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REPRESSION/1552: Flüchtlingshölle Libyen - Deutsch-europäischer Geist läßt grüßen (SB)



Wenn in flüchtlingspolitischen Stellungnahmen der Bundesregierung davon die Rede ist, die Fluchtursachen zu bekämpfen, kündigt sich damit natürlich nicht das Ende der ökonomischen und militärischen Kriegsführung gegen die Staaten und Bevölkerungen Afrikas und des Nahen und Mittleren Ostens als wesentliche Fluchtursache an. Die Bundesregierung ist federführend in der Abschottung Europas, der vorgelagerten Flüchtlingsabwehr und der Rückführung von Flüchtlingen selbst in Kriegsgebiete wie Afghanistan. Das Abkommen mit dem Erdogan-Regime in der Türkei hat die Balkanroute weitgehend geschlossen, afrikanische Regierungen werden mit finanziellen Mitteln unter Druck gesetzt, die bislang herrschende Bewegungsfreiheit über Ländergrenzen hinweg einzudämmen. Gegenwärtig ist Libyen in den Fokus europäischer Flüchtlingspolitik gerückt: Von den mehr als 180.000 Menschen, die im vergangenen Jahr von Nordafrika nach Italien kamen, brachen fast 90 Prozent von Libyen aus übers Mittelmeer nach Europa auf. Das gilt auch für die 4500 Menschen, die bei der Überfahrt ertrunken sind.

Wie es in Libyen um die Flüchtlinge bestellt ist, geht aus einem internen Lagebericht deutscher Diplomaten in aller Deutlichkeit hervor, die "KZ-ähnliche Verhältnisse" in libyschen Flüchtlingslagern anprangern. Laut einer diplomatischen Korrespondenz der deutschen Botschaft in Nigers Hauptstadt Niamey kommt es in "sogenannten Privatgefängnissen", in denen Schlepper ausreisewillige Migranten festhalten, zu "allerschwersten, systematischen Menschenrechtsverletzungen". Die Berichte sind offenbar durch authentische Handy-Fotos und -videos belegt. "Exekutionen nicht zahlungsfähiger Migranten, Folter, Vergewaltigungen, Erpressungen sowie Aussetzungen in der Wüste sind dort an der Tagesordnung", heißt es in dem Schreiben der Diplomaten, das an das Bundeskanzleramt und mehrere Ministerien ging und die Zustände ungewöhnlich scharf kritisiert. "Augenzeugen sprachen von exakt fünf Erschießungen wöchentlich in einem Gefängnis - mit Ankündigung und jeweils freitags, um Raum für Neuankömmlinge zu schaffen, d.h. den menschlichen 'Durchsatz' und damit den Profit der Betreiber zu erhöhen."

Bundesinnenminister Thomas de Maizière äußerte sich mit folgenden Worten zu diesem Bericht: "In der jetzigen Lage ist es so, dass die Schlepper entscheiden, wer nach Europa kommt - das muss beendet werden, denn das Geschäftsmodell der Schlepper ist so einfach wie grausam: Flüchtlinge erkaufen sich für viel Geld einen Platz in einem kaum seefähigen Boot." Es gebe in der UN-Flüchtlingskonvention einen Anspruch von Schutzsuchenden gegenüber der Völkergemeinschaft, sagte der Minister. "Aber es gibt darin keinen Anspruch, hinzugehen, wo man will."

In seiner zynischen Erwiderung bedient sich De Maizière der gängigen Bezichtigung der Schlepper, ohne deren wesentliche Geschäftsgrundlage in Gestalt der repressiven europäischen Flüchtlingspolitik beim Namen zu nennen. Wenn der Bundesinnenminister einen Schutzanspruch von Flüchtlingen einräumt, ihnen aber den Anspruch auf einen Ort ihrer Wahl abspricht, meint er Flüchtlingslager etwa in Nordafrika, für die er bereits seit längerem wirbt. Werden solche Lager eingerichtet, ist mit identischen oder ähnlichen Verhältnissen zu rechnen, wie sie der aktuelle Bericht deutscher Diplomaten für Libyen beschreibt.

