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REPRESSION/1507: Europäische Großmachtgelüste statt Kuratel der USA? (SB)




Der Berliner Politologe Herfried Münkler hat aus seiner Überzeugung nie einen Hehl gemacht, daß er in einem zur Weltmacht avancierten Europa die einzig plausible Antwort auf die Verschiebung globaler Machtzentren sieht. Als Protagonist ambitionierter Herrschaftssicherung in der Ära erodierender hegemonialer Dominanz des Westens hält er den Zeitpunkt für gekommen, die Gunst der Krise zu nutzen. Weder könne es darum gehen, sich von den Vereinigten Staaten abzuwenden, noch sich in einem subalternen Abhängigkeitsverhältnis zu ducken. Es komme nicht darauf an, daß die deutsch-amerikanischen Beziehungen Schaden nehmen, sondern daß die europäisch-amerikanischen Beziehungen auf ein Fundament gestellt werden, das mit dem Begriff der Augenhöhe tatsächlich angemessen abgebildet werden könne, so der Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität.

Daß Gleichrangigkeit solange verwehrt bleibt, wie man sie nicht kraft eigener Stärke erzwingt, ist Münklers Credo in den Turbulenzen der NSA-Spähaffäre:

Denn auch in Zukunft wird man ja nur davon ausgehen können, dass Verträge und Abkommen eingehalten werden, wenn man selber nicht nur grundsätzlich in der Rolle des Bittstellers, des Abhängigen, sich befindet, sondern sagen kann: Na gut, also bitte: Wenn ihr Merkels Handy abhört, dann hören wir Obamas Handy ab.[1]

Das "Vernünftige und Kluge" inmitten des augenblicklichen Dilemmas gestörter Beziehungen sei doch wohl, sich der Erkenntnis zu verschreiben, daß man mindestens 50 Prozent des Problems bei sich selber und der eigenen Unfähigkeit suchen müsse, solche Späh- und Lauschangriffe abzuwehren. Wenngleich man gut daran tue, laufende Verhandlungen mit den USA nicht vorschnell abzubrechen, gelte es für die Europäer doch, eigene Aufklärungs- und Überwachungssysteme zu entwickeln. Auf diese Weise könnte das europäisch-amerikanische Verhältnis wieder "auf Augenhöhe" gebracht werden.

Die Europäer hätten sich den "verheerenden strategischen Fehler" geleistet, kein "gemeinsames Programm zur Entwicklung eigener Fähigkeiten" aufzulegen. Dadurch sei der deutsche Nachrichtendienst auf amerikanische Spy-Software angewiesen und bezahle den Zugriff auf dieses Equipment damit, daß er den Amerikanern ständig die Hintertür offenhalte. Der einzige Ausweg aus dieser selbstverschuldeten Situation fataler Abhängigkeit liege auf der Hand: Es gelte nun, "Unternehmen mit der Entwicklung entsprechender Programme zu beauftragen."

Die hohe Wellen schlagende Empörung über die Spionageaktivitäten der US-Geheimdienste hält Münkler nicht nur für unangemessen, in diesem Tenor artikuliere sich geradezu eine "Sprache der Verdummung". Die Semantik des Persönlichen, die mit Begriffen wie Vertrauen und verlorengegangener Freundschaft operiere, verhindere, daß sich die Menschen eine angemessene Vorstellung machen könnten, wie solche Prozesse verlaufen, und blende damit Ursachenzusammenhänge aus.

Was der Berliner Politikwissenschaftler im Namen der Aufklärung als sachkundigen Erklärungsschlüssel zu verkaufen versucht, ist die nächsthöhere Stufe der Verschleierung. Er will die gängigen Sprachschablonen entsorgen, um der unverhohlen propagierten Doktrin eines hochgerüsteten europäischen Projekts den Zuschlag zu geben. Nicht die Geheimdienste als solche, ihre ungezügelte Spionage und perfektionierte Überwachung der Bevölkerung sind Münkler ein Dorn im Auge, geißelt er doch im Gegenteil den technologischen Rückstand der Europäer auf diesem Gebiet. Er schwört sie darauf ein, im überstaatlichen Elitenprojekt der führenden europäischen Mächte und namentlich Deutschlands ihr Heil zu suchen, indem er die europäisch-amerikanischen Beziehungen um so mehr in der personifizierenden Fiktion gleicher Augenhöhe verschweißt wissen will.

