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REPRESSION/1616: Innere Sicherheit - nichts ist auszuschließen ... (SB)



Anis Amri wurde nicht vom Bundesamt für Verfassungsschutz mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwacht.
Bundesinnenministerium auf eine Anfrage der Grünen im Januar 2017 [1]

Der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin, bei dem am 19. Dezember 2016 zwölf Menschen starben, glich einer tiefen Zäsur in der Diskussion und öffentlichen Wahrnehmung der "Terrorgefahr" in der Bundesrepublik. Als sich der Eindruck schlagartig verdichtete, daß man auch in Deutschland nirgendwo mehr sicher vor islamistischen Attentätern wir Anis Amri sei, verlieh dieses Empfinden der Durchsetzung und Akzeptanz weiterer sicherheitsstaatlicher Maßnahmen einen enormen Schub. Die sich zwangsläufig aufdrängende Frage, warum dieser folgenschwere Anschlag nicht verhindert werden konnte, blieb bis heute unbeantwortet, da sich insbesondere der Verfassungsschutz in immer neue Widersprüche verstrickte. Dessen Präsident Hans-Georg Maaßen hatte den Fall Amri stets als Angelegenheit der Polizei dargestellt, und das Bundesinnenministerium erklärte im Januar 2017 auf eine Anfrage der Grünen, Amri sei vom BfV nicht mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwacht worden. Bei dieser Aussage blieb das Ministerium bis zum September 2018.

Inzwischen ist jedoch nachgewiesen, daß das Bundesamt für Verfassungsschutz den Untersuchungsausschüssen in Bund und Ländern die Existenz eines V-Mannes im Umfeld Amris verschwiegen hat. Auch der Berliner Verfassungsschutz führte eine Quelle im Umfeld des Attentäters, was den Ausschüssen bis vor kurzem ebenfalls verschwiegen wurde. Wußten die Inlandsgeheimdienste mehr über Anis Amri und seine Anschlagspläne, als sie gegenüber den Opferangehörigen und den Parlamenten zugeben? Handelte es sich um das vielfach kolportierte Behördenversagen, dessen Kritik nahtlos in den Ruf nach einer effizienteren geheimdienstlichen und polizeilichen Zusammenarbeit zu überführen war? Oder bestärken die jüngsten Erkenntnisse im Gegenteil den Verdacht, Amri sei an der Leine des Geheimdienstes geführt und instrumentalisiert worden?

Anis Amri kann darüber keine Auskunft mehr geben, da er am 23. Dezember 2016 in Mailand von zwei Polizisten erschossen wurde. Nach offizieller Version hatte er bei einer nächtlichen Ausweiskontrolle das Feuer auf die Polizeibeamten Luca Scata und Christian Morio eröffnet, deren Schüsse ihn daraufhin tödlich trafen. Die beiden Polizisten wurden in Rom und Berlin überschwenglich als Helden gefeiert, bis sich herausstellte, daß es sich um bekannte Neofaschisten handelte, die in den sozialen Netzwerken aus ihrer Gesinnung keinen Hehl machten. Eine Vernehmung Amris war jedenfalls nicht mehr möglich, so daß viele ungeklärte bis fragwürdige Details der Vorbereitung und Durchführung des Anschlags wie auch der anschließenden Flucht im Dunkeln bleiben.

Im Zusammenhang des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt hatte insbesondere der Begriff des "Gefährders" Hochkunjunktur, der seither zumindest im Kontext "terroristischer" Umtriebe kaum noch hinterfragt oder bestritten wird. Er wurde 2004 von der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamts festgelegt und auf Personen bezogen, gegen die kein konkreter Hinweis auf die Planung einer Straftat vorliegt, jedoch "bestimmte Tatsachen die Annahme der Polizeibehörden rechtfertigen, daß sie Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen" werden. Gefährder sind im juristischen Sinn nicht einmal Verdächtige, weshalb der Begriff in Konflikt mit der Unschuldsvermutung gerät, wenn Gefährder wie Verdächtige oder Straftäter behandelt werden. Der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble forderte im Juli 2007 gesetzliche Grundlagen zur restriktiven Behandlung solcher Gefährder, die wie Kombattanten nach dem Kriegsvölkerrecht behandelt und interniert werden sollten. Die Rechtsgrundlage entspreche etwa dem Unterbindungsgewahrsam, mit dem Hooligans aus dem Verkehr gezogen würden.

