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REPRESSION/1607: Erdogan - Ausnahmezustand beendet, Lage verschärft ... (SB)



Von jetzt an ist jeder Tag Ausnahmezustand
Schlagzeile der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet [1]

Wenige Tage nach dem gescheiterten Putschversuch verhängte die türkische Regierung am 20. Juli 2016 den Ausnahmezustand. UN-Angaben zufolge wurden mehr als 140.000 Personen festgenommen und fast 80.000 inhaftiert, darunter prokurdische Oppositionelle, Journalisten und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen. Rund 150.000 Beamte, Soldaten, Richter, Lehrer und Polizisten wurden aus dem Staatsdienst entlassen. Tausende Schulen und Universitäten wurden geschlossen, Hunderte Medien und Vereine gesperrt. Seit 2016 wurde der Ausnahmezustand siebenmal verlängert, er galt auch während des Referendums über die Einführung eines Präsidialsystems im April 2017 und der jüngsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2018.

Recep Tayyip Erdogan machte die Anhänger Fethullah Gülens für den Putschversuch verantwortlich und verfolgte diese mit aller Härte. Unter dem Vorwurf, mit der Organisation Gülens in Verbindung zu stehen oder dem "Terrorismus" Vorschub zu leisten, bedurften willkürlich verhängte Zwangsmaßnahmen keiner weiteren Begründung und keines Beweises. Mit Hilfe des gesteuerten Putsches, von dem Erdogan vorab Kenntnis hatte, wurde das Land mit Wellen der Repression überzogen und die Opposition drangsaliert, um ihren Widerstand zu brechen. Zwei Jahre lang wies die Regierung alle Forderungen nach einem Ende des Ausnahmezustands mit der Behauptung zurück, die Bedrohungslage lasse dies nicht zu. Dabei macht selbst Erdogan kein Geheimnis daraus, daß die Gülen-Bewegung in der Türkei längst ausgeschaltet ist. Zum zweiten Jahrestag des niedergeschlagenen Putsches verkündete der Präsident, daß die Strukturen der Organisation in Staat, Wirtschaft, Verwaltung, den Medien und der Zivilgesellschaft im großen Stil zerstört wurden. "Wir haben dem Oktopus die Arme abgeschlagen." [2]

Am Tag der Vereidigung Erdogans trat das neue Präsidialsystem in Kraft, in dem der Staatschef zugleich Regierungschef ist und die gesamte Exekutivgewalt innehat. Der Präsident kann somit auch ohne die Sonderrechte eines Ausnahmezustandes Präsidialdekrete erlassen, die keiner Zustimmung durch das Parlament bedürfen. Da Erdogan aufgrund seiner enorm gewachsenen Machtfülle den Ausnahmezustand nicht mehr braucht, läuft dieser nun aus und wird nicht mehr verlängert. Die vage Hoffnung, daß damit die Repression zurückgefahren werde, erfüllte sich nicht. Die Warnung der Opposition vor einer Verlängerung des Ausnahmezustands mit anderen Mitteln war nur allzu berechtigt.

Die Regierung hat längst ein neues "Antiterrorgesetz" vorbereitet, das noch restriktivere Maßnahmen implementieren soll. Der Entwurf sieht vor, daß die Gouverneure weiterhin die Versammlungsfreiheit einschränken wie auch Menschen, die verdächtigt werden, "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit" zu stören, den Zugang zu bestimmten Orten verwehren können. Verdächtige dürfen zwischen 48 Stunden und zwölf Tagen in Polizeigewahrsam gehalten werden, länger als vor Beginn des Ausnahmezustands. Zudem behält sich der Staat vor, öffentliche Angestellte zu entlassen, denen Verbindungen zu "terroristischen" Gruppen nachgesagt werden. Dabei regelt der Entwurf im Detail, wie Richter, Mitglieder der Streitkräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Beamte, die zu Unrecht ihre Jobs verloren haben, können keine Entschädigung einfordern. Zudem soll weiterhin all jenen, die wegen "Terrorverdachts" aus dem Staatsdienst entlassen wurden, der Paß entzogen werden. In Krisenlagen kann Reportern die Arbeit untersagt werden, und die Behörden werden ermächtigt, nicht nur von Verdächtigen, sondern auch von Ehepartnern und Kindern "Telekommunikations-Informationen" einzuholen. [3] Und nicht zuletzt werden die Aktivitäten des Geheimdienstes MIT nicht länger vom Parlament kontrolliert.

