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REPRESSION/1573: G20-Gewaltdebatte nach kalkuliertem Schadensfall (SB)



Die Gewaltdebatte ist entbrannt, und sie wird so oberflächlich geführt wie zu erwarten war. Die viele Monate vor dem G20-Gipfel - ob in den Mobilisierungsaufrufen militanter Linker oder den Prognosen sogenannter Sicherheitsexperten - für Hamburg angekündigten Auseinandersetzungen sind erfolgt und werden skandalisiert, als ob die Hansestadt eine Insel der Seligen wäre. Dem legalistischen Tenor ihrer Rhetorik gemäß hat diese Debatte nur ein Ziel - den bereits im Aufbau befindlichen totalen Sicherheitsstaat weiter voranzutreiben, und das nicht nur zum Zwecke allgemeiner Herrschaftssicherung, sondern mit spezifischer Stoßrichtung gegen die verbliebenen Reste emanzipatorischer und revolutionärer Opposition.

Wie am Niedergang der realsozialistischen Staatenwelt vorexerziert, aus der die DDR als "Unrechtsstaat" hervorging, soll der rechtstaatliche Bannfluch alle Politiker und Aktivistinnen der parlamentarischen und außerparlamentarischen Linken treffen, die nicht im Vorwege jeglicher Diskussion linke Militanz pauschal verurteilen. Doch was ist der Anlaß dieser absehbaren, im Bekenntnis des gelernten Bundespolizisten und CDU-Innenpolitikers Armin Schuster exemplarisch hervortretenden Absicht? Schon seine Behauptung, Rechtsextremismus würde deutlich schärfer geächtet als sein angebliches linkes Pendant, was etwa durch die laxe Strafverfolgung bei den zahlreichen Anschlägen auf Flüchtlingsheime und das Mauern der Behörden bei der Aufklärung der NSU-Morde widerlegt wird, läßt die politisch motivierte Absicht dieser Worte durch die Handschrift der verfolgten Unschuld hindurchscheinen:

"Diese Verharmlosung vieler Parteien des Linksextremismus, der zahlt sich nicht aus, und die Rigastraße oder das Schanzenviertel gehören einfach endgültig geräumt, und ich gebe erst politisch Ruhe - das sage ich Ihnen ganz offen -, wenn die Täter sich wünschen, dass Hamburg nie gewesen wäre. Solange wir Unterschiede machen in der Bekämpfung zwischen Rechts- und Linksextremismus, stimmt etwas nicht. Ich wünsche mir, dass diese Gesellschaft Linksextremismus genauso ächtet wie rechts." [1]

Angetrieben von dem durchsichtigen Motiv gehobener Stadtentwicklung, Hamburg in die erste Riege jener Global Cities aufsteigen zu lassen, in denen transnationale Unternehmen ihre Geschäfte abschließen und die dazu erforderliche Infrastruktur aus Verkehrsanbindungen, Unternehmensdienstleistungen, Konsummöglichkeiten und politischer Stabilität vorfinden, wurde der G20-Wanderzirkus in die Stadt geladen, um dort das Drama einer Weltpolitik zur Aufführung zu bringen, deren Auf und Ab von großen Persönlichkeiten und nicht etwa kapitalistischen Verwertungsinteressen bestimmt wird. Nach der am Einspruch der Bevölkerung gescheiterten Olympiabewerbung war dies die nächstbeste Gelegenheit, für die städtebaulichen Aufwertungsprozesse samt ihrer bevölkerungspolitischen Selektionsdynamik eine schnellere Gangart einzulegen.

Einen Klub von Staats- und Regierungschefs nach Hamburg einzuladen, unter denen sich vom Autokraten bis zum Diktator alles befindet, was an repressiver Regierungstechnik in Zeiten der Krise Rang und Namen hat, führt von sich aus schon dazu, daß alle davon betroffenen Menschen nun die seltene Gelegenheit haben, ihrer Ohnmacht laut vernehmlich Ausdruck zu geben. Findet das Treffen auch noch im ideologischen Widerschein angeblich notwendiger Globalisierung statt, dann vervielfältigt sich die Zahl der davon existentiell betroffenen Menschen.