Wurde der Begriff des "Gefährders" damals noch kontrovers diskutiert, so scheint er inzwischen zu einer nicht länger hinterfragbaren Faktizität geronnen zu sein. Im September 2016 bezifferte Bundesinnenminister Thomas de Maizière die Zahl der in Deutschland lebenden Gefährder auf 520 Personen und ergänzte sie um rund 360 "relevante Personen" in deren Umfeld, die bereit seien, bei der Vorbereitung einer politisch motivierten Straftat von erheblicher Bedeutung logistisch zu helfen. Als dann im Dezember 2016 publik wurde, daß der Attentäter von Berlin in Nordrhein-Westfalen als Gefährder geführt und in Berlin zeitweise observiert wurde, öffnete dies dem Ruf nach verschärften Maßnahmen gegen diese Personengruppe Tür und Tor. Wer dennoch wagte, den Schutz von Grund- und Bürgerrechten vor staatlichem Übergriff in den Mund zu nehmen, lief Gefahr, der klammheimlichen Mittäterschaft bezichtigt zu werden.

Zum Auftakt des Wahljahres 2017 legte Thomas de Maizière in einem Gastbeitrag für die FAZ unter dem programmatischen Titel "Leitlinien für einen starken Staat in schwierigen Zeiten" Kurs an. Auf der Woge allgemeiner Verunsicherung reitend präsentierte er eine in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellose Zentralisierung von Sicherheitskompetenzen auf Bundesebene zu Lasten der föderalen Struktur: Stärkung des Bundeskriminalamts (BKA), Abschaffung der Landesämter für Verfassungsschutz, Ausbau einer "echten Bundespolizei". Darüber hinaus schlug er eine Abschiebung abgelehnter Asylbewerber unter der Regie des Bundes vor, wofür "Bundesausreisezentren" in der Nähe von Flughäfen errichtet werden könnten.

Anis Amri geriet wiederholt ins Visier deutscher Sicherheitsbehörden. Im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum in Berlin, wo 40 Behördenvertreter aus Polizei und Nachrichtendiensten zusammensitzen, wurde über seinen Fall gesprochen. Dennoch konnte er sich innerhalb Deutschlands frei bewegen, und im September 2016 wurde die Observation und Überwachung seiner Kommunikation offiziell eingestellt, da es nach Angaben der Berliner Generalstaatsanwaltschaft keine Anhaltspunkte für eine Anschlagsvorbereitung gegeben habe. Daß er vor dem Anschlag angeblich vom Radar der Sicherheitsdienste verschwand, legt die Frage nahe, ob der Geheimdienst, der V-Leute in seinem Umfeld plaziert hatte, eine behördliche Intervention verhinderte.

Am 13. September bestätigte die damals auch für Amri zuständige Sachbearbeiterin beim Bundesamt für Verfassungsschutz als geladene Zeugin vor dem Untersuchungsausschuß des Bundestages, daß der Tunesier mit "nachrichtendienstlichen Mitteln" überwacht worden war. Das stand in Widerspruch zu Maaßens Behauptung, das BfV habe "keine eigenen Erkenntnisse" zu Amri gehabt und "keine eigene Informationsbeschaffung" zu dem Islamisten betrieben, als Gefährder sei dieser ein reiner "Polizeifall" gewesen. Der Sonderermittler Bruno Jost hatte im Auftrag des Berliner Senats das Behördenhandeln beim Anschlag untersucht und den deutschen Nachrichtendiensten attestiert, sie hätten "sowohl im Vorfeld des Anschlags als auch bei der Aufklärung und Aufarbeitung des Verbrechens" eine "bemerkenswert bedeutungslose Rolle" gespielt. Wie sich immer deutlicher abzeichnet, war diese vermeintliche Passivität offenbar ein Deckmantel des geheimdienstlichen Umgangs mit Amri.

Nach Angaben der Zeugin war das BfV im Januar 2016 erstmals mit Anis Amri befaßt, der laut Informationen aus Nordrhein-Westfalen ein Anhänger der Terrorgruppe IS gewesen sei. Das Landeskriminalamt (LKA) hatte Amris Telefone überwacht und dabei mitbekommen, daß er mit IS-Leuten in Nordafrika in Kontakt stand, wie auch ermittelt, daß er sich im Internet nach Bombenbauplänen umschaute. Als er seinen Lebensmittelpunkt nach Berlin verlagerte, wollten die nordrhein-westfälischen Ermittler ihren Kollegen in der Hauptstadt wichtige Informationen mitteilen: Amri plane wohl einen Raubüberfall, um mit dem Geld möglicherweise einen Anschlag zu finanzieren. Die Informationen stammten von einem Spitzel mit dem Decknamen "Murat", der vom LKA in der salafistischen Szene angesetzt war. Um die Operation zu schützen, bat die Polizei den Verfassungsschutz, die Hinweise zu verschleiern und dann an das LKA Berlin zu übermitteln. Das BfV erstellte ein Behördenzeugnis, unterschrieben von Maaßen persönlich.