Die Fraktionschefin der Grünen im EU-Parlament, Ska Keller, warnte eindringlich vor einem Abkommen mit Libyen zur Rücknahme von Migranten. Menschen würden "in eine katastrophale und menschenunwürdige Lage zurückgeschickt". Wenn die Bundesregierung davon Kenntnis habe, daß es in Libyen zu schwersten und anhaltenden Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtlinge komme, müsse sie mit aller Macht dafür eintreten, daß kein neues Abkommen mit diesem Land zustande kommt. [1]

An dieser Stelle hätte man sich ein kritisches Wort von grüner Seite gewünscht, wie es zu den verheerenden Verhältnissen in Libyen gekommen ist. Unter Muammar al-Gaddafi wies das Land die besten Lebensverhältnisse und weitreichendsten Sozialleistungen des gesamten Kontinents auf. Dem Machthaber war es gelungen, die konkurrierenden Interessen der diversen Clans und Stammesverbände so unter einen Hut zu bringen, daß daraus ein funktionsfähiger Nationalstaat resultierte, der seine Ressourcen auch zum Wohle der eigenen Bevölkerung verwendete. Überdies strebte Gaddafi in verschiedenen Ansätzen Zusammenschlüsse afrikanischer Staaten an, um die Abhängigkeit von europäischer und US-amerikanischer Einflußnahme zu beenden.

Da er um die überlegene Waffengewalt und die Interventionsbereitschaft der westlichen Mächte wußte, setzte er zunehmend auf einen kooperativen Kurs: Er erklärte sich zur Vernichtung seiner Bestände an chemischen Kampfstoffen bereit, hielt die Flüchtlinge von Europa fern und strebte engere Wirtschaftsbeziehungen mit einzelnen europäischen Ländern an. Dennoch wurde er 2011 mittels eines Angriffskriegs gestürzt und grausam ermordet, wofür seine oben genannten Bestrebungen in ihrer Gesamtheit entscheidend gewesen sein dürften. Wollte man von einem letzten Stein des Anstoßes sprechen, könnte dies sein Vorhaben gewesen sein, eine Westafrikanische Zentralbank zu gründen und darüber ein unabhängiges Währungssystem zu etablieren. Dies würde zumindest erklären, warum Frankreich, das um seinen Einfluß in den ehemaligen Kolonialländern fürchten mußte, den Libyenkrieg maßgeblich führte.

Wie alle durch westliche Interventionen zerschlagenen Staaten ist auch Libyen ein in diverse Bruchstücke fragmentiertes Gebilde, in dem rivalisierende bewaffnete Milizen um die Vorherrschaft kämpfen. Seit März 2016 versucht eine von der UNO unterstützte Einheitsregierung, das libysche Staatsgebiet unter ihre Kontrolle zu bekommen. In der ostlibyschen Stadt Tobruk ist jedoch nach wie vor eine Gegenregierung aktiv. Die vordem vergleichsweise hochentwickelte Gesellschaft ist in Elend und permanente Unsicherheit zurückgeworfen. Daß Schlepperbanden die Flüchtlinge auf grausamste Weise ausbeuten und umbringen, ist nicht zuletzt eine Folge des erzwungenen Regimewechsels.

Da sich nun die Lage der Flüchtlinge in Libyen weder verschweigen noch leugnen läßt, räumte die Bundeskanzlerin in ihrer wöchentlichen Video-Botschaft ein, Menschen könnten nur dann in das nordafrikanische Land zurückgeschickt werden, "wenn sich die politische Situation in Libyen verbessert hat". Man müsse zwar mit Libyen in der Flüchtlingsfrage zusammenarbeiten, doch gebe es "im Augenblick keine Situation, in der wir so ein Abkommen wie mit der Türkei abschließen können". Dazu müsse sich die politische Lage bessern und die Einheitsregierung die Kontrolle über das ganze Land erlangen, worauf man über Menschenrechte und Standards sprechen müsse. [2]

Wie das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei gezeigt hat, ist man in Berlin und Brüssel hinsichtlich der Partner nicht wählerisch, sofern sie nur die Abschottung garantieren. Aus Perspektive der Kanzlerin fehlt es in Libyen derzeit an einer starken Einheitsregierung, deren letztendliche Beschaffenheit nachrangig ist. Bekanntlich arbeitet die Bundesrepublik auch mit Ägypten eng zusammen, in dem ein Militärregime an der Macht ist. Wenn die Staats- und Regierungschefs der EU daher in wenigen Tagen in Malta auf einem Sondergipfel darüber beraten, wie sich die Zuwanderung aus Libyen und anderen nordafrikanischen Staaten eindämmen läßt, stehen Skrupel nicht auf der Tagesordnung.

