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REPRESSION/1610: Flucht - Wort gehalten ... (SB)



Migration sei die "Schicksalsfrage für Europa", so Bundeskanzlerin Angela Merkel jüngst in ihrer Regierungserklärung. Und entweder werde diese Frage so bewältigt, daß man "auch in Afrika und anderswo daran glaubt, daß uns Werte leiten", oder "niemand wird mehr an unser Wertesystem glauben". Welche Werte das sind, dürfte sich allerdings in Afrika längst herumgesprochen haben. Die Schätze des schwarzen Kontinents locken die Europäer mehr denn je, doch fürchten diese zugleich eine Völkerwanderung. Mit dem Ausbau des Handelsregimes und einer vorgelagerten Flüchtlingsabwehr will die EU samt ihren einflußreichsten Mitgliedsstaaten beide Fliegen mit einer Klappe schlagen: Die Menschen in Afrika sollen bleiben, wo sie sind, und weiter das tun, wozu sie seit Kolonialzeiten gezwungen werden. Daß man in Brüssel, Berlin oder Paris keine Skrupel kennt, die dem entgegenstünden, sollte kein Geheimnis sein.

Bis 2050 werde ein Viertel der Weltbevölkerung in Afrika leben, rechnet die europäische Statistikbehörde Eurostat vor. Afrika sei der "schlafende Riese der Weltwirtschaft", und den will man nicht kampflos den Chinesen und Indern überlassen, deren Handel mit afrikanischen Ländern seit Jahren an Bedeutung gewinnt. Geht es nach dem Willen der Europäischen Union und auch der Bundesregierung, sollen künftig noch mehr europäische Waren die afrikanischen Märkte überschwemmen. Dabei entwickeln sich die Handelsbeziehungen längst schon zu Ungunsten Afrikas. Während in den meisten afrikanischen Ländern die Importe aus Europa und vor allem aus Deutschland leicht steigen, gehen die afrikanischen Exporte nach Europa in den meisten Ländern in der Summe zurück.

Seit einiger Zeit verhandelt die EU mit afrikanischen Ländern über neue Handelsabkommen, genannt Economic Partnership Agreements (EPAs). Sie sehen eine fast vollständige Marktöffnung auch für europäische Waren auf den afrikanischen Märkten vor. Daß ein unbeschränkter Handel mit Europa die Wirtschaft Afrikas weiter schwächen wird, ist die Ratio und Stoßrichtung auf europäischer Seite - es sei denn, man träumt den Mythos eines fairen Handels, dessen Profite gewissermaßen dem Nirwana entspringen, da niemand dabei über den Tisch gezogen wird. Massive Exportsubventionen für europäische Güter sind die Waffe im Handelskrieg, wobei insbesondere Agrarsubventionen natürlich nicht nur in Europa gängige Praxis sind. Nach Angaben der OECD subventionieren Nordamerika, Europa, Japan und China ihre Landwirtschaften täglich mit über einer Milliarde Dollar, doch die höchsten staatlichen Subventionen kassierten Agrokonzerne und Bauern in Europa.

Deren Überschüsse landen billig auf den afrikanischen Märkten und konkurrieren die einheimischen Produzenten nieder. Dies hat dazu geführt, daß dort inzwischen 80 Prozent des Nahrungsmittelverbrauchs aus Importen stammt. Dazu steht nicht in Widerspruch, daß nach Erdöl und Erdgas landwirtschaftliche Produkte die wichtigsten afrikanischen Exportgüter nach Deutschland und Europa sind. Die Erzeugung von Rohstoffen zur Ausfuhr und die massenhafte Vernichtung bäuerlicher Existenzen sind Geschwister im neokolonialen Würgegriff. Dem sogenannten Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) fällt dazu nichts Besseres ein, als vorzuschlagen, daß die afrikanischen Regierungen ja ihre Bauern ebenfalls subventionieren könnten. Er meint das offenbar tatsächlich ernst, was darauf schließen läßt, daß er schon der richtige Mann am richtigen Platz ist, den Afrikanern die Leviten zu lesen.

Hinzu kommen nichttarifäre Handelshemmnisse, also versteckte protektionistische Maßnahmen, die nicht durch Steuern und Subventionen erzielt werden. So müssen afrikanische Exporteure die Gesundheits-, Sicherheits- und technischen Standards einhalten, die auf EU-Ebene festgelegt werden und eine hohe Hürde darstellen. Außerdem verteuern künstlich überbewertete afrikanische Währungen, die an den US-Dollar oder den Euro gekoppelt sind, afrikanische Exportprodukte auf dem Weltmarkt und verhindern Auslandsinvestitionen in Afrika. So stellen die CFA-Franc-Zonen in West- und Zentralafrika, ein Überbleibsel aus der französischen Kolonialzeit, den Versuch dar, einen Währungskolonialismus aufrechtzuerhalten. Die überbewertete Währung behindert die Industrialisierung, da die afrikanischen Unternehmen auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig werden können. [1]

Dieser permanente und tendenziell gesteigerte Handelskrieg gegen die Länder Afrikas ist ein wesentlicher Treibriemen der Migration, von dem die Bundesregierung natürlich am allerwenigsten etwas hören will, wenn sie die Bekämpfung der Fluchtursachen im Munde führt. Der Klimawandel wird schon erwähnt, und auch die Prognose, daß er die Subsaharastaaten veröden und eine beispiellose Massenwanderung verhungernder Menschen in Richtung Norden auslösen wird. Das führt jedoch in der Berliner Politik keineswegs dazu, als hochindustrialisiertes Land die maßgebliche Mitverantwortung für den Ausstoß klimawirksamer Gase zu übernehmen und beispielsweise die Kohleverstromung sofort einzustellen.

