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REPRESSION/1596: Überwachungsstaatsgefahr - 30.000 auf der Straße ... (SB)



"Ich bin vor allen Dingen überrascht davon, dass die zum Teil auch Lügenpropaganda der letzten Wochen wohl auch manch unbedarfte Menschen in die Irre geführt hat", sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) im Bayerischen Rundfunk. "Wir müssen den Menschen noch viel stärker erklären, was wirklich in dem Gesetz steht und was blanker Unfug ist", so Herrmann weiter. "Da wird alles in einen Topf geworfen, als ob von bestimmten Maßnahmen jeder Bürger jetzt ständig betroffen sein könnte, davon kann überhaupt keine Rede sein." Das Gesetz bringe für die Bürger viele Vorteile. "Es ist eine Verbesserung des Datenschutzes, des Rechtsschutzes aber auch der Sicherheit der Menschen in unserem Land." [1]

Der Anflug von Panik in der Tirade des bayerischen Innenministers hatte einen handfesten Grund. Nach Polizeiangaben rund 30.000 Menschen - die Veranstalter sprachen von mehr als 40.000 - hatten am Himmelfahrtstag in der Münchner Innenstadt gegen das geplante Polizeiaufgabengesetz (PAG) demonstriert. Weil der Andrang auf dem Marienplatz zu groß war und die Menschen sich schon in den Seitenstraßen stauten, wurde die Auftaktkundgebung abgesagt. Als die Spitze des Protestzuges dann nach rund zwei Kilometern am Odeonsplatz zur Abschlußkundgebung eintraf, hatten einige Versammlungsteilnehmer den Marienplatz noch gar nicht verlassen können. [2] Die selbst kühnste Erwartungen der PAG-Gegner weit übersteigende Teilnehmerzahl bei diesem Höhepunkt der Kampagne war um so bemerkenswerter, als sich das Bündnis "#noPAG" erst vor rund vier Wochen gegründet hatte. Bei Kundgebungen in Augsburg, Nürnberg und Würzburg hatten in den vergangenen Wochen mehrere tausend Menschen gegen das geplante Gesetz demonstriert, für kommenden Montag ist eine weitere Demo in Regensburg geplant, selbst in kleineren Städten wie etwa Neumarkt/Oberpfalz gingen Leute auf die Straße.

Doch nicht nur das Ausmaß der landesweiten Welle massenhafter Protestkundgebungen oder die in München zuletzt allgegenwärtigen Aufkleber und Transparente hat die CSU-Regierung überrascht und irritiert, auch die beispiellose Breite des Bündnisses muß auf eine Partei höchst verstörend wirken, die bei den nächsten Landtagswahlen die absolute Mehrheit anstrebt. Es umfaßt inzwischen 95 Parteien und Organisationen, die für gewöhnlich mehr oder minder tiefe ideologische Gräben voneinander trennen. So ist neben Grünen, SPD und FDP über Gewerkschaften, Verbände, NGOs, Münchner Kreisjugendring, Humanistische Union und selbst Fußballfans bis hin zu Antifa-Gruppen, Rote Hilfe e.V., Antikapitalistische Linke, DKP und MLPD ein Spektrum präsent, das alle sonstigen Unvereinbarkeiten vorübergehend zurückgestellt hat.

Demokratische Parteien, die mit Verfassungsfeinden gemeinsame Sache machten, diskreditieren sich selbst, schoß CSU-Generalsekretär Markus Blume ein Eigentor: "Bei der Demo sind linke Chaoten dabei, die mit Staat und Polizei schon immer auf Kriegsfuß stehen." Dieser Hetze trat das Bündnis postwendend entgegen. Sie sei sehr froh, daß der Protest auf einer breiten gesellschaftlichen Basis gründe, erwiderte etwa die Grünen-Politikerin Ulrike Gote. Die CSU sollte sich lieber mit den Argumenten der PAG-Gegner auseinandersetzen, als sich darüber zu beschweren, wer da protestiert. [3] Wie man dazu wissen muß, hatte die grüne Fraktion am entschiedensten von allen Oppositionsparteien im Landtag Stellung gegen das PAG bezogen. Sie stimmte schon 2017 gegen eine erste Novellierung, als sich etwa die SPD noch enthielt, und reicht auch eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht dagegen ein.

In der Vergangenheit interessierte sich allenfalls ein relativ kleiner Kreis von Linken, Bürgerrechtlern oder Datenschützern ernsthaft für den Ausbau des repressiven Sicherheitsstaats und die Ausweitung exekutiver Befugnisse der Polizeien. Daß die von der Staatsregierung geplante Novellierung des Polizeiaufgabengesetzes ausgerechnet in Bayern bei der Bevölkerung plötzlich auf massiven Widerstand stößt, konterkariert zumindest die festgefahrenen Vorstellungen, wie solche Widerspruchslagen erwartungsgemäß ausgetragen werden. Aus Kreisen der konsternierten CSU, die in diesem Jahr unter politischem Druck manche Position räumen oder korrigieren und auch am PAG Änderungen vornehmen mußte, verlautete zuletzt trotzig, diesmal werde man die Sache durchziehen. Nach der Großdemonstration in München erklärte Innenminister Herrmann, er gehe davon aus, daß der Landtag das Gesetz in der nächsten Woche verabschieden wird.

