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REPRESSION/1667: Flucht - mitgefangen, mitgehangen ... (SB)



Was wir hier erleben, ist nicht nur eine humanitäre, sondern auch eine politische Krise. Solche Zustände dürfte es in Europa eigentlich nicht geben.
Ihab Abassi (Koordinator der "Ärzte ohne Grenzen" in Moria) [1]

Menschen, die vor Krieg, Zerstörung und Elend aus ihren Heimatländern geflohen sind und die griechischen Inseln in der Ägäis erreichen, sitzen dort in der Falle. Sie werden daran gehindert, auf das Festland überzusetzen und müssen sich einem Asylverfahren unterziehen, das jahrelang dauern kann. Die Lage auf Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos wird als humanitäre Katastrophe beschrieben, da dort inzwischen mehr als 42.000 Menschen in Registrierlagern ausharren müssen, die nur auf 9000 Personen ausgelegt sind. Der weit überwiegende Teil der Flüchtlinge ist gezwungen, in notdürftigen, selbstgebauten Hütten oder unter Plastikplanen, ohne Strom und fließendes Wasser zu hausen. Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal, bei Regen steht alles unter Wasser und im Winter spitzen sich die menschenfeindlichen Verhältnisse lebensbedrohend zu.

Moria auf der Insel Lesbos, das größte und berüchtigtste Aufnahmelager auf den griechischen Inseln, wird von Bewohnern als "Hölle" und von Besuchern als "Schande Europas" bezeichnet. Fast dreimal so viele Menschen wie in den Containern des offiziellen Lagers leben in den umliegenden Feldern und Olivenhainen in Campingzelten und zusammengezimmerten Verschlägen. Wenn es regnet, verwandeln sich die schmalen Trampelpfade zwischen den Behausungen in Schlammwüsten, Kinder spielen im Abfall, der sich überall türmt. Im Camp gibt es zwar drei kostenlose Mahlzeiten am Tag, für die man aber zwei oder drei Stunden anstehen muß, und wenn man schließlich an die Reihe kommt, ist das Essen längst kalt. Nach den Worten eines Koordinators der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" in Moria dürfte es solche Zustände in Europa eigentlich nicht geben: "160 Menschen teilen sich hier eine Toilette, 240 Bewohner kommen auf eine Dusche, 460 auf jeden Wasserhahn." Vierzig Prozent der Lagerbewohner seien jünger als 18 Jahre.

Nach Einbruch der Dunkelheit trauen sich die meisten Menschen nicht mehr aus ihrer Behausung, da nachts Banden Drogenhandel und Prostitution betreiben. Die verheerenden Bedingungen in den Lagern führen zu Überlebenskämpfen, Gewalttaten und sexuelle Übergriffe gegen Frauen und Kinder sind an der Tagesordnung. In Moria werden jeden Monat mehrere Menschen getötet und Dutzende verletzt. Die medizinische Versorgung ist desolat, da es im Lager selbst nur drei Ärzte des staatlichen Gesundheitsdienstes gibt, die völlig überfordert sind. Am Südrand des Lagers haben die "Ärzte ohne Grenzen" eine Feldklinik aufgebaut, in der vor allem Kinder behandelt werden. Fast alle sind traumatisiert von der Flucht, aber auch durch die Zustände im Lager, die meisten leiden wegen der katastrophalen hygienischen Zustände an Hauterkrankungen, Durchfall und Infektionen, viele sind depressiv und so verzweifelt, daß sie versuchen, sich das Leben zu nehmen.

Die Situation in Moria sei vergleichbar mit jener in Kriegsgebieten oder nach Naturkatastrophen, so die "Ärzte ohne Grenzen". Daß solche empörenden Bedingungen in Europa anzutreffen sind, sei nicht Folge eines Desasters, sondern das Ergebnis gezielter politischer Entscheidungen. Dabei ist nicht nur Moria heillos überbelegt. Im Lager Vathy auf Samos gibt es 648 Plätze, doch sind dort über 7500 Menschen eingepfercht - mehr als die angrenzende Inselhauptstadt Einwohner hat. Die Camps auf den Inseln Chios und Kos sind fünffach überbelegt, das auf Kos hat dreimal mehr Bewohner als vorgesehen. Man muß davon ausgehen, daß diese humanitäre Katastrophe letztendlich als Mittel der Abschreckung beabsichtigt ist und die verheerenden Verhältnisse in den Lagern Flüchtlinge davon abhalten sollen, übers Meer nach Griechenland zu kommen.