Das von der Kanzlerin in den Ring geworfene Wertesystem läßt dies und vieles mehr zu. So auch die Zusammenarbeit mit den repressivsten Regimen und ärgsten Despoten, wenn es denn der Flüchtlingsabwehr dient. Als CNN kurz vor dem EU-Afrika-Gipfel in Abidjan im November das Video von einer Sklavenversteigerung in Libyen veröffentlichte, dokumentierte dies in aller Deutlichkeit die seit langem bekannten Grausamkeiten: Die Europäer bezahlen und trainieren libysche Sklavenhalter, um Flüchtlinge von der Überfahrt fernzuhalten. Omar al-Baschir, mit doppeltem internationalen Haftbefehl gesuchter Präsident des Sudan, erhält mehr als nur diplomatische Hilfe bei der Aufhebung des Haftbefehls. Schließt er die wichtige Fluchtroute zwischen dem Horn von Afrika und dem Mittelmeer, erhält er Geld, Schuldenerlaß, Polizeitrainings und Biometrie-Hightech. Oder nehmen wir Eritrea, dessen Zwangsarbeitsdienst massenhaft Flüchtlinge produziert hat. Gerd Müller besuchte den Machthaber Isayas Afewerki in Asmara, die deutsche Entwicklungsagentur GIZ läßt eritreische Richter und Staatsanwälte in der Schlepperbekämpfung ausbilden. Oder Ägypten, dessen Militärmachthaber Abdel Fattah a-Sisi in Berlin zum Staatsbesuch empfangen wird und der deutsche Rüstungsgüter erhält, während deutsche Polizisten ihre ägyptischen Kollegen in Kairo trainieren. [2]

Angela Merkel empfing den Präsidenten des Niger, Mahamadou Issoufou, in Meseberg. Sie stellte ihm deutsche und europäische Hilfe in Aussicht, sollte er sich noch stärker an der Eindämmung der "illegalen Migration" beteiligen. Die EU bildet in Niger seit 2012 Grenzschützer und Polizisten aus. Sie hat der Regierung bis 2020 eine Milliarde Euro Entwicklungshilfe versprochen, die größtenteils in Waffen und Sicherheitstechnik fließt. Als Gegenleistung riegeln Grenzschützer die Kontrollposten in Richtung Libyen ab und besetzen die Wasserstellen auf dem Weg durch die Wüste. Das zwingt die Migranten zu weiten Umwegen, Schleuser überlassen sie häufig ihrem Schicksal, die Zahl der Toten in diesem Teil der Sahara wächst ständig an. Wie auch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bestätigt hat, sterben inzwischen mehr Menschen in der Wüste als im Mittelmeer. [3]

Da die Abriegelung der Fluchtrouten nicht ausreicht, die Menschen zurückzuhalten, hat die EU die Errichtung eines "Hotspot"-Lagersystems außerhalb Europas beschlossen. Einer der Orte, die dafür in Frage kommen, ist ein bereits bestehendes Flüchtlingslager für 40.000 Menschen an der Grenze des Sudans zu Eritrea, wie der EU-Generaldirektor für Internationale Zusammenarbeit, Stefano Manservisi, erklärt hat. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Versorgung der Menschen in diesen Lagern gewährleistet würde. Beispielsweise leben heute allein in Uganda 1,4 Millionen Flüchtlinge, doch sind infolge gekürzter EU-Hilfe nur noch 35 Prozent des Bedarfs gedeckt, was dazu führt, daß die geflüchteten Menschen dort hungern. Und da die EU immer mehr Geld für Grenzsicherung und Flüchtlingsabwehr ausgibt, haben afrikanische Länder, die bisher finanzielle Hilfen für Nahrungsmittel, Gesundheit und Bildung erhielten, das Nachsehen. [3]

Die Strategie Europas, seine Außengrenzen tief in den afrikanischen Kontinent zu verschieben, erfordert geradezu eine Zusammenarbeit mit Regierungen und Milizen, die solche Abkommen aufgrund ihrer Macht, Brutalität und blutigen Erfahrung am effektivsten umsetzen können. Soweit es Diktatoren, Schlächter, Sklavenhändler, Folterer oder Schlepper sind, qualifiziert sie das für ihre Handlangerdienste im Auftrag der Europäer. Ob Handelskrieg, Flüchtlingsabwehr oder Bundeswehreinsatz - die von der Kanzlerin proklamierten Leitwerte laufen unter dem Strich darauf hinaus, die existentielle Überlegenheit der Menschen in Europa zu Lasten afrikanischer Menschen zu sichern und auszubauen.


Fußnoten:

[1] www.dw.com/de/afrikapolitik-made-in-germany-fair-geht-anders/a-45084675

[2] www.taz.de/!5513986/

[3] www.wsws.org/de/articles/2018/08/22/afri-a22.html

22. August 2018


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