Was auf der politischen Bühne als Konflikt zwischen liberaler Weltmarktordnung und protektionistischem Nationalismus inszeniert wird, ist kaum des Blickes auf diese Scharade wert, mit der über die tiefsitzenden und hochgefährlichen innerimperialistischen Konkurrenzkämpfe hinweggegangen wird. Kein Staat will und kann tatsächlich ein klassisch protektionistisches, in der Konsequenz autarkes Konzept in Zeiten multidimensionaler globaler Krisen verfolgen, ohne dabei schwere Nachteile in Kauf zu nehmen. Der Freiheitspathos, mit dem Merkel und die Präsidenten anderer EU-Staaten sowie Chinas das globale Handelsregime versüßen, ist lediglich der legitimatorische Schein ökonomischer Zwangsverhältnisse, denen die USA unter Donald Trump nicht minder ausgesetzt sind. Die Dynamik der Debatten Freihandel versus Protektionismus findet denn auch in einem System miteinander kommunizierender Röhren statt - die einen klagen über Nachteile, die die anderen als Vorteile verteidigen, um im Endeffekt auf eine höhere Stufe regulatorischer Ordnung zu gelangen, die den anwachsenden Mangel denjenigen auflastet, die von keiner dieser Regierungen etwas anderes als ihre fortwährende Unterwerfung zu erwarten haben.

Wo Mensch und Natur unter das Diktat des in jede Nische noch verwertbarer Lebensressourcen vordringenden Weltmarktes geraten, so daß nicht einmal mehr das lebenserhaltende Minimum an Subsistenzmitteln zur Verfügung steht, wird dies ganz konkret manifest. Sie warten mit leeren Säcken an den Rändern ihrer einstigen Äcker, um hinter den Erntemaschinen der globalen Agroindustrie noch ein paar Feldfrüchte einzusammeln, sie verfügen über kein sauberes Wasser, weil die letzten Reste für die Bewässerung der Cash Crops draufgehen, mit denen für den Schuldendienst dringend notwendige Devisen erwirtschaftet werden, sie sind schon nach wenigen Jahrzehnten in den Sweat Shops der ausgelagerten Vorstufen einer erst in den Ländern der auftraggebenden Unternehmen lukrativ vermarktbaren Fertigung physisch so ausgelaugt, daß sie vollständig vom Wohlwollen ihrer Verwandtschaft abhängig sind, sie werden in den Minen der globalen Bergbauunternehmen so stark von mineralischen Stäuben aller Art durchdrungen, daß ein früher und qualvoller Tod absehbar ist. Die ausgemergelten Körper bis aufs Knochenmark von giftiger Chemie kontaminiert, die sie beim Sammeln verbliebener Reste auf den Müllkippen der Metropolen, beim Ausschlachten des eigens von Nord nach Süd verschifften Computerschrottes oder der Sklavenarbeit auf den Feldern der Agrarmultis einatmen, die sie mit industriell vollständig entwerteter und von andernorts längst verbotenen Pestiziden durchsetzter Nahrung zu sich nehmen, sind sie zu schwach, um sich auch nur gegen die Ausbeutung durch die eigene Kompradorenbourgeoisie zu wehren. Zu alledem gesellt sich der globale Klimawandel in Form jahrelanger Dürren, schlagartiger Überflutungen, sengender Hitze und drastisch zurückgehender Biodiversität mit allen katastrophalen Konsequenzen der Hungersnot, Desertifikation und dementsprechenden Ressourcenkriegen und Wanderungsbewegungen.

