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REPRESSION/1553: Totengräber der türkischen Demokratie (SB)



Sollte es Recep Tayyip Erdogan tatsächlich gelingen, sein Regime in Gestalt einer Präsidialdiktatur langfristig zu konsolidieren, hat er das nicht zuletzt der stillschweigenden bis offenen Kollaboration der westeuropäischen Mächte zu verdanken. Die britische Premierministerin Theresa May hat soeben ihren Teil dazu beigetragen, nicht nur das Prestige der AKP-Regierung aufzuwerten, sondern darüber hinaus konkrete Schritte wirtschaftlicher und militärischer Zusammenarbeit einzuleiten. Angesichts des beabsichtigten Austritts aus der EU und dem europäischen Binnenmarkt im Kontext des Brexit ist Großbritannien dringend auf neue Handelspartner angewiesen, um den drohenden dramatischen Rückgang des Wirtschaftswachstums abzufedern und die im Falle eines Verelendungsschubs zu befürchtende soziale Revolte abzuwenden. Nachdem May als erste ausländische Regierungschefin vom neuen US-Präsidenten Donald Trump in Washington empfangen worden war und dabei ein bilaterales Handelsabkommen thematisierte, flog sie weiter nach Ankara.

Es war Theresa Mays erster Türkei-Besuch, seitdem sie im Juli in der Folge des britischen Votums für den EU-Austritt Regierungschefin geworden war. Mit dem türkischen Machthaber besprach sie eigenen Angaben zufolge neben den Handelsbeziehungen beider Länder auch Themen wie die gemeinsame Sicherheitspolitik, den Bürgerkrieg in Syrien und die Bemühungen um eine Wiedervereinigung der geteilten Mittelmeerinsel Zypern. Im Mittelpunkt des eintägigen Besuchs der konservativen britischen Premierministerin in der Türkei stand die Intensivierung des Handels zwischen den beiden Ländern. Die Regierungen in Ankara und London vereinbarten die Einsetzung einer Arbeitsgruppe zu den beiderseitigen Handelsbeziehungen, wie May nach einem Treffen mit Erdogan in Ankara sagte. [1]

Bei den Gesprächen der britischen Regierungschefin mit Präsident Erdogan und Ministerpräsident Binali Yildirim wurde ein von Unternehmen beider Länder geschlossenes Rüstungsabkommen besiegelt. Wie May bekanntgab, geht es dabei um die gemeinsame Entwicklung von Kampfflugzeugen. Das britische Unternehmen BAE Systems und Turkish Aerospace Industries haben demnach ein Abkommen über mehr als 100 Millionen Pfund unterzeichnet. Künftig soll das türkische Rüstungsprojekt TF-X, die erste Kampfjetentwicklung des Landes, gemeinsam vorangetrieben werden. Dieses Kampfflugzeug ist dazu ausersehen, dereinst die US-amerikanischen F-16 abzulösen. Das Vorhaben werde auf Jahre hinaus Tausende britische und türkische Arbeitsplätze sichern, so May.

"Das ist mehr als nur ein Handelsabkommen. Es ist der Beginn einer tiefgreifenden Verteidigungspartnerschaft", unterstrich die britische Premierministerin bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Yildirim. Nach den Worten Erdogans soll das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern von derzeit 15,6 Milliarden US-Dollar auf 20 Milliarden US-Dollar anwachsen. [2] Der türkische Ministerpräsident Yildirim ließ anklingen, daß London und Ankara Pläne für ein künftiges Freihandelsabkommen schmieden. Allerdings darf ein solches erst nach dem Vollzug des Brexit abgeschlossen werden. Großbritannien ist nach Deutschland das zweitwichtigste Exportland der Türkei. Umgekehrt geht lediglich ein Prozent der britischen Güter und Dienstleistungen in die Türkei. Das EU-Kandidatenland partizipiert über eine Zollunion am europäischen Freihandelssystem.

Die Türkei wirft Großbritannien ebenso wie anderen westlichen Staaten mangelnde Solidarität nach dem versuchten Staatsstreich vom 15. Juli 2016 vor. Die britische Regierung zeigte sich besorgt wegen der Entlassung und Inhaftierung Zehntausender Staatsangestellter sowie des harten Vorgehens der türkischen Regierung gegen Medien und Opposition. Mehr als 100.000 Mitarbeiter von Militär, Justiz und öffentlichem Dienst wurden entlassen, rund 40.000 Inhaftierte warten auf einen Prozeß.

Wegen der Repressionswelle haben westliche Regierungschefs die Türkei seit dem Putschversuch gemieden. Menschenrechtler hatten May aufgefordert, Repressionen in der Türkei und die Verhaftungswelle nach dem Putschversuch anzusprechen. So gab Amnesty International May vor ihrer Reise nach Ankara die Mahnung mit auf den Weg, sie solle die desolate Lage der Menschenrechte dezidiert thematisieren. Daß das geschehen wäre, ist nicht bekannt und darf bezweifelt werden. Vor der Öffentlichkeit erklärte May zwar, die Türkei müsse wie zugesichert die Mitte Juli gegen die Putschisten verteidigte "Demokratie durch die Beachtung der Rechtsstaatlichkeit und der internationalen Menschenrechte" bewahren. Was von diesem Lippenbekenntnis zu halten ist, zeigt die Aussage der konservativen Politikerin, sie sei stolz, daß sich ihr Land während des gescheiterten Putsches im vergangenen Juli an der Seite der demokratisch gewählten türkischen Regierung befunden habe.

