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REPRESSION/1531: Die Bundesrepublik im Spiegel türkischer Verhältnisse (SB)



Mit der Verhaftung von über einem Dutzend Redaktionsmitgliedern der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet, darunter Chefredakteur Murat Sabuncu, kommen auch große Medien in der Bundesrepublik nicht umhin, Notiz von der anwachsenden Repression in der Türkei zu nehmen. Das Vorgehen der AKP-Regierung gegen die letzte größere Publikation der noch nicht auf Erdogan-Linie liegenden Presse erregt auch deshalb Aufmerksamkeit, weil bereits dem vorherigen Chefredakteur Can Dündar und dem Büroleiter der Zeitung in Ankara, Erdem Gül, der Prozeß mit Androhung langjähriger Haftstrafen gemacht wird. Sie hatten im Mai 2015 über mutmaßliche Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes MIT an den IS berichtet, was ihre Verhaftung und Ermittlungen wegen Spionage, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Geheimnisverrat nach sich zog. Nachdem die Journalisten aufgrund eines Urteils des türkischen Verfassungsgerichts wieder auf freien Fuß gesetzt wurden, kehrte Dündar von einer Auslandsreise nicht mehr in die Türkei zurück.

All das geschah vor dem Putschversuch des 15. Juli 2016. Hätte die türkische Regierung den IS nicht zumindest über lange Strecken für ihre geostrategischen Interessen in Syrien und im Irak sowie bei der Unterdrückung der kurdischen Freiheitsbewegung instrumentalisiert, dann hätten die beiden Journalisten kaum ein offenliegendes Geheimnis "verraten" können. Auch weil sich die Interessen Ankaras mit denen Berlins in Syrien weitgehend decken und die daraus resultierenden Kriegsflüchtlinge keine sichere Zuflucht in der EU finden sollten, geizten die Sprecher der Bundesregierung mit klaren Worten zur Entwicklung in der Türkei. Fernab davon, Erdogan lediglich gewähren zu lassen, wurde hierzulande die politische Verfolgung türkischer und kurdischer Linker intensiviert.

So werden in der Türkei verfolgte Kommunistinnen und Kommunisten in Deutschland mit politischen Strafverfahren nach Paragraph 129 b überzogen. Mit dem vor dem Oberlandesgericht München geführten Prozeß gegen zehn angebliche Mitglieder der TKP/ML (Türkische Kommunistische Partei/ Marxisten-Leninisten) und zahlreichen weiteren Strafverfahren gegen angebliche Mitglieder der kurdischen PKK vollzieht die deutsche Justiz das Staatsschutzinteresse Ankaras. Allen Betroffenen wird die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung vorgeworfen, was heißt, daß sie in der Bundesrepublik keine Straftat begangen haben müssen, um dennoch zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt werden zu können. Dabei werden die Angeklagten, wie zuletzt im Stuttgarter Prozeß gegen den Aktivisten Ali Özel, der nach 129 b zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde, auch noch mit Hochsicherheitsmaßnahmen traktiert [1], die in keinem Verhältnis zu ihren Aktivitäten in der Bundesrepublik stehen. Erschwerend für viele der Betroffenen kommt hinzu, daß sie häufig in der Türkei aus politischen Gründen viele Jahre lang inhaftiert waren und auch Folter erleiden mußten.

In einer gemeinsame Presserklärung mehrerer Bürgerrechtsorganisationen [2] zu den Münchner Kommunistenprozessen wurde gefordert, die nicht gewährleistete Vertraulichkeit der Verteidigerpost herzustellen, um den dadurch möglichen Informationsfluß an die türkischen Staatsschutzorgane zu verhindern. All das erinnert stark an die Zeit vor 35 Jahren, als BRD-Geheimdienste auch während der Militärdiktatur mit den türkischen Partnerorganisationen an der antikommunistischen Front zusammenarbeiteten, was für davon Betroffen Knast, Folter und auch Tod zur Folge haben konnte. So sind internationale politische Strafverfahren auch heute kaum denkbar ohne eine Zusammenarbeit der Repressionsorgane der beteiligten Staaten, und aus Sicht der Bundesregierung könnte man fragen: Warum auch nicht?

