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REPRESSION/1489: Massenproteste in der Türkei stärken soziale Bewegungen in ganz Europa (SB)




Mindestens drei Millionen Menschen in der Bundesrepublik sind türkischer oder kurdischer Herkunft, dennoch findet so gut wie keine öffentliche Debatte über die Ereignisse in der Türkei statt. Stellungnahmen bekannter Politiker sind Mangelware, und auch die Berichterstattung über die fast eine Woche währenden Kämpfe in diversen türkischen Städten hält sich in überschaubaren Grenzen. Allein Fußball, Flutkatastrophe und Drohnenaffäre halten das Publikum in Atem, obwohl Millionen Bundesbürger familiäre Beziehungen in die Türkei haben, das Land ein wichtiger Handelspartner Deutschlands ist und von der Bundesregierung als geostrategischer Vorposten ihres Hegemonialstrebens betrachtet wird. Solidaritätsdemos mit mehreren Tausend Menschen am Wochenende, an denen sich neben kurdischen und türkischen Aktivistinnen und Aktivisten auch linke Organisationen beteiligten, verpufften ebenso resonanzlos im multimedialen Raum der Republik, wie sich nur wenige Kommentatoren an die Dechiffrierung des heterogenen Charakters der Proteste wagten. Weit über Tausend Verhaftungen und Hunderte zum Teil schwer verletzte Demonstrantinnen und Demonstranten ließen Politik und Medien ebenso kalt wie die zahlreichen Bilder und Videos, die die massive Polizeibrutalität dokumentieren. Wer hier an die engen Verbindungen zwischen deutschen und türkischen Repressionsorganen und Regierungsbehörden denkt, kennt zumindest einen Grund für die beiläufige Behandlung der Ereignisse [1].

Gerade weil es nicht leicht fällt, sich aus einer Massenerhebung, bei der die Nationalfahnen kemalistischer Parteigänger ebenso präsent sind wie die Farben kurdischer Gruppen oder das Konterfei Che Guevaras, einen bündigen Reim zu machen, lohnt es sich, die Entwicklung genauer zu betrachten. So ist der Ausgangspunkt der Proteste, der Widerstand gegen die Einebnung des Gezi-Parks zugunsten des Baus eines Einkaufszentrums, das hinter der rekonstruierten Fassade einer ehemaligen osmanischen Kaserne errichtet werden soll und damit eine ideologisch aufgeladene Signatur trüge, von einer über den Ort hinausgehenden Bedeutung. Vor einer Woche löste die Polizei gewaltsam das Camp der Occupy-Gezi-Aktivistinnen und -Aktivisten auf, die dort seit dem 28. Mai mit friedlichen Mitteln versuchten, das Abholzen der Bäume und die Bauarbeiten zu verhindern. Von diesem Fokus ausgehend entzündeten sich die Proteste auch an dem von Anbeginn an brutalen Vorgehen der Polizei.

In der massenhaften Unterstützung, die die Besetzerinnen und Besetzer des Gezi-Parks aus unterschiedlichsten Kreisen der Bevölkerung erhielten, drückt sich auch der Protest gegen eine neoliberale Stadtpolitik aus, die lokale Treffpunkte und Kulturen durch die Ansiedlung transnationaler Systemgastronomie und Ladenketten verdrängt. Darüber hinaus sind Großprojekte zur Erweiterung der Verkehrsinfrastruktur geplant, die den Charakter Istanbuls als Wirtschaftsmetropole unterstreichen, während seine Bevölkerung durch die Aufwertungsdynamik urbaner Investitionen mit höheren Mieten und Lebenshaltungskosten belastet wird. In Istanbul wie auch in anderen Städten des Landes wird der Protest daher zu einem Gutteil von jener Gentrifizierungslogik befeuert, die auch die Bevölkerungen deutscher Städte herausfordert.

Der Kampf um den Taksim-Platz richtete sich auch gegen das zum 1. Mai dieses Jahres über ihn verhängte absolute Demonstrationsverbot. Diese Maßnahme zielt auf die Linke der Stadt, für die der Taksim ein Ort der Mobilisierung und Manifestation ist. Die Türkei verfügt heute noch über eine breit gefächerte linke Bewegung, deren starker Zusammenhalt im Kampf gegen die Militärdiktatur, gegen den Imperialismus der NATO-Staaten, gegen die Kurden und Aleviten unterdrückende Nationaldoktrin des Kemalismus und gegen das kapitalistische Gesellschaftsmodell der AKP-Regierung begründet liegt. Die in der Bundesrepublik gerne kolportierte Erfolgsgeschichte vom wirtschaftlichen Aufstieg der Türkei hat den Schönheitsfehler, daß sie zwar eine neue Bourgeoisie unter den Parteigängern der AKP hervorgebracht hat, große Teile der Bevölkerung insbesondere auf dem Land jedoch in Armut beläßt. Es handelt sich um ein neoliberales Entwicklungsmodell, das auf Investitionen und Ressourcenimporte aus dem Ausland angewiesen ist und so ein für die Refinanzierung aufgelaufener Kredite gefährliches Leistungsbilanzdefizit von gut 10 Prozent angehäuft hat, das zu 60 Prozent auf dem extrem konjunkturabhängigen Dienstleistungssektor beruht und zur Sicherung der Profitrate einem starken Rationalisierungsdruck ausgesetzt ist, was die Senkung der hohen Arbeitslosenrate von 10 Prozent verhindert. Die Privatisierungspolitik der AKP-Regierung hat der Bevölkerung öffentliche Leistungen zugunsten der Gewinne einer kleinen Gruppe ultrareicher Unternehmer entzogen und die Renten sind im Verhältnis zu den Lebenshaltungskosten stark gesunken.