Während der Ausnahmezustand nach jeweils drei Monaten verlängert werden mußte, soll das neue "Antiterrorgesetz" zunächst für drei Jahre gültig sein. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AKP, Bülent Turan, erklärte dazu, man wolle den Kampf gegen den "Terror" ohne Unterbrechung auch nach dem Ausnahmezustand problemlos weiterführen. Zugleich behauptete er, daß die Regeln auf drei Jahre befristet seien und mehr demokratische Rechte brächten. So sprach er unter anderem nebulös davon, daß die maximale Dauer von Inhaftierungen im Vergleich zum Ausnahmezustand "angemessener" sein werde.

Offenbar hat es die Regierung eilig, soll das neue Gesetz doch bereits in zwei Wochen vom Parlament beschlossen werden. Der Entwurf der Regierungspartei AKP dürfte angesichts der Unterstützung seitens der ultranationalistischen MHP auf dem parlamentarischen Weg nicht aufzuhalten sein. Da AKP und MHP zusammen über 339 der 600 Parlamentssitze verfügen, ist ihnen die Mehrheit sicher. Wenngleich es offenbar innerhalb der AKP Stimmen gibt, denen das Gesetzespaket zu weit geht, drängt der rechtsextreme Bündnispartner darauf, zahlreiche Maßnahmen des Ausnahmezustands wie insbesondere die weitreichenden Befugnisse von Militär und Militärpolizei fortzuschreiben. Diese Konstellation erlaubt es Erdogan, geringfügig abweichende Meinungen in der eigenen Partei auch unter Verweis auf die Forderungen der MHP zum Schweigen zu bringen und seine politische Hausmacht zu konsolidieren. Vor Hunderttausenden Anhängern verkündete er auf der Gedenkveranstaltung zum zweiten Jahrestag des Putschversuches in Istanbul, die Angriffe auf die Türkei würden nicht enden. Damit erhob er die Vorstellung einer ständigen Gefahr neuer Umsturzversuche in den Rang einer Staatsdoktrin. [4]

Damit werde "der Ausnahmezustand nicht für drei Monate, sondern für drei Jahre verlängert", kritisierte der Fraktionsvorsitzende der oppositionellen CHP im Parlament, Ozgür Ozel. Die CHP wirft der Regierung vor, mit den Maßnahmen "gegen die Verfassung" zu verstoßen und "den Ausnahmezustand zum Dauerzustand" zu machen. Die Tageszeitung Cumhuriyet faßte die Reformen auf ihrer Titelseite jüngst in dem markanten Satz zusammen: "Von jetzt an ist jeder Tag Ausnahmezustand." Ernster als die systematisch dezimierte parlamentarische Opposition und die weitgehend gleichschalteten Medien muß Erdogan derzeit den wachsenden Unmut in Wirtschaftskreisen nehmen, die fehlende Planungs- und Rechtssicherheit monieren, was insbesondere auch dringend benötigte ausländische Investoren abschreckt.

Medienberichten zufolge fiel dem Staat durch die Beschlagnahmung des Eigentums von Gülen-Verdächtigen Besitz im Volumen von mehr als zehn Milliarden Dollar zu. Diese Kriegsbeute riß sich teils der Erdogan-Clan unter den Nagel, doch wurde sie vor allem dazu verwendet, durch Wiederverkauf eine dem Regime verpflichtete und gewogene Unternehmerschaft zu etablieren. Diese Umschichtung einheimischer Kapitalfraktionen sorgte im Verbund mit der Drohkulisse jederzeit möglicher Enteignung dafür, die einflußreichsten Gruppierungen der türkischen Ökonomie auf Linie zu bringen, obgleich die repressive Regierungspolitik das Heraufziehen einer schweren Wirtschaftskrise beschleunigte. Ein dramatischer Wertverlust der Türkischen Lira gegenüber dem US-Dollar, die hohe Inflation und ein wachsendes Außenhandelsdefizit erfordern rasches Handeln Ankaras.