Wer da wem ungehindert in die Augen sehen soll, wenn er von den Europäern und Amerikanern spricht, läßt Münkler wohlweislich offen, setzt er doch kurzerhand die Interessenlagen innerhalb der jeweiligen Bevölkerungen ebenso in eins wie er die gravierenden Widerspruchslagen der europäischen Staaten untereinander ausblendet. Und sollten sich seine Großmachtphantasien einer Europäischen Union, deren Aggressionspotential es mit dem der Vereinigten Staaten aufnehmen kann, jemals erfüllen, zöge damit doch um so mehr das Verhängnis eines transatlatischen Bedrohungsszenarios für den Rest der Welt herauf.

Daß Herfried Münkler mitnichten ein einsamer Rufer in der Wüste einer durch Spähangriffe vergifteten Atmosphäre der NATO-Partner ist, unterstreichen die Beschlüsse des jüngsten EU-Gipfels in Brüssel. Sanktionsmaßnahmen gegen die USA blieben aus, und die Forderung des EU-Parlaments, das Swift-Abkommen zur Übermittlung von Bankdaten an die USA auszusetzen, wurde ebenso abgelehnt wie die Unterbrechung der Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU. Der Gipfel diskutierte nicht einmal die Novellierung der EU-Datenschutzverordnung, über die seit über einem Jahr verhandelt wird.[2]

Um die von den Enthüllungen Edward Snowdens ausgelösten Verwerfungen einzuhegen, einigten sich alle 28 Regierungschefs der EU darauf, Angela Merkel und François Hollande mit der Aufgabe zu betrauen, offene Fragen mit Barack Obama zu klären und einen Bericht für den nächsten EU-Gipfel im Dezember vorzubereiten. Auch soll in der kommenden Woche eine hochrangige Delegation von Regierungs- und Geheimdienstvertretern nach Washington reisen. Daß die britischen, deutschen und französischen Geheimdienste bei den Abhörmaßnahmen eng mit den amerikanischen Diensten zusammenarbeiten, ist ein Faktum, das im Nebel der auf das Abhören von Regierungsmitgliedern fixierten Empörung verschwimmen soll.

Wie die Kette immer neuer Enthüllungen dokumentiert, werden auch in den europäischen Ländern mit der totalen Observation der Kommunikation polizeistaatliche Strukturen ausgebaut. Die Überwachung der Bevölkerung dient der präventiven Kontrolle jeglichen sozialen Widerstands gegen Kürzungen, Kündigungen und Krieg. Die Bundeskanzlerin hatte schon im Vorfeld des Gipfels gefordert, den Europäischen Fiskalpakt, der allen EU-Mitgliedern eine Schuldenbremse aufoktroyiert, auf weitere Politikfelder auszuweiten. Insbesondere Strukturreformen des Arbeitsmarktes, die Effizienz staatlicher Institutionen sowie die Steuersysteme müßten von Brüssel aus gesteuert werden. Was in Irland, Portugal und Griechenland schon aufgrund der Kreditvereinbarungen mit der EU erzwungen wird, soll als direktes Diktat der Sozialpolitik auf den ganzen Kontinent ausgeweitet werden. In der Flüchtlingspolitik lehnten die Gipfelteilnehmer jede Reform der Dublin-II-Vereinbarung ab, laut der ausschließlich das Land, auf dem Flüchtlinge erstmals die EU betreten, für diese zuständig ist. Stattdessen wurde eine Task Force beschlossen, die die Grenzen noch effektiver abriegeln soll.

Münklers, Merkels oder Hollandes Europa ist ein Entwurf, der die erschütterte Legitimität des bürgerlichen Staates in der Gemengelage der Krisen mit einer Offensive des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geheimdienstlichen Ausnahmezustands kontert. Sozialstaat, ein Bestand unverbrüchlicher demokratischer Rechte, Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger, Souveränität der Nationen und dergleichen Schranken und Schutzschilde mehr werden auf dem Altar administrativer Zugriffsgewalt und fortgeschriebener Verwertungssicherheit geopfert.


Fußnoten:

[1] http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/interview/2299865/

[2] http://www.wsws.org/de/articles/2013/10/26/gipf-o26.html

27. Oktober 2013