Schließlich hat sich durch die immense Verschärfung der politischen Verfolgung in der Türkei seit dem Putschversuch im Juli für die Koalitionsregierung aus Unionsparteien und SPD nichts wesentliches in ihrem Verhältnis zur AKP-Regierung geändert. Seitdem wurden mehr als 180 Presseorgane und Rundfunksender verboten, mehr als 100.000 Menschen wegen angeblicher Mitgliedschaft in der Bewegung des Predigers Fetullah Gülen, der PKK oder linker Organisationen aus dem Staatsdienst entlassen, mindestens 32.000 Menschen verhaftet, von denen einige, wie unlängst von Human Rights Watch (HRW) dokumentiert, systematisch gefoltert werden. Die Abgeordneten der prokurdischen HDP, die im Parlament in Ankara am meisten jene zivilgesellschaftlichen Werte repräsentieren, die bei offiziellen Anlässen in Deutschland wie jüngst bei der Verleihung des Friedenspreises in Frankfurt [3] als zentrale Merkmale des politischen Systems der Bundesrepublik propagiert werden, stehen unter Terrorismusverdacht, werden schikaniert, verhaftet oder mit Meldauflagen an der Ausreise aus dem Land gehindert.

Derweil gewährt die Bundesregierung der Türkei weiterhin Waffenhilfe durch Rüstungslieferungen, und die hochauflösenden Fotos ihrer Tornado-Jets, die vom türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik aus Syrien ausspähen, werden den türkischen Streitkräften ohne wirksamen Schutz gegen deren Verwendung im Kampf gegen kurdische Milizen übergeben. Der politische Wille, die unterstellte Bindung deutscher Außenpolitik an ein Minimum demokratischer und menschenrechtlicher Werte umzusetzen, fehlt allerdings nicht nur aus der Opportunität einer Defensive heraus, die als Weg des geringsten Widerstands erscheint. Die Bundesrepublik ist aktiver militärischer Akteur im Nahen und Mittleren Osten, sie hat konkrete geostrategische Interessen und läßt es in diesem wie in anderen geopolitischen Szenarios auf eine Konfrontation mit Rußland ankommen, die das Potential eines Dritten Weltkrieges in sich birgt.

Von daher führt der Eindruck, Bundeskanzlerin Merkel wisse sich nicht besser zu helfen, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, in die Irre einer Verkennung, die eigentlich schon durch den Vollzug türkischer Staatsschutzinteressen in der Bundesrepublik als solche zu erkennen sein müßte. Bei aller Unübersichtlichkeit des Krieges im Nordirak und in Syrien setzt Berlin auch deshalb auf Ankara, weil die Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu dem türkischen Präsidenten Erdogan wachsenden deutschen Einfluß auf die globalstrategisch so bedeutsame Großregion zwischen Nordafrika, dem Persischen Golf, Rußland und der EU verheißt. Nicht zuletzt soll verhindert werden, daß eine Isolation Ankaras die Türkei in die Arme Rußlands treibt, was für die NATO eine Zerreißprobe bedeutete und die Aussichten auf gute Geschäfte in der ölreichen Region in weite Ferne rückte.

Es ist daher zu erwarten, daß die Schraube der Repression gegen die antikapitalistische und antiimperialistische Linke auch in der Bundesrepublik angezogen wird. Will man der Forderung nach internationaler Solidarität gerecht werden, so ist die legale Grundlage dieses Anliegens bereits jetzt durch den Terrorismusvorwurf gegen die türkische und kurdische Linke in Frage gestellt. Die Bereitschaft deutscher Gerichte, linke Aktivistinnen und Aktivisten nichtdeutscher Herkunft fast auftragsgemäß - wie ein politisches Strafrecht, das den Nachweis individueller konkreter Straftaten für das Erwirken eines Schuldspruches nicht zwingend voraussetzt, nahelegt - zu kriminalisieren, zeigt, daß es mit der in der Türkei offen ausgesetzten Gewaltenteilung auch hierzulande nicht weit her ist. Gründe gesellschaftspolitischer Art, sozialen Widerstand insbesondere dann, wenn er sich nicht mit der Reformulierung kapitalistischer Verhältnisse zufriedengeben will, im Keim zu ersticken, gibt es in Zeiten der sozialen Krise schließlich mehr als genug.


Fußnoten:

[1] https://www.jungewelt.de/2016/10-14/015.php

[2] http://www.grundrechtekomitee.de/node/814

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele1001.html

31. Oktober 2016


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