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REPRESSION/1629: Frankreich - zu viele Gelbwesten schwer verletzt ... (SB)



Das sind Kriegsverletzungen, die wir heute erleiden. Ich bin sicher, dass ich Opfer einer doppelten Attacke geworden bin. Zunächst mit einer Tränengasgranate, danach mit einem Schuss aus einem Hartgummi-Gewehr vom Typ LBD40.
Jêrome Rodrigues von den Pariser Gelbwesten [1]

Zum zwölften Mal in Folge haben in Paris und anderen französischen Städten Zehntausende Gelbwesten demonstriert. Der Protest richtete sich an diesem Wochenende insbesondere gegen das brutale Vorgehen der Polizei, da seit Beginn der Protestbewegung im November zahlreiche Demonstrierende zum Teil schwer verletzt worden sind. Während nach offiziellen Angaben von 1700 Verletzten auf seiten der Protestierenden die Rede ist, sprechen andere Quellen von mehr als 1900. [2] Unter den mindestens zehn Menschen, die im Zuge der Proteste ihr Leben verloren haben sollen, befindet sich eine 80jährige Rentnerin, die im Fenster ihrer Wohnung von einer Tränengasgranate getroffen wurde. [3]

Nach Zählung eines Marktforschungsinstituts beteiligten sich am Samstag allein in Paris 13.800 Menschen an einem "großen Marsch für die Verletzten", der vor allem Gummigeschosse und Schockgranaten anprangerte, die bei den Demonstrationen der vergangenen Wochen von der Polizei massenhaft eingesetzt worden sind. Besonders durch die in den meisten europäischen Ländern kaum verwendeten Gummigeschosse wurden viele Menschen bei den Demonstrationen wie auch vermeintlich Unbeteiligte teilweise schwer verletzt: Zersplitterte Kiefer, abgerissene Hände oder Erblindungen waren keine Einzelfälle. Laut einem Bericht der Zeitung "Liberation" sind bereits vierzehn Menschen aufgrund eines solchen Beschusses auf einem Auge erblindet. Kaum minder gefährlich sind explosive Tränengasträger wie die Granate GLI-F4, die in anderen Ländern Europas längst aus dem Waffenarsenal der Polizei verbannt wurden, aber in Frankreich weiterhin eingesetzt werden.

So verlor am 1. Dezember der 52 Jahre alte Techniker Ayhan P., der in Tours einem friedlichen Demonstrationszug gefolgt war, durch eine dieser mit dem Sprengstoff TNT bestückten Granaten seine rechte Hand. Jêrome Rodrigues, einer der Wortführer der Pariser Gelbwesten, wurde vor einer Woche aus nächster Nähe von einem Gummigeschoß der Polizei am rechten Auge getroffen und mußte ins Krankenhaus gebracht werden. Ob er seine volle Sehkraft behalten wird, ist nicht abzusehen. [4]

Rodrigues wollte am vorletzten Wochenende dokumentieren, daß von den Gelbwesten keine Gewalt ausgeht. Zu diesem Zweck hatte er sich bei der Demonstration eine Körperkamera umgebunden. Als er damit auf dem Bastille-Platz in Paris ankam, war die Lage bereits angespannt. Tränengasschwaden zogen umher, gepanzerte Polizisten waren im Einsatz. Dann ertönte ein Knall, und Rodriguez lag verletzt am Boden. Wie er später in einer Videobotschaft berichtete, mußte er vier Stunden lang operiert werden. Der Augapfel sei von vorne nach hinten gerissen worden und mußte genäht werden. "Heute kann ich nicht sicher sein, dass ich auf dem Auge je wieder sehen kann. Das sind Kriegsverletzungen, die wir heute erleiden. Ich bin sicher, dass ich Opfer einer doppelten Attacke geworden bin. Zunächst mit einer Tränengasgranate, danach mit einem Schuss aus einem Hartgummi-Gewehr vom Typ LBD40."

"Sie haben sich als extrem brutal und heftig erwiesen, dazu angetan, Menschen zu verstümmeln. Die LBD40 müssen verboten werden. Sie sind trotz aller Einschränkungen bei der Benutzung extrem gefährlich", forderte Sophie Maza, Anwältin bei der Liga für Menschenrechte. Dem hält Stanislas Goudon, Chef der Gewerkschaft Polizeiallianz, entgegen, daß seine Polizeikollegen bei Demonstrationen massiv bedroht und attackiert würden: "Wir erleben Szenen extremer Gewalt. Polizisten werden zur Zielscheibe, sie werden angegriffen. Das zwingt uns ja erst dazu, zu antworten."

