Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

REPRESSION/1509: Wir sind Deutschland? - Wir sind Lampedusa! (SB)




Sollte das ausnahmsweise einmal eine gute Nachricht sein? "Verantwortlicher der Lampedusa-Tragödie gefasst", titelt Die Welt [1], und entsprechende Schlagzeilen bekommt man auch bei diversen anderen deutschen Medien zu lesen. Ernüchterung folgt auf dem Fuß, denn natürlich handelt es sich bei dem identifizierten Täter nicht um einen Mitarbeiter der Grenzschutzorganisation FRONTEX, einen italienischen Politiker oder gar einen hohen Repräsentanten der EU. Festgenommen hat die italienische Polizei vielmehr einen mutmaßlichen Menschenschmuggler, der jene Überfahrt mit einem verrotteten Schiff mitorganisiert haben soll, bei der am 3. Oktober 336 Flüchtlinge ertranken. Überlebende der Katastrophe vor Lampedusa haben einen 24jährigen Somalier erkannt und zu lynchen versucht. Ihren Berichten zufolge wurden alle weiblichen Passagiere von Mitgliedern der Schmugglerbande vergewaltigt, andere Überlebende berichteten von Folter. Das überfüllte Flüchtlingsboot, dessen Insassen zumeist aus Eritrea stammten, war unweit der Küste der süditalienischen Insel Lampedusa nach einem Brand an Bord nachts gekentert. Unmittelbar nach der Tragödie wurde bereits der 35jährige tunesische Kapitän des Unglücksbootes verhaftet.

So verwerflich und strafwürdig das grausame Unwesen der Schlepperbanden sein mag, bleibt doch festzuhalten, daß deren als Verbrechen ausgewiesene Umtriebe auf dem Nährboden legaler Flüchtlingspolitik, für rechtmäßig erachteter Institutionen auf nationaler wie europäischer Ebene und der Handlungsweise staatlicher wie überstaatlicher Grenzschutzbehörden gedeiht. Gleichgültigkeit, fehlende Hilfsbereitschaft und mangelnde Menschlichkeit gegenüber Flüchtlingsschicksalen zu beklagen, greift da nicht nur zu kurz, sondern verschleiert im Gegenteil die zugrundeliegenden Interessen der Abschottungspolitik und ihre mörderischen Konsequenzen. Ja selbst der scheinheilige Verweis, man müsse die Probleme in den Herkunftsländern lösen, damit sich die Flüchtlinge gar nicht erst auf den Weg machen, verschweigt geflissentlich die ursächliche Beteiligung europäischer Handels- und Kriegspolitik an den elenden Verhältnissen, vor denen die Menschen zu fliehen versuchen.

Wie viele Migranten das Mittelmeer verschlingt, wollte man die Ratio europäischer Flüchtlingspolitik unzulässigerweise den Naturgewalten anlasten, weiß niemand. Da es kaum verläßliche Statistiken gibt, greift man auf dokumentierte Todesfälle zurück und versucht Schlüssel zu entwickeln, die zumindest grobe Schätzungen erlauben. Demnach sind mindestens 8.000, jedoch wahrscheinlicher mindestens 20.000 bis 25.000 Menschen und anderen Quellen zufolge womöglich sogar bis zu 40.000 Flüchtlinge seit 2008 bei dem Versuch ertrunken, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Einem Bericht der Zeitschrift L'Express zufolge, der sich auf Schätzungen der französischen Geheimdienste beruft, ertrinkt im Schnitt jeder vierte Bootsflüchtling. Geht man von etwa 166.000 Flüchtlingen seit 2008 aus, welche die Route über das Mittelmeer wählten, kommt man zu der höchsten derzeit geschätzten Opferzahl. Rechnet man den noch weit größeren Friedhof in der Sahara, die Mortalitätsrate in Flüchtlingslagern und die Toten infolge des behördlichen Umgangs mit Asylsuchenden hinzu, zeichnet sich eine noch sehr viel höhere, jedoch in der Öffentlichkeit so gut wie gar nicht wahrgenommene Opferzahl ab.[2]

Während die Kontroverse um Aufnahmekontingente und die Rechtmäßigkeit von Migrationsbewegungen hierzulande hohe Wellen schlägt, übersieht man zumeist, daß statistischen Daten des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) zufolge etwa 80 Prozent der Flüchtlinge, teils jahrelang, in Nachbarstaaten bleiben, die selbst oftmals arm sind. Seit Anfang 2012 haben allein die Nachbarstaaten Syriens über einer Million Flüchtlingen die Tore geöffnet, wohingegen sich die deutsche Politik rühmt, gut 6.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen und damit in Europa den Löwenanteil bewältigt zu haben, weshalb nun andere an der Reihe seien. Dabei ist die Schutzquote für Flüchtlinge aus Syrien sogar die höchste in Deutschland, weil diese als Faustpfand zur Bezichtigung der Regierung in Damaskus instrumentalisiert werden. Relativ hoch liegt die Anerkennungsquote auch bei iranischen Asylsuchenden, während es um Menschen aus Afghanistan und dem Irak erheblich schlechter bestellt ist. Serbische und mazedonische Flüchtlinge werden seit Herbst 2012 gar mit einem pauschalen Ablehnungs- und Schnellverfahren traktiert.