Alle Bundesländer sind verpflichtet, ihre Polizeiaufgabengesetze an die neuen Datenschutzrichtlinien der Europäischen Union und an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum BKA-Gesetz anzupassen. Nachdem die grün-schwarze Regierung in Baden-Württemberg mit einer Verschärfung vorgelegt hatte, geht die Novellierung in Bayern noch darüber hinaus. [4] So wurde aus dem BKA-Urteil der Begriff der "drohenden Gefahr" übernommen, den die Verfassungsrichter für den Bereich des Terrorismus vorgesehen hatten. Die Polizei darf demnach nicht wie bisher nur bei einer "konkreten Gefahr" präventiv handeln, künftig soll bereits eine "drohende Gefahr" genügen, womit der Willkür endgültig Tür und Tor geöffnet ist. Damit bestätigt sich auf bestürzende Weise, daß der vor Jahren geschmiedete Terrorbegriff in der Konsequenz auf die Überwachung, Kontrolle und Sanktionierung der gesamten Bevölkerung abzielt. So heißt es auf einem überall in München an Laternen oder Briefkästen angebrachten leuchtend roten Aufkleber: "Wir sind alle verdächtig! #noPAG."

Bereits im Juli 2017 wurde in Bayern eine potentielle Unendlichkeitshaft eingeführt. Unter bestimmten Voraussetzungen darf ein Richter eine Person, ohne daß diese eine Straftat begangen hätte, in Haft stecken, um eine Gefahr abzuwenden. Diese Vorbeugehaft durfte früher maximal 14 Tage andauern, seit der Gesetzesänderung können Verdächtige ohne Anklage bis zu drei Monate eingesperrt werden. Anschließend entscheidet ein Richter, ob die Haft maximal um weitere drei Monate verlängert wird. Dieser Vorgang kann sich theoretisch alle drei Monate wiederholen, eine Höchstfrist gibt es nicht mehr. [5] Ohne dies gleichzusetzen, da eine richterliche Haftprüfung als rechtliche Schranke vorgesehen ist, fühlt man sich doch in gewisser Weise an die Administrativhaft in Israel oder gar Guantanamo erinnert.

Bayern erlaubte in seiner PAG-Novelle im Sommer 2017 Eingriffe nicht nur dann, wenn eine Gefahr für überragend wichtige Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit und Freiheit droht, sondern nahm auch "erhebliche Eigentumspositionen" auf und Sachen, "deren Erhalt im besonderen öffentlichen Interesse liegt". Der Schutz von Besitzständen und Infrastruktur wird einerseits klar zum Ausdruck gebracht und andererseits in der Formulierung so vage gehalten, daß einer erweiterten Anwendung keine Grenzen gesetzt sind. Das klingt nicht von ungefähr nach polizeilicher Aufstandsbekämpfung weit im Vorfeld jeglichen Aufstands, wenn künftig selbst eine angeblich drohende Gefahr für bestimmte Objekte ausreicht, um eine präventive Intervention zu rechtfertigen.

Die insgesamt 35 neuen Polizeibefugnisse auf Grundlage des rechtlich unbestimmten Begriffs der "drohenden Gefahr" im PAG-Entwurf umfassen unter anderem präventive DNA-Proben ohne konkreten Anlaß, verdeckte Ermittlungen, das Abhören von Telefonen oder Onlinedurchsuchungen, die Sicherstellung von Paketen und Briefen oder die Durchsuchung von Cloud-Speichern sowie die intelligente Videoüberwachung an bestimmten Orten. Zudem sollen Bodycams, die Polizisten zum Teil schon heute an ihrer Uniform tragen, künftig nicht mehr auf Knopfdruck eingeschaltet werden, sondern ununterbrochen laufen und die Aufnahmen dann gespeichert werden, wenn der Beamte auf einen Knopf drückt. Und nicht zuletzt sollen die SEK mit Handgranaten und anderen Sprengmitteln aufgerüstet werden, die auch gegen Personen zum Einsatz kommen können.

Im Windschatten Baden-Württembergs und Bayerns werden andere Bundesländer folgen, Nordrhein-Westfalen, Bremen, Sachsen und Niedersachsen nehmen dies bereits in Angriff. Das bayerische Vorbild soll Eingang in das sogenannte Musterpolizeigesetz finden, das die Innenministerkonferenz als Vorlage für die Bundesländer erarbeitet. Obgleich die Polizei verfassungsrechtlich Sache der Bundesländer ist, wollen Innenminister und Bundesregierung eine einheitliche Sicherheitsstruktur schaffen. Wenngleich sich die meisten PAG-Gegner auf die Grundrechte berufen, die sie akut gefährdet sehen, greift diese Kritik zu kurz. Wird schon im Grundgesetz die Eigentumsordnung vorausgesetzt, so sehen die Notstandsgesetze eine exekutive Aufhebung des Rechtsstaats für den Fall einer drohenden Gefährdung der herrschenden Verhältnisse vor. Über den "deutschen Herbst" und die Antiterrorgesetze bis hin zur aktuellen Ermächtigung der Polizei zieht sich eine Kette von Verschärfungen, die in wachsendem Maße den Ausnahmezustand an die Stelle rechtsstaatlicher Prinzipien setzt. Wer sich entschieden auf die Gesetze von gestern beruft, läuft Gefahr, mit den Gesetzen von heute in Konflikt zu geraten.


Fußnoten:

[1] www.welt.de/politik/deutschland/article176261458/Bayern-Herrmann-wirft-Gegnern-von-Polizeigesetz-Luegenpropaganda-vor.html

[2] www.jungewelt.de/artikel/332224.stinkefinger-für-den-polizeistaat.html

[3] www.augsburger-allgemeine.de/bayern/Duerfen-Polizisten-bald-alles-id51061106.html

[4] Siehe dazu:
REPRESSION/1592: Polizeigesetze - Gelegenheit schafft Rechte ab ... (SB)
www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1592.html

[5] www.sueddeutsche.de/muenchen/polizeiaufgabengesetz-fakten-zum-neuen-gesetz-1.3974393

11. Mai 2018


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