/prisons-are-a-covid-19-petri-dish/

[2] https://www.counterpunch.org/2020/03/23/fighting-the-cuomo-virus-to-free-imprisoned-elders/

[3] http://rappcampaign.com

[4] https://www.counterpunch.org/2020/04/01/death-camps-in-the-making-new-yorks-prisons-during-a-time-of-pandemic/

[5] https://www.prisonpolicy.org/blog/2020/04/03/density/

[6] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1512.html

3. April 2020


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