Die Menschenrechtsbeauftragte des Europarates, Dunja Mijatovic, hatte sich Anfang letzter Woche besorgt über die Zahl und Schwere der Verletzungen als Folge staatlicher Gewalt geäußert. Frankreichs Innenminister Christophe Castaner verteidigte hingegen den Einsatz von Gummigeschossen als notwendigen Schutz der Sicherheitskräfte. Dieser Auffassung schloß sich am Freitag der Pariser Staatsrat als oberstes Verwaltungsgericht an, der unter Verweis auf die Gewalt bei den Protesten einen Antrag ablehnend beschied, der Polizei den Einsatz von Gummigeschossen zu untersagen. Das Gremium wies damit eine Beschwerde der Menschenrechtsliga LDH und der Gewerkschaft CGT ab. Sie hatten die Waffen als "gefährlich" bezeichnet und ein Verbot im Eilverfahren gefordert.

Die Hoffnung der Regierung und wohl auch der Gewerkschaftsführungen, daß die Rücknahme der geplanten Erhöhung der Kraftstoffsteuer, die Bilder heftiger Auseinandersetzungen in den Medien und die Feierlichkeiten zum Jahresende zum Aussterben dieser Bewegung führen würden, hat sich nicht erfüllt. Die Gelbwesten sind nach wie vor massenhaft auf der Straße präsent und haben unterdessen die Liste ihrer Forderungen ausgebaut. Sie verlangen nicht nur den Rücktritt von Präsident Emmanuel Macron, sondern auch die Erhöhung des Mindestlohns, das Ende der Leiharbeit, Altersrenten, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die Kopplung der Löhne an die Inflation, die Begrenzung prekärer Verträge, mehr Steuern für Großunternehmen und manches mehr.

Da die Bewegung bislang über keine Führung verfügt, die staatlicherseits eingebunden werden könnte, um das Aufbegehren zu befrieden, sind Besetzungen von Bahnhöfen, Raffinerien und Fabriken nicht auszuschließen, die eine vollständige Lähmung der Wirtschaft herbeiführen könnten. Wenngleich sich die Gewerkschaftsbürokratien weigern, den Gelbwesten mit einem Generalstreik zur Seite zu stehen, wäre dessen autonom organisierte Herbeiführung denkbar. Angesichts dieses Szenarios greift Macron mehr denn je auf sein doppeltes Spiel zurück, gemäß seinem Wahlspruch gleichzeitig zu reden und zu handeln. Während er die Bevölkerung mit einer "großen Debatte" über sein Regierungsprogramm ruhig halten will, verschärft er die Repression, um die Gelbwesten noch massiver zu verfolgen.

Im Oktober 2018 wurde im Senat ein Text der rechtskonservativen Fraktion mehrheitlich gebilligt, der zur Vorlage eines Gesetzesentwurfs diente, der nun in die Nationalversammlung eingebracht worden ist. Der von Macron und seinem Ministerpräsidenten Philippe vorgelegte Entwurf ähnelt stark dem bereits geltenden "Antiterrorgesetz" und soll angeblich "friedliche Demonstrationsteilnehmer" vor gewaltbereiten "Randalierern" schützen. Das Gesetz würde den Aktionsradius der schwerbewaffneten und gepanzerten Spezialeinheit der Polizei (CRS) erweitern, die seit Jahren gegen Demonstrationen eingesetzt wird. Die Polizei könnte künftig jederzeit Leibesvisitationen durchführen, Taschen und Kleidungsstücke untersuchen und willkürlich "Verdächtige" von Demonstrationen fernhalten. Über "auffällige" Demonstrantinnen und Demonstranten könnten ohne weiteres Dateien angelegt werden.

Seit Beginn des Aufstands im November wurden bereits nahezu 5.500 Demonstrierende in Polizeigewahrsam genommen. Die linke Opposition im Parlament sieht in dem Gesetzentwurf einen Versuch, noch härter durchzugreifen und den Gelbwesten mit repressiven Mitteln den Zahn zu ziehen. In einer gemeinsamen Erklärung bewerteten Gewerkschaften, die Liga für Menschenrechte und die Gewerkschaft der Anwälte und Richter den Text als "Gefahr für die Bürgerrechte". Dies ziele auf eine Politik ab, die der Logik des Generalverdachts gegen jeden einzelnen zum Widerstand bereiten Bürger folge.

Die Wut der Gelbwesten ist das Ergebnis tiefer Widersprüche, die sich in den zurückliegenden Jahren aufgebaut haben. Seit seiner Wahl im Mai 2017 hat Macron daran gearbeitet, die Ausbeutung und Zurichtung der unteren Schichten der Gesellschaft zu verschärfen. Daß inzwischen an den Wochenenden landesweit 80.000 Polizisten aufgeboten werden, um die Gelbwesten in Schach zu halten, zeugt von der Dimension dieses Konflikts wie auch der Bereitschaft der französischen Regierung, bei der Befriedung des Protests harte Bandagen anzulegen und weitere Opfer in Kauf zu nehmen.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/demonstrationen-in-frankreich-gelbwesten-kritisieren.1773.de.html

[2] lowerclassmag.com/2018/12/gelbwesten_giletsjaunes/

[3] www.tagesschau.de/ausland/gelbwesten-171.html

[4] www.jungewelt.de/artikel/348295.gesetzt-gegen-gelbwesten-knüppel-und-granaten.html

4. Februar 2019


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