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REPRESSION/1569: Erdogan entfesselt - Luftangriffe und Verhaftungswelle (SB)



Mit dem erzwungenen Erfolg des Verfassungsreferendums im Rücken, das seine Präsidialdiktatur konstitutionell besiegelt hat, geht Recep Tayyip Erdogan umgehend daran, sein repressives Regime mit Kriegführung in Syrien und dem Irak wie auch einer weiteren Verhaftungswelle in der Türkei zu verschärfen. Der Machthaber in Ankara hatte bereits seit Wochen angekündigt, er werde Nordsyrien und den Irak von kurdischen Kämpfern "säubern". An der türkisch-irakischen Grenze ist es mehrfach zu heftigen Gefechten zwischen der türkischen Armee und der PKK gekommen. Und nachdem in den vergangenen Monaten des öfteren bewaffnete Provokationen gegen die kurdische Selbstverwaltung in Syrien stattfanden, wurden nun an der Grenze zum nordsyrischen Afrin Bodentruppen zusammengezogen, Wege und Pontonbrücken für einen Einmarsch aufgebaut. [1]

Daß eine neue Offensive der Türkei unmittelbar bevorsteht, legen Luftangriffe nahe, die der Auftakt zum Vorrücken von Bodentruppen sein dürften. Bei Angriffen türkischer Kampfflugzeuge auf syrisches und irakisches Territorium, die ersten Meldungen zufolge Dutzende Todesopfer forderten, wurden eine Zentrale der kurdischen Volksverteidigungskräfte YPG sowie die Sendestation des Radiokanals Denge Rojava zerstört. Zeitgleich wurden im Siedlungsgebiet der Jesiden im Sindschar mehrere Wohngebiete bombardiert und ebenfalls ein Radiosender zerstört. Zudem starben fünf Kämpfer in einem Stützpunkt der KDP-Peschmerga, die eigentlich mit Ankara verbündet sind.

Während die YPG-Kämpfer vor der IS-Hochburg Rakka stehen, fällt ihnen die türkische Armee in Rojava in den Rücken. Erdogan verfolgt damit einerseits sein erklärtes Ziel, den kurdischen Widerstand in Nordsyrien ebenso wie im eigenen Land auszulöschen, und kollaboriert dabei andererseits de facto mit dem IS, den anzugreifen er bei seiner Intervention im syrischen Krieg vorgegeben hat. Im Sindschar hatte der IS 2014 Tausende Jesidinnen und Jesiden verschleppt und ermordet, bis die PKK einen Korridor freikämpfte und die Überlebenden rettete. Für die jesidischen Selbstverteidigungsmilizen YBS sind nun die türkischen Streitkräfte der Feind, die das Vernichtungswerk der Milizen des "Islamischen Staats" fortsetzen wollen.

Da man vermuten kann, daß die USA vorab über die türkischen Luftangriffe informiert worden waren, sie aber bislang noch nicht einmal mit einer Stellungnahme darauf reagiert haben, steht zu befürchten, daß dem Regime in Ankara freie Hand gegeben wird, seine Angriffe fortzusetzen. Berichtet wird in deutschen Medien indessen über landesweite Razzien in der Türkei, bei denen die Polizei mehr als tausend Menschen festgenommen hat. Wie die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, seien dafür am frühen Morgen rund 8500 Beamte mobilisiert worden, die in 72 Provinzen Jagd auf mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung machten.

Anadolu bezifferte die Zahl der Festnahmen am Mittag auf 1120, insgesamt würden 4672 Menschen als Verdächtige angesehen, von denen 1448 bereits in Haft seien. Die übrigen 3224 würden per Haftbefehl gesucht. Die Zeitung "Hürriyet" berichtete unter Berufung auf anonyme Quellen sogar von 7000 Haftbefehlen. Die Polizei habe bei den Razzien mit dem türkischen Inlandsgeheimdienst MIT zusammengearbeitet, der im Verdacht steht, auch in Deutschland Anhänger der Gülen-Bewegung auszuspionieren.

Innenminister Süleyman Soylu rechtfertigte die massenhaften Festnahmen mit dem Ziel, "Strukturen aufzudecken und zu zerstören, die unsere Polizei infiltriert haben und von außen zu steuern versuchen". Der Staat müsse von Gülen-Anhängern "gesäubert" werden. Erdogan macht die Gülen-Bewegung für den Putschversuch vom vergangenen Juli verantwortlich. Seither wurden in der Türkei Zehntausende mutmaßliche Gülen-Anhänger aus dem Staatsdienst entlassen oder inhaftiert. [2]

Neben dem Terrorverdikt gegen den kurdischen Widerstand, das auf jede Form von Opposition ausgeweitet wird, die sich auf irgendeine Weise für die Kurdinnen und Kurden einsetzt, ist die Verhaftungswelle gegen mutmaßliche oder angebliche Anhänger der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen die zweite Schiene eskalierender Repression in der Türkei, deren Ende nicht abzusehen ist.


Fußnoten:

[1] https://www.jungewelt.de/artikel/309583.erdogans-nächster-krieg.html

[2] https://www.welt.de/newsticker/news1/article164032772/Mehr-als-tausend-Festnahmen-bei-Grossrazzia-in-Tuerkei-gegen-Guelen-Anhaenger.html

26. April 2017


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