Erdogans Entscheidung, den Ausnahmezustand enden zu lassen, dürfte dem Zweck geschuldet sein, eine Rückkehr zur Normalität vorzutäuschen. Sein Schwiegersohn und jüngst ernannter Finanzminister Berat Albayrak wird in den kommenden Tagen zu Gesprächen mit Anlegern in London erwartet. Albayrak wird dabei erläutern müssen, wie sich die nominelle Aufhebung des Ausnahmezustandes mit dem Plan der Regierung verträgt, diesen durch die Hintertür wieder einzuführen und in verschärfter Form zum Dauerzustand zu machen. Zudem zeichnen sich neue Spannungen zwischen der Türkei und der EU ab. Brüssel verlangt von Ankara seit Monaten eine Liberalisierung der türkischen Terrorgesetze und macht dies zur Voraussetzung für Erleichterungen im Reiseverkehr. Zur Rechtfertigung der Gesetzesverschärfung verweist die türkische Regierung auf das Beispiel Frankreich, wo die Sicherheitsbehörden ebenfalls nach einem fast zweijährigen Ausnahmezustand neue Rechte zur Terrorbekämpfung erhielten.

Der frühere Chefredakteur der türkischen Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar, lebt seit Juli 2016 in Deutschland im Exil. Gegen ihn läuft in der Türkei ein Verfahren wegen "Spionage", weil er die Zusammenarbeit des Geheimdienstes MIT mit dem IS publik gemacht hat. Er zeigt sich trotz des formellen Endes des Ausnahmezustands zu Recht pessimistisch und meint, daß sich die Situation nicht bessern wird. Im Gegenteil werde es für die Medien noch schlimmer werden. Er geht noch weiter und vergleicht die Situation in der Türkei mit der Lage in Deutschland nach dem Reichstagsbrand 1933. "Es gibt leider wahnsinnig besorgniserregende Parallelen", so Dündar. Auf die Wiederwahl Erdogans angesprochen gibt er zu bedenken, daß gerade die Deutschen wissen müßten, "dass auch ein Diktator gewählt werden kann".

In seiner Lage verständlich, fährt Can Dündar schweres Geschütz auf, um die Verhältnisse in der Türkei in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen. Wenngleich die Machtübernahme Erdogans in der Tat gewisse Erinnerungen an die deutsche Vergangenheit wachruft, dürften doch historisch näherliegende Parallelen zielführender sein, um die gegenwärtig in Anschlag gebrachten ideologischen und machtpolitischen Instrumente darzustellen. Recep Tayyip Erdogan hat weder das Terrorverdikt, noch den Ausnahmezustand oder das Präsidialsystem erfunden und verweist daher nicht zu Unrecht auf Entsprechungen in westlichen Ländern. Das rechtfertigt sein repressives Regime in keiner Weise, stellt sein Handeln jedoch in den Kontext einer Staatsräson, die hier wie dort nicht in aktuell identischer Schärfe, jedoch mit gleicher Stoßrichtung exekutiert wird.

So sitzen in deutschen Gefängnissen türkische und kurdische politische Gefangene, die in beiden Länder als "Terroristen" verfolgt und verurteilt wurden. Man denke auch an die in der Türkei wie in Deutschland bekannte Band Grup Yorum, die seit Jahren im Visier deutscher Geheimdienste ist. Auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag äußerte das Innenministerium jüngst Zustimmung zu von verschiedenen Bundesländern verhängten Auftrittsverboten und Auflagen gegen die Musikgruppe, der eine faktische Einheit mit einer als "ausländische terroristische Vereinigung" verbotenen Partei unterstellt wird. [5] Daß Erdogan fester denn je im Sattel sitzt hat viele Gründe, nicht zuletzt aber eine stabile Schnittmenge mit deutscher Regierungspolitik, auf die er jenseits aller vordergründigen Zerwürfnisse und opportunen Schelte setzen kann.


Fußnoten:

[1] www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-und-der-ewige-ausnahmezustand-a-1219104.html

[2] www.n-tv.de/politik/Erdogan-hat-schon-neue-Regeln-in-petto-article20533035.html

[3] www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_84136182/tuerkei-ausnahmezustand-laeuft-aus-kritik-an-erdogans-anti-terror-gesetz.html

[4] www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.demokratie-scharfes-anti-terror-paket-in-der-tuerkei.b8d0a095-3f28-4126-9a6a-429b7ed1b30f.html

[5] www.jungewelt.de/artikel/336231.kurdische-musiker-unter-terrorismusverdacht.html

19. Juli 2018


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