Angefangen von den Behördenvertretern in den Registrierlagern über die griechische Regierung bis hin zur EU finden sich auf allen Ebenen Hinweise, daß die offiziellen Sprachregelungen, Erklärungen, Ankündigungen und Zusagen vor allem verschleiern sollen, daß die grausamen Verhältnisse vor Ort ganz andere sind. Beispielsweise legt die gängige Diskussion über eine rasche Versorgung Minderjähriger nahe, daß zumindest dieser Aspekt des Problems zügig in den Griff genommen wird. Inzwischen mehren sich jedoch Hinweise, daß Minderjährige bei der Registrierung nicht selten entgegen ihren eigenen Angaben als älter eingestuft werden, wodurch man ihnen den Schutz einer sicheren Unterkunft gezielt vorenthält. Auf diese Weise werden sie allen erdenklichen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen ausgeliefert.

So gaben mehrere Betroffene auf Samos an, ihr Alter sei trotz korrekter eigener Angaben falsch dokumentiert worden. Zuständig für die Registrierung ist die griechische Polizei, die dabei von der EU-Grenzschutzbehörde Frontex unterstützt wird. Laut Frontex sollen die Daten so eingetragen werden, wie vom Asylbewerber angegeben. Bestehen Zweifel am angegebenen Alter, müßten die griechischen Behörden eigentlich ein mehrstufiges medizinisches Verfahren zur Altersüberprüfung einleiten. Vertreter der Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" bestätigen nach Recherchen vor Ort die Vorwürfe. Sie hätten etliche Minderjährige angetroffen, die teilweise 16 Jahre alt waren, aber als bis zu 26jährige registriert wurden. Es schien keine ernsthaften Anstrengungen zu geben herauszufinden, ob jemand minderjährig ist oder nicht. Es wurde einfach willkürlich ein Alter aufgeschrieben. Auch die NGO "Anwälte ohne Grenzen" betreut Minderjährige, die trotz Vorlage von Dokumenten als Erwachsene registriert wurden. Diese Vorwürfe bestätigt die griechische Wohlfahrtsorganisation "Metadrasi", die unbegleitete Minderjährige vor Ort als gesetzlicher Vormund vertritt. Oftmals werde bei falschen Eintragungen die Unterschrift der Betroffenen unter Androhung von Gewalt erzwungen.

Frontex teilte zu den Vorwürfen schriftlich mit, man sei über solche Fälle nicht informiert. Man müsse aber eine hohe Zahl an Personen bearbeiten, es könnten unbeabsichtigte Fehler auftreten. Diese würden aber von den griechischen Behörden korrigiert. Der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis erklärte dazu: "Wir werden in den kommenden Wochen klare Standards einführen für medizinische Untersuchungen, um genau festzustellen, wer minderjährig ist und wer nicht." [2] Hört sich so eine glaubhafte Stellungnahme an?

Seit dem 1. Januar gilt in Griechenland ein neues Asylgesetz, das Verfahren, die sich früher über Jahre hinzogen, angeblich auf wenige Monate verkürzen soll. Abgelehnte Asylbewerber sollen zügig in die Türkei zurückgeschickt werden, wie es der Flüchtlingspakt vorsieht. Bis zur Entscheidung über den Asylantrag oder die Abschiebung sollen die Migranten künftig in geschlossenen Lagern auf den Inseln untergebracht werden, die bestehenden Elendscamps verspricht die Regierung zu schließen. Unter all diesen Ansagen, die konservative Regierung werde in Angriff nehmen, was seit Jahren versäumt worden ist, dürften die geplanten großen Lager noch das konkreteste Vorhaben sein.