Nach dem Willen der EU-Kommission soll Libyen mit 200 Millionen Euro aus dem EU-Afrika-Treuhandfonds und neuen Initiativen rasch stabilisiert werden. Man müsse der libyschen Einheitsregierung helfen, die Lage an der Küste in den Griff zu bekommen. Wie das im einzelnen funktionieren soll, blieb offen. Vorschläge der Regierung Maltas, das gegenwärtig die Ratspräsidentschaft der EU innehat, zielen sogar darauf ab, diese Küste mehr oder weniger abzuriegeln. Ideal wäre demnach, die Rettungsschiffe, die 2016 mehr als 30.000 Migranten im Mittelmeer aufgriffen, schon in libyschen Gewässern operieren zu lassen. Da dies aber wegen der politischen Instabilität in Libyen nicht zu erwarten sei, wäre ein "möglichst dichter Schutzwall" um die Häfen denkbar. Dabei könne die neu geschaffene Europäische Grenz- und Küstenwache die Libyer dabei unterstützen, aufgegriffene Migranten nicht wie bisher nach Italien, sondern zurück nach Libyen zu bringen.

Malta dringt auf schnelles Handeln, da im Frühjahr mit einem starken Anstieg der Überfahrten zu rechnen sei. Mit den nordafrikanischen Staaten müßten dringend Vereinbarungen nach dem Muster des Abkommens mit der Türkei geschlossen werden. Demgegenüber betonte die Kommission jedoch, daß es sich um "völlig unterschiedliche" Situationen handle und deshalb auch unterschiedliche Maßnahmen nötig seien. So will die EU Tunesien, Algerien und Ägypten stärker einbinden, indem diesen Ländern mehr Geld und Unterstützung angeboten wird, sofern sie in der Abschottung gegen Flüchtlinge kooperieren. [3]

Wo das gemeinsame brachiale Vorhaben, Europa vollständig gegen unerwünschte Flüchtlinge abzuschotten, logistischer Feinabstimmung und administrativer Kompetenz bedarf, ist einmal mehr deutsche Führungsqualität gefragt. Deutschland hat nicht nur reichhaltigere finanzielle Mittel als die europäischen Nachbarländer, sondern bekanntlich auch eine dezidierte Erfahrung mit der Lenkung und Lagerhaltung von Menschenmassen, von Schlimmerem ganz zu schweigen. Thomas de Maizière zog denn auch ein dreistufiges Modell aus der Tasche: Bei wenigen ankommenden Flüchtlingen soll es bei der bisherigen Regelung bleiben. Falls Erstaufnahmeländer wie Italien besonders belastet werden, würde ein Mechanismus zur Verteilung von Asylbewerbern auf andere EU-Länder einsetzen. In einem dritten Schritt könnte es demnach bei einem "Massenzustrom" auch zu "Rückführung in sichere Orte außerhalb Europas" kommen. Auf die Frage, ob Libyen seines Erachtens auch zu diesen Orten gehöre, sagte er zuletzt: "Libyen ist besonders kompliziert." [4]


Fußnoten:

[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/libyen-libyen-exekutionen-und-folter-sind-an-der-tagesordnung-1.3354314

[2] https://www.welt.de/newsticker/news1/article161618538/Auswaertiges-Amt-kritisiert-Fluechtlingscamps-in-Libyen-KZ-aehnliche-Verhaeltnisse.html

[3] http://www.sueddeutsche.de/politik/europaeische-union-einfach-abriegeln-1.3348861

[4] http://www.spiegel.de/politik/ausland/libyen-kz-aehnliche-verhaeltnisse-fuer-fluechtlinge-laut-bericht-beklagt-a-1132184.html

30. Januar 2017


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