Als May auf einer gemeinsamen Medienkonferenz mit Erdogan anmahnte, internationale Menschenrechtsvereinbarungen und rechtsstaatliche Standards zu bewahren, hörte sich der türkische Staatschef diese schon oft gehörte Klage mit steinerner Miene an. Insgesamt verlief die Unterredung offenbar deutlich entspannter als jene mit dem damaligen deutschen Außenminister Franz-Walter Steinmeier, der im vergangenen November die Auswüchse der Säuberungs- und Repressionswelle angeprangert hatte. Scharfe Kritik an den handelspolitischen Prioritäten Mays äußerten einige britische Politiker. Der Abgeordnete Tom Brake von den Liberaldemokraten warf ihr vor, sich ihre Alliierten unter Populisten und Tyrannen auszusuchen. Der Independent kommentierte, Mays Türkeibesuch zeige auf, wie verzweifelt die Premierministerin nach Handelsabkommen Ausschau halte. [3]

Für die Bundesregierung und die deutsche Exportwirtschaft sind die Handelsbeziehungen mit der Türkei ein maßgeblicher Grund, Sanktionen gegen das Regime in Ankara auszuschließen. Die Türkei exportierte 2015 Waren im Wert von 14 Milliarden Euro nach Deutschland und kaufte im Gegenzug deutsche Produkte für 22,4 Milliarden Euro, womit sie auf Platz 14 der wichtigsten deutschen Exportmärkte landete. Rund 60 Prozent der Ausfuhren dorthin entfielen auf den Maschinenbau sowie auf die Automobil- und die Chemiebranche. 2016 erreichten die deutschen Direktinvestitionen in der Türkei rund 9,2 Milliarden Euro, 1,2 Milliarden mehr als im Jahr zuvor. Derzeit gibt es dort rund 6000 deutsche Unternehmen oder Firmen mit deutscher Kapitalbeteiligung. Sie sehen ihre Geschäfte durch politische Unsicherheit und Instabilität am Bosporus beeinträchtigt, lehnen aber zugleich wirtschaftliche Druckmittel ab, die ihre Profitaussichten schmälern könnten.

Wie Erdogan ein ums andere Mal herrisch erklärt, interessiere ihn Kritik aus dem Ausland, die ihn einen Diktator nennt, nicht im geringsten. Wichtig sei allein, was sein Volk sage. Da sein Heilsversprechen eines Wohlfahrtsstaats angesichts des Verfalls der türkischen Wirtschaft auf tönernen Füßen steht, dürften ökonomische Interventionen das einzig wirkmächtige Mittel sein, ihm aus dem Ausland in den Arm zu fallen. Bedeutsame Wirtschaftszweige wie der Tourismus sind dramatisch eingebrochen, ausländische Investoren ziehen ihr Kapital aus der Türkei ab, die Landeswährung Lira verliert an Wert, die Banken sitzen auf milliardenschweren faulen Krediten. Noch kann sich der Machthaber seiner Massenbasis sicher sein, da zahllose Menschen dem Mythos Glauben schenken, er habe die Lebensverhältnisse insbesondere der ärmeren und zuvor unterprivilegierten Bevölkerungsteile tatsächlich verbessert.

Ein demonstrativer Schulterschluß wie jener der britischen Premierministerin Theresa May ist für Erdogan Gold wert und dies nicht allein angesichts der Hoffnung, den Absturz der türkischen Wirtschaft auf diesem Wege konkret zu bremsen. Der symbolpolitische Ertrag als Signal an die eigene Bevölkerung, die Krise werde dank einer zukunftsträchtigen Partnerschaft absehbar enden und dem Aufschwung in die versprochenen besseren Zeiten Raum geben, ist in der aktuellen Situation unschätzbar für das Regime. Beim Referendum im April will Recep Tayyip Erdogan die letzte Hürde vor der Präsidialdiktatur nehmen, wofür er ein Mehrheitsvotum der wahlberechtigten Bevölkerung braucht.

Theresa May hat sich soeben als Totengräberin aller Restbestände an Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei hervorgetan. Am Donnerstag wird Bundeskanzlerin Angela Merkel in Ankara erwartet. Was wird sie dazu beitragen, diktatorischen Verhältnissen Einhalt zu gebieten oder ihnen im Gegenteil freien Lauf zu lassen?


Fußnoten:

[1] https://www.tagesschau.de/ausland/may-erdogan-101.html

[2] http://www.bild.de/geld/aktuelles/wirtschaft/may-und-erdogan-wollen-handelsbeziehungen-50016320.bild.html

[3] https://www.nzz.ch/international/britisch-tuerkische-verteidigungspartnerschaft-may-ruestet-sich-ld.142478

31. Januar 2017


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