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REPRESSION/1567: Schwelle zu Erdogans Präsidialdiktatur überschritten (SB)



Mit Hilfe des permanenten Ausnahmezustands hat Recep Tayyip Erdogan die Schwelle zur Präsidialdiktatur überschritten. Der Ausgang des Referendums über die reaktionäre Verfassungsänderung öffnet einer um so schärferen Offensive staatlicher Repression gegen jegliche Opposition Tür und Tor. Dennoch handelt es sich weniger um eine Zäsur, als vielmehr die konstitutionelle Besiegelung dessen, was das AKP-Regime seit geraumer Zeit praktiziert und vorantreibt. Erdogan regiert seit dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016 am Parlament vorbei, führt Krieg in den kurdischen Landesteilen und gegen Rojava in Nordsyrien, schlägt in einer Säuberungswelle von massenhaften Entlassungen und Verhaftungen alle Gegner aus dem Feld, schaltet die Medien gleich, hat mit Versammlungsverboten, Festnahmen und Angriffen von Schlägertrupps das Lager der Nein-Stimmen systematisch drangsaliert. Die gesamte Führung der oppositionellen HDP befindet sich im Gefängnis, wo zahlreiche Gefangene in einen Hungerstreik getreten sind, der ihr Leben akut bedroht. Erdogan hat die Gegner des Präsidialregimes als "Terroristen" bezichtigt und sich der Bevölkerung als starker Anführer anempfohlen, der allein angesichts der Bedrohung durch äußere und innere Feinde Sicherheit und Stabilität garantieren könne. Von einer regulären Abstimmung kann daher bei der Volksabstimmung keine Rede sein. [1]

Die gewaltsame Übernahme des restdemokratischen Staates erfolgte auch beim Urnengang selbst. Die Wahlbeobachter des Europarats und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit, OSZE, übten nicht nur harsche Kritik an der Dominanz der AKP bei öffentlichen Wahlkampagnen und der Medienberichterstattung in der Türkei. Sie monierten auch Unregelmäßigkeiten bei der Wählerregistrierung und berichteten, daß in einigen Wahllokalen Wähler bedrängt oder behindert worden seien. Die Beobachter beklagten nicht zuletzt, daß durch die späte Änderung der Abstimmungsregeln wichtige "Schutzvorkehrungen" beseitigt worden seien. Die Wahlkommission hatte während der laufenden Abstimmung erklärt, daß auch von ihr nicht gekennzeichnete Stimmzettel und Umschläge als gültig gezählt würden. Normalerweise werden die Stimmzettel von der Kommission gestempelt, um sicherzustellen, daß keine irregulären Zettel oder Umschläge verwendet werden. [2]

Der Generalsekretär der Oppositionspartei CHP kritisiert die Entscheidungen der Obersten Wahlkommission YSK, der er Manipulation vorwirft. In der YSK sitzen Richter aus dem Kassationshof und dem Staatsrat, den obersten Gerichten des Landes. Die Mitglieder werden zwar durch eine geheime Wahl bestimmt, doch hat das Regime auch hier im Zuge des Ausnahmezustands einen Austausch vermeintlich verdächtiger Richter gegen regierungstreue vorgenommen. Von einer unabhängigen Kontrolle seitens der Wahlkommission kann man daher nicht ausgehen, und so wies die YSK denn auch sämtliche Vorwürfe umgehend als zweifelsfrei unzutreffend zurück. Die prokurdische HDP hat auf Twitter erklärt, sie werde eine Neuauszählung der Stimmen aus zwei Dritteln der Urnen verlangen. Es gebe Hinweise auf eine "Manipulation der Abstimmung in Höhe von drei bis vier Prozentpunkten". Die Opposition hat zwar die Möglichkeit, eine Neuauszählung zu verlangen, doch hat am Ende wieder die Wahlkommission das letzte Wort. Auch auf dem Rechtsweg sind die Möglichkeiten der Opposition, das Ergebnis des Urnengangs anzufechten, denkbar gering, da die Richter entlassen worden sind, die dem Regime ein Dorn im Auge waren. [3]

Die AKP-Regierung geht umgehend daran, die Ernte einzufahren. So soll der Ausnahmezustand erneut verlängert werden, Sicherheitsrat und Kabinett sind unter dem Vorsitz Erdogans zusammengekommen, bei der nächsten Sitzung des Parlaments ist dessen Zustimmung dank der Mehrheit der AKP sicher. Mit der Veröffentlichung des Ergebnisses des Referendums im Amtsanzeiger darf der Präsident wieder einer Partei angehören, womit schon bald zu rechnen ist. Zudem soll die Neubesetzung des Rates der Richter und Staatsanwälte innerhalb von 30 Tagen abgeschlossen sein. Die weiteren Punkte der repressiven Reform sollen schrittweise umgesetzt werden. Wie Erdogan vor jubelnden Anhängern in Istanbul verkündete, sei die Abstimmung eine historische Entscheidung der türkischen Nation, die auch vom Ausland akzeptiert werden müsse. Als nächstes will er nach eigenen Worten über die Wiedereinführung der Todesstrafe abstimmen lassen. Sollte im Parlament nicht das dafür erforderliche Votum zustande kommen, werde es ein weiteres Referendum geben.

Wie Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Sigmar Gabriel in einer gemeinsamen Erklärung schreiben, zeige der knappe Ausgang der Abstimmung, wie tief die türkische Gesellschaft gespalten sei. Die Bundesregierung erwarte daher, daß die türkische Regierung nun nach einem harten Wahlkampf einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes suche. [4] Zynischer könnte die offenkundige Doppelbödigkeit deutscher Regierungspolitik kaum sein. Wenn sich Erdogan jede Einmischung mit dem Argument verbittet, jeder solle und dürfe seine eigenen "Terroristen" verfolgen, kann er sich der Zusammenarbeit im Dienst der beiderseitigen Staatsräson sicher sein. So üben Berlin und Ankara seit Jahren den Schulterschluß, wenn es darum geht, linken kurdischen und kurdischen Widerstand mit dem Terrorverdikt zu belegen. NATO-Partnerschaft, "Antiterrorkrieg", Flüchtlingsabkommen und Wirtschaftsbeziehungen schweißen die Führungseliten beider Länder so eng zusammen, daß alle Moral und Humanität an diesem Interessengeflecht wirkungslos abperlen muß.

Die Kollaboration mit dem türkischen Regime reicht viel tiefer, als daß vordergründige Kritik am Aufstieg des Despoten daran rühren könnte. Erdogan stellt in Aussicht, die kapitalistische Verwertungskrise in seinem Land mit brachialen Mitteln zu lösen und jede fundamentale Systemkritik zum Schweigen zu bringen. Dafür nimmt man in Berlin und Brüssel auch einen wahnwitzigen Machthaber in Kauf, der diktatorische Verhältnisse ohne Ende etablieren will.


Fußnoten:

[1] https://www.jungewelt.de/artikel/309011.regime-der-restauration.html

[2] http://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-referendum-osze-beklagt-ungleiche-wahl-bedingungen.2852.de.html

[3] http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-wie-die-opposition-gegen-das-referendum-vorgehen-will-a-1143585.html

[4] http://www.deutschlandfunk.de/reaktionen-nach-tuerkei-referendum-bundesregierung-mahnt.1766.de.html

17. April 2017


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