Zu den sozialen Gründen, gegen die AKP-Regierung zu protestieren, gesellt sich deren aggressive, nicht zuletzt von ideologischen Ambitionen islamistischer und neoosmanischer Art bestimmte Außenpolitik. Daß Erdogan lautstark einen Regimewechsel in Damaskus unterstützt, ruft insbesondere beim säkular orientierten Teil der türkischen Bevölkerung Kritik hervor. Da die Unterwanderung der demokratischen syrischen Opposition auch die Bevölkerung der grenznahen Gebiete der Türkei in Mitleidenschaft zieht, wie zuletzt beim Doppelanschlag von Reyhanli, bei dem mindestens 46 Menschen ums Leben kamen und 140 verletzt wurden, ist die Angst vor einer Kriegsbeteiligung der Türkei allemal begründet. Als einer der aggressivsten Verfechter der NATO-Interventionspolitik gegenüber Syrien hat sich Erdogan in eine exponierte Position gebracht, die die Beziehungen der Türkei zum Iran, zum Irak und zum Libanon belasten. Seinem Versuch, die Regierung Syriens für die beiden Autobomben von Reyhanli verantwortlich zu machen, ist die Hackergruppe Redhack mit der Veröffentlichung geheimgehaltener Polizeidokumente entgegengetreten. Sie legen nahe, daß es sich um einen Provokationsakt handelte, der von syrischen Rebellen mit dem Ziel begangen wurde, der Türkei einen Vorwand zu einem Angriff auf Syrien zu liefern.

Sollte die Türkei bei der anwachsenden Gewalteskalation im Nahen und Mittleren Osten militärisch mit von der Partie sein, dann führte das mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem starken Einbruch der Wirtschaft und einer dementsprechenden Verschärfung der ohnehin angespannten sozialen Lage. So gibt es gleich mehrere Gründe, den militärischen Drohgebärden Erdogans entgegenzutreten. Das gilt insbesondere für die kurdische Bevölkerung der Türkei, bestände doch die Gefahr, daß die türkische Regierung einen Krieg dazu nutzte, die loyal zum PKK-Chef Abdullah Öcalan stehende kurdische Minderheit entgegen der Ankündigung, einen Kurs der Verständigung und des Ausgleichs zu fahren, zu isolieren und anzugreifen.

Schließlich treiben der autoritäre, weder Meinungs- noch Pressefreiheit respektierende Regierungsstil Erdogans und die Versuche der AKP, mit ihrer Machtstellung islamische Sittengesetze gegen säkular eingestellte Bürgerinnen und Bürger des Landes durchzusetzen, viele Menschen auf die Barrikaden. Daß es sich dabei um eine höchst bunte Mischung bisweilen sogar unverträglich zueinander stehender Gruppen und Bewegungen handelt, ist vielleicht die größte Errungenschaft der einwöchigen Protestwelle. Sie hat Formen der Selbstorganisation und Solidarisierung hervorgebracht, die eine widerständige Subjektivität begründen, auf die auch in Zukunft Verlaß sein könnte. Indem die Proteste den antiautoritären Charakter des arabischen Frühlings aufgreifen, zeigen sie auch, daß dessen Instrumentalisierung durch reaktionäre islamistische Parteien keineswegs unwidersprochen bleiben muß. Schließlich erhält der linke und revolutionäre Teil der türkischen und kurdischen Bevölkerung neuen Auftrieb, was hierzulande mit besonders großen Bedenken zur Kenntnis genommen werden dürfte. So weit, daß der Funken nicht hier und dort überspringen könnte, liegen Blockupy EZB und Occupy Gezi nicht auseinander. Es geht um nichts geringeres als die grenzüberschreitende Solidarisierung sozialer Bewegungen gegen das Europa des Kapitals, der Konzerne und des Krieges, was erklärt, wieso unter deutschen Funktionseliten so wenig Begeisterung darüber aufkommen will, daß Millionen Menschen in der Türkei die Stimme erhoben und ihr Gesicht gezeigt haben.

Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1487.html

Bilder vom Aufstand in der Türkei siehe

http://occupygezipics.tumblr.com/

5. Juni 2013