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REPRESSION/1446: "Operation Friedensschock" - Polizei statt Brot für Rios Favelas (SB)



Im Zuge eines der größten Polizei- und