Der konservative Premier Kyriakos Mitsotakis hatte nach seinem Amtsantritt im Juli 2019 ein neues Migrationsministerium geschaffen und einen Masterplan vorgelegt. Gegen die darin vorgesehene Errichtung neuer Lager laufen die Inselbewohner Sturm, die zu Recht befürchten, daß dadurch dauerhaft Flüchtlingsinseln etabliert würden. Die Geduld der insgesamt 210.000 Bewohner auf den fünf Inseln ist restlos erschöpft, zumal mit dem ausbleibenden Tourismus die Haupteinnahmequelle eingebrochen ist. Es werden Kundgebungen und Demonstrationen abgehalten, Streiks legen das öffentliche Leben lahm, Kommunalpolitiker wehren sich. Gegen den heftigen Widerstand der aufgebrachten Menschen geht die Polizei mit Pfefferspray und Tränengas vor. Am Hafen von Lesbos kam es nachts zu heftigen Auseinandersetzungen, als Einwohner die Landung von Baumaschinen und Polizeikräften zu verhindern versuchten. Auch auf der Nachbarinsel Chios ging die Polizei massiv vor, um die Proteste aufzulösen. Auf Samos kündigte Bürgermeister Giorgos Stantzos an, man werde den Bau neuer Lager mit allen legalen Mitteln verhindern.

Der Protest richtete sich zumindest anfänglich weniger gegen die Flüchtlinge, als vielmehr die Politik der griechischen Regierung. Diese wird aufgefordert, die täglich aus der Türkei übersetzenden Flüchtlinge nach ihrer Registrierung umgehend weiter auf das Festland zu bringen. Die Menschen wollen ihre Inseln und ihr Leben zurück, wie es auf Kundgebungen heißt. Ungeachtet des Aufbegehrens setzt Migrations-Vizeminister Georgios Koumoutsakos darauf, daß die neuen Lager bis zum Sommer fertig werden. Bis dahin versucht die Regierung, die Inselcamps zu entlasten, indem sie einige Asylbewerber aufs Festland bringt, doch wird deren Zahl durch ständige Neuankömmlinge wettgemacht. Die Unnachgiebigkeit einer Regierung, der als zentraler Ansatz vorschwebt, Flüchtlinge auf den Inseln in geschlossenen Lagern einzusperren, trifft auf die Unnachgiebigkeit der dauerhaft dort lebenden Menschen, die das nicht dulden wollen.

Kritik der Inselbewohner richtet sich auch gegen die EU, deren Mitglieder sich seit langem nicht auf eine Verteilungsquote für Flüchtlinge einigen können und auf Abschottung setzen, die von der Türkei und Griechenland gegen hohe Geldzahlungen geleistet werden soll. Dieser Pakt nötigt die griechische Regierung, geflohene Menschen vom Festland fernzuhalten, keinesfalls aber weiter in Richtung Mitteleuropa ziehen zu lassen. Die EU-Kommission drängt Griechenland seit Jahren, Asylverfahren zu beschleunigen, und sagt dann und wann personelle und materielle Unterstützung zu. Letzten Endes wird jedoch auf EU-Ebene systematisch gebremst und verschleppt, so daß die europäische Migrationspolitik frühestens Fahrt aufnehmen könnte, wenn die EU-Kommission im Frühjahr ihre Vorschläge für die seit langem blockierte Asylreform vorgelegt hat.

Pro Asyl, Flüchtlingsräte und einige andere Initiativen hatten im vergangenen Jahr unter dem Motto "Wir haben Platz" zumindest die Aufnahme geflüchteter Minderjähriger aus Griechenland gefordert, was jedoch bei Bundesinnenminister Horst Seehofer auf keine Gegenliebe stieß. Wie mit diesem Problem angemessen umzugehen sei, legten die Unions-Politiker Mathias Middelberg und Marian Wendt kürzlich dar: "Die Situation auf den Inseln ist schlimm. Es kann aber keine Lösung sein, jetzt - wie von einigen Politikern vorgeschlagen - Tausende von Migranten nach Deutschland zu holen." (...) "Zügige und umfassende Hilfe vor Ort ist der beste Weg, die Lebenssituation der Geflüchteten schnell und wirksam zu verbessern." Durch einen deutschen Alleingang zur unmittelbaren Aufnahme von Asylbewerbern von den Inseln würden dagegen falsche Anreize gesetzt, die mehr Menschen dazu bringen könnten, von der Türkei überzusetzen. [2] Verschanzt hinter physischen und verbalen Wällen hält die ökonomische und militärische Kriegsführung der europäischen Mächte die vor ihr fliehenden Menschen gewaltsam fern.


Fußnoten:

[1] www.handelsblatt.com/politik/international/migration-wie-griechenland-mit-sich-zuspitzender-fluechtlingsnot-kaempft-alle-wollen-nach-deutschland/25580822.html

[2] www.sueddeutsche.de/politik/migration-fluechtlinge-griechenland-fuehlt-sich-im-stich-gelassen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200216-99-933311

26. Februar 2020


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