Schnellverfahren ohne Einzelfallprüfung für die einen, Wartezeiten von über einem Jahr auf die erste Entscheidung für die anderen. Anerkannte Schutzbedürftige zweiter Klasse im Falle von Abschiebungsverboten, wenn man Menschen nur deswegen nicht abschiebt, weil ihnen im Herkunftsland Tod oder Folter drohen, was wiederum in anderen Fällen keineswegs als Hinderungsgrund erachtet wird. Hinzu kommt, daß 2012 rund 23 Prozent der Asylanträge gar nicht inhaltlich geprüft wurden, weil es sich vor allem um "Dublin-Fälle" handelte, in denen man einen anderen EU-Staat für zuständig erklärt. Wer vom Dublin-System profitiert, liegt auf der Hand: Deutschland hat im vergangenen Jahr doppelt so viele Flüchtlinge ins EU-Ausland überstellt, wie umgekehrt nach diesen Maßgaben aufgenommen wurden. Viele Überstellungen gingen nach Italien, dessen Aufnahmebedingungen zu den schlechtesten in Europa gehören. Deutsche Verwaltungsgerichte haben in nicht wenigen Fällen Abschiebungen nach Italien, aber auch nach Ungarn, Malta und Bulgarien gestoppt. Problematisch sind zudem die zahlreichen Überstellungen von Irakflüchtlingen nach Schweden, das im Unterschied zu Deutschland abgelehnte Asylsuchende in den Zentralirak abschiebt.

Lang ist die Liste administrativer Grausamkeiten im Gewand rechtmäßigen behördlichen Handelns. Selbst unbegleitete Kinderflüchtlinge haben schlechte Karten, da sie von Behörden oft älter gemacht werden, als sie selbst angeben. Die Schutzquote afghanischer Minderjähriger lag bei 41 Prozent und betrug bei ihren irakischen Altersgenossen sogar nur 21 Prozent. Die Abschiebung eines Kindes ist grundsätzlich möglich, doch müssen sich Behörden vorher vergewissern, daß es einem Familienmitglied oder einem Kinderheim übergeben wird. Das Bundesamt macht sich diese Regelung auf perfide Weise zunutze und lehnt Minderjährige, die keine Eltern mehr haben oder deren Eltern nicht auffindbar sind, mit Verweis darauf ab, daß sie ja ohnehin nicht abgeschoben werden dürften. Das bedeutet im Ergebnis, daß diese Minderjährigen zwar bleiben, aber statt eines Schutzstatus nur eine Duldung erhalten, was ihnen Integrationsmöglichkeiten verbaut.[3]

Was aber FRONTEX betrifft, das wenige Tage nach der Katastrophe von Lampedusa durch das vom EU-Parlament gebilligte Grenzüberwachungssystem EUROSUR ergänzt worden ist, so wurde diese Agentur schon des öfteren mit dem Vorwurf konfrontiert, sie sei an Menschenrechtsverstößen beteiligt. Human Rights Watch zufolge veranlaßte sie Einsätze in Griechenland, bei denen Migranten unmenschlicher und erniedrigender Behandlung ausgesetzt werden. Ein aktueller Bericht des ARD-Magazins Monitor spricht von Beteiligung an sogenannten Push-back-Aktionen, bei denen Flüchtlinge auf hoher See abgefangen und in Drittstaaten zurückgeschickt werden. Von den Journalisten darauf angesprochen, räumte der Leiter von FRONTEX, Ilkka Laitinen, ein, daß solche Aktionen in einigen wenigen Fällen vorgekommen seien. Das mutet beinahe wie ein kleiner Fortschritt an, da FRONTEX solche Vorwürfe in der Vergangenheit unter Verweis auf ein striktes und eingeschränktes Mandat stets abgestritten hat.[4] Es entbehrt nicht einer schrägen Ironie, daß die Agentur seit zwei Jahren sogar eine Menschenrechtsbeauftrage beschäftigt, die sicher bestätigen kann, daß alles mit rechten Dingen zugeht, wenn man Jagd auf Flüchtlinge macht. Angesichts solcher institutionalisierten Grenzschutz-Menschenliebe ist man fast schon geneigt, nicht als einen ersten Schritt die ersatzlose Abschaffung von FRONTEX zu fordern, sondern im Gegenteil mit dem Schlachtruf "Wir sind Deutschland!" gleich noch ein siegessicheres "Wir sind Lampedusa!" anzustimmen.


Fußnoten:

[1] http://www.welt.de/politik/ausland/article121689080/Verantwortlicher-der-Lampedusa-Tragoedie-gefasst.html

[2] http://vergessene-kriege.blogspot.de/2013/10/opferzahlen-bis-zu-40000-fluchtlinge.html

[3] http://www.proasyl.de/de/themen/zahlen-und-fakten/

[4] http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-10/Frontex-Grenzschutz-Europa/seite-2

8. November 2013