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REPRESSION/1465: Flüchtlingsabwehr als Wohlstandsprogramm (SB)




Die 42,5 Millionen Menschen, die sich laut den jüngsten Zahlen der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR auf der Flucht befinden, sind zum allergrößten Teil Opfer menschengemachter Probleme wie kriegerischer Gewalt, materieller Armut oder sozialer Verelendung. Ressourcenknappheit und Klimawandel sind die Hauptverursacher großer Flüchtlingsbewegungen, wie sich auch zeigt, wenn man die Triebkräfte kriegerische Gewalt und ökonomischer Landnahme genauer untersucht. Da alle Menschen mit ihrem Verbrauch und Konsum an zerstörerischen Prozessen beteiligt sind, wäre es ein Gebot mitmenschlicher Solidarität, die Vertreibung von Menschen zu unterbinden.

So weit die Theorie zu einem Feld der Politik, dessen alltägliche Realität davon geprägt ist, daß Menschen in ihrer Not alleingelassen werden, daß sie in immer extensiveren Grenzräumen, in denen ein paramilitärischer Ausnahmezustand herrscht, abgewehrt werden, indem sie zum Teil für lange Zeit in Lager gesteckt oder per Abschiebung zwangsweise mit der Gefahr konfrontiert werden, die sie zu ihrer Flucht veranlaßt hat. Das Thema Flucht und Vertreibung ist so wenig "sexy", wie es sich die Erfinder dieses Kriteriums des politischen Agendasettings nur vorstellen könnten. Es lädt daher all jene zu genauerer Untersuchung ein, die zumindest ahnen, daß die von Angst und Not überschatteteten Zonen des kognitiven Kapitalismus wertvolle Einblicke in das bieten, was dem Gros der Menschheit in Zukunft bevorsteht.

So wird gerne vergessen, daß die von Mauern und Grenzen unbehinderte Migration Ausdruck jener anarchischen Freiheit ist, die mit dem Bannfluch der Verwerflichkeit zu belegen Sinn und Zweck all des Schwadronierens von einer Freiheit ist, die das Recht des Stärkeren meint, über den Schwächeren verfügen zu können. Zweifellos war die menschheitsgeschichtliche Freiheit der Bewegung stets von Begegnungen höchst unerfreulicher Art, von Raub und Gewalt, bedroht. Sie hat aber auch Möglichkeiten selbstbestimmten Lebens gelassen, die es in der total globalisierten und verwalteten Welt nicht mehr gibt, weil jeder Flecken Erde einer spezifischen Nutzungsbestimmung und damit Administration unterliegt. Die Einteilung der Welt in Nationalstaaten hat demgegenüber eine Zugehörigkeit geschaffen, die wichtiger wird als der Mensch selbst, da sein Überleben mit ihr steht und fällt.

Wer nicht über die Staatsbürgerschaft eines Landes verfügt, in dem es sich leben läßt, oder wer aus politischen Gründen in seinem Land verfolgt wird, der fällt mit der Zuschreibung "Flüchtling" oder "Staatenloser" in den Limbus einer Entrechtung, die ihn in akute Lebensgefahr bringen oder zumindest großer Not aussetzen kann. Allein diese Zugehörigkeit befindet darüber, ob du Mensch oder Nichtmensch bist, ob du vor Gewalt geschützt oder Freiwild eines jeden wirst, der dich töten kann, ohne dafür bestraft zu werden. Die von der UNHCR für letztes Jahr angegebene Zahl von etwa 1500 Flüchtlingen, die im Mittelmeer ertranken oder seit ihrer Überfahrt vermißt werden, ist tief gegriffen. Sie dokumentiert dennoch, daß etwa das Militärbündnis NATO seine Menschenrechtskriege ausschließlich zum eigenen Nutzen führt und ihm die Menschenrechte schiffbrüchiger, durch ihre militärische Aggression in diese desolate Lage geratener Boat People gleichgültig sind.

Die feiste Selbstgefälligkeit, mit der es tönt, daß die Bundesrepublik ja nicht alle Notleidenden der Welt aufnehmen könne, erklärt, wieso deutscher Nationalismus wieder so hoch im Kurs ist. Die Zugehörigkeit zu einer Volksgemeinschaft, die sich geschlossen dagegen verwahrt, von ihrem auf rechtmäßige, weil von Kapitalakkumulation getriebene Weise erlangten Wohlstand abzugeben, erscheint als überlegene Strategie, das eigene zu Lasten des anderen zu sichern. Nicht davon auszugehen, daß die Not etwa der Menschen in Afrika, wo zwei Drittel der heute verfügbaren Ackerfläche bis 2025 verödet sein soll, von der eigenen Vergesellschaftung untrennbar ist, heißt jedoch, den selektiven, über nationale Identität und materiellen Besitz organisierten Ein- und Ausschließungsprozessen von vornherein den Boden zu entziehen.

Mit dem mittellosen, über keine besondere professionelle Fertigkeit und kein materielles Eigentum verfügenden Flüchtling nichts zu tun haben wollen, von den Bedingungen seiner Not jedoch zu profitieren, wie es in der arbeitsteiligen, Produktivitätsgefälle zwischen den Volkswirtschaften für die Kapitalakkumulation ausnutzenden Weltwirtschaft der Fall ist, belegt, daß die Flüchtlingsabwehr der westlichen Metropolengesellschaften und ihre im Weltvergleich besonders überlebenstaugliche Position zwei Seiten der gleichen Münze sind. Das verstärkte Aufkommen nicht mehr nur allgemein ausländer-, sondern spezifisch islamfeindlicher Strömungen in den westlichen Gesellschaften bildet das Mißverhältnis zwischen humanitär ummäntelter Menschenfeindlichkeit und ökonomischem Raubbau paßförmig ab. Die vertikale Ordnung der Globalisierung wird kulturalistisch nivelliert und in die Form einer Konfrontation gefaßt, bei der plötzlich diejenigen, die sich auf der ohnmächtigen Seite moderner Kolonialverhältnisse befunden haben, als Bedrohung erscheinen.

So sehr der Bundesbürger einer europaweit und darüber hinaus entufernden Expansionssphäre bedarf, um seinen ökonomischen Vorteil zu realisieren, so wenig will er an deren Korrespondenz mit dem "Lebensraum" vergangenheitsbewältigter Zeiten erinnert werden. Wenngleich sich deutsche Geschichte ebensowenig wie irgendeine andere wiederholt, heißt das nicht, daß das ihr innewohnende Herrenmenschentum nicht innovative Wege erschließt, wie eh und je auf dem Rücken anderer zu reiten. Daß diese aus solch hoher Warte zwangsläufig als Untermenschen wahrgenommen werden, entspringt keinem Vorurteil, handelt es sich doch um ein denkbar präzises Abbild existenzbestimmender Verhältnisse.

22. Juni 2012