Dieser eigentümliche Vorgang belegt jedenfalls, daß das BfV auf dem laufenden war, zumal es wohl im Februar 2016 erstmals selbständig tätig wurde und "Beschaffungsaufträge" mit Blick auf Quellen in der islamistischen Szene erteilte. Kurz zuvor war Amri mit dem Fernbus nach Berlin gereist und bei der Ankunft kurzzeitig festgehalten worden. Dabei wurden aus seinem Handy Fotos und Kontaktdaten sichergestellt, die das LKA NRW, das LKA Berlin, das BKA und auch das BfV erhielten. Der Berliner Verfassungsschutz soll sogar noch früher tätig geworden sein, da Fallführer am 17. Februar und damit noch vor Amris Ankunft den Auftrag erhielten, ihre Quellen nach ihm zu befragen und Fotos des Tunesiers ihren Spitzeln vorzulegen, die ihn allerdings nicht kannten.

In Berlin verkehrte Amri in der kleinen Fussilet-Moschee, wo sich wenige Dutzend radikalisierte junge Männer trafen. Laut Darstellung des Bundesinnenministeriums soll eine dort eingesetzte V-Person des BfV dennoch nicht zum Umfeld des späteren Attentäters gehört haben. Die Unterlagen zum Quelleneinsatz unterliegen der Geheimhaltung. Aus Sicherheitskreisen verlautete, der Informant habe die Moschee im Sommer und Herbst 2016 nur sporadisch besucht und Amri dabei nie näher kennengelernt. Aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse wäre es für die Quelle zudem wohl schwierig geworden, ein Vertrauensverhältnis zu dem Tunesier aufzubauen. Sowohl im Frühjahr 2016 als auch im Juni 2016 ergingen allerdings an diese Quelle Beschaffungsaufträge zu Amri. Weitere Nachfragen erfolgten demnach aber nicht. Erst bei einem Gespräch nach dem Attentat gab die Quelle an, sie habe Amri öfter in der Moschee gesehen, wo er sogar als "Imam" aufgetreten sei.

Am 14. und am 26. Oktober 2016 übermittelte der marokkanische Geheimdienst Informationen zu Amri an die deutschen Behörden, wonach dieser Deutschland als ein "Land des Unglaubens" bezeichne und ein "Projekt" ausführen wolle. Zudem habe er Kontakt zu IS-Sympathisanten, darunter ein Russe und Marokkaner. Ebenfalls übermittelt wurden Fotos, die überwiegend von Facebook-Profilen stammten und Islamisten zeigten, die den hiesigen Behörden teilweise hinlänglich bekannt waren. Am 2. November 2016 und damit nur wenige Wochen vor Amris Anschlag kam erneut die Arbeitsgruppe "Operativer Informationsaustausch" im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum in Berlin zusammen. Die Runde beschloß, daß das BfV "beim marokkanischen Partnerdienst die übermittelten Erkenntnisse auf deren Aktualität" überprüft und das Ergebnis den Teilnehmern mitteilt. Wie der Berliner Sonderermittler Bruno Jost im vergangenen Jahr konstatierte, konnte trotz wiederholter Nachfragen beim BfV nicht näher geklärt werden, wann diese Überprüfung durchgeführt wurde, was das Ergebnis war und ob und wann dieses den übrigen Teilnehmern der Besprechung zur Kenntnis gelangte.

Der Verfassungsschutz hätte mit seiner Quelle in der Berliner Islamistenmoschee einen exklusiven Zugang ins Umfeld von Amri gehabt und die V-Person an ihn heranführen können. Es gibt bislang jedoch keine Hinweise darauf, daß er in dieser Zeit vom Verfassungsschutz intensiver überwacht wurde. Am aktivsten war nach offizieller Lesart zuletzt das Berliner LKA mit dem Islamisten befaßt, ab Herbst 2016 allerdings nur noch sehr lückenhaft. Wo genau sich Amri aufhielt, mit wem er in Kontakt stand, daß er wieder öfter in die Moschee ging, blieb den Fahndern verborgen. Der Gefährder galt plötzlich nicht mehr als besonders gefährlich und verschwand gewissermaßen im Nebel. [2]

Daß der Untersuchungsausschuß bei allem Bemühen und unter Ladung weiterer Zeuginnen und Zeugen eine umfängliche Aufklärung herbeiführen kann, steht nicht zu erwarten. Bundesregierung, Innenministerium und Verfassungsschutz mauern an allen entscheidenden Stellen und degradieren die parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste zu einer symbolpolitischen Inszenierung. Angesichts einer Fülle an Widersprüchen, Ungereimtheiten und nicht zuletzt gezielten Irreführungen seitens der Ministerien und des Verfassungsschutzes steht die offiziöse These eines Behördenversagens auf tönernen Füßen, gewinnt der Verdacht zusehends Kontur, Anis Amri sei auf die eine oder andere Weise eine Marionette des Inlandsgeheimdienstes gewesen.


Fußnoten:

[1] www.zdf.de/politik/frontal-21/muehsame-aufklaerung-im-fall-anis-amri-100.html

[2] www.welt.de/politik/deutschland/article181601278/Anschlag-am-Breitscheidplatz-Wie-nah-kam-der-Verfassungsschutz-Anis-Amri.html

26. September 2018


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