Selbst in der EU sind lebensfeindliche und menschenverachtende Zustände dieser Art gang und gäbe. In der süd- und osteuropäischen Peripherie hegen große Teile der Bevölkerungen einen ausgemachten Haß auf Deutschland, dessen Schuldendiktate und Kapitalexporte maßgeblich zu ihrer sozialen Verelendung beitragen. Wird in Hamburg die Rechtsförmigkeit globalisierter Geschäftsbeziehungen propagiert, so wird nicht dazugesagt, daß sie das glatte Gegenteil sozialer Gleichheit sind. Als zentrale ideologische Achse einer Aneignungspolitik, die über Leichen geht, rühmt sich das Recht auf unbeschränkten Handel, Kapitalverkehr und Eigentumssicherheit einer Freiheit, die auf der Unfreiheit aller Menschen beruht, die nichts anderes als ihre Körper zu Markte zu tragen haben.

Der solchermaßen im globalen Süden entfachte soziale Krieg hat bereits in Gestalt der vielen notleidenden Flüchtlinge vernehmlich an die Pforte der EU geklopft, wo das Faß des Zynismus mit Argumenten wie "Wirtschaftsflüchtlinge nehmen wir nicht" und "Schlepper sind die eigentlich Schuldigen" zum Überlaufen gebracht wird. All das schlägt zu Buche, wenn die Gewalt auf der Straße explodiert. Die Versuche, sie von ihrer Verankerung in sozialen Konflikten zu entkoppeln, sind zahlreich und beschäftigen eine Vielzahl darauf spezialisierter Analysten und Journalisten. Doch deren Behauptungen, bei dem vielzitierten schwarzen Block handle es sich um bloße Kriminelle oder militante Eventtouristen, ist wenig glaubwürdig, könnten die meist männlichen Jugendlichen doch die bloße Lust an der Zerstörung überall ausleben und müßten dafür nicht durch halb Europa nach Hamburg reisen.

Dementsprechend verkürzt ist die Frage nach primärer Schuldhaftigkeit - auch wenn die Polizei die herrschende Ordnung nicht so aggressiv durchgesetzt hätte, wie sie es bei der ersten großen Demo am Hamburger Fischmarkt tat, wären Konfrontationen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ausgeblieben. Wenn eine Schuld für das Desaster greifbar in Erscheinung tritt, dann diejenige, mit der jeder Mensch schon bei Geburt bei den Gläubigern öffentlicher Haushalte und den Sachwaltern unternehmerischer Kapitalakkumulation belastet ist. Mit Eintritt ins Leben hat er bereits einen Kredit bei der Arbeitsgesellschaft aufgenommen, den abzutragen keine Lebensleistung genügt, die nicht die notgedrungene Reproduktion durch Lohnarbeit überwindet.

Verbleibt die Gewaltdebatte absehbar auf der Ebene bloßer Rechtsfragen, sind weitere Eingriffe in die verbliebenen bürgerlichen Freiheiten unausweichlich. Wo die Sachbeschädigung privaten oder öffentlichen Eigentums beklagt wird, ohne das privatwirtschaftliche Eigentumsrecht als Triebkraft sozialer Mangelproduktion ganz grundsätzlich in Frage zu stellen, sucht man sein Heil in einer symptomatischen Sozialpathologie, deren Bekämpfung nach immer drastischeren Mitteln verlangt. Diese Debatte nicht zu politisieren, sondern legalistisch zu überformen entspricht der Staatsräson einer kapitalistischen Gesellschaft wie der der Bundesrepublik, in der ein Großteil der Bevölkerung noch ganz gut davon lebt, daß den Menschen in anderen Teilen der Welt das Wasser bis zum Hals steht oder ihnen zum kaum erschwinglichen Mangelgut geworden ist. Daß dies so bleibt, ist maßgeblicher Anlaß der Hinwendung zu sozialschauvinistischen und rechtskonservativen Formen der Politik, die der G20-Gipfel mit neuer Munition versehen hat.


Fußnote:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/krawalle-in-hamburg-ich-kann-der-polizei-nur-das.694.de.html?dram:article_id=390525

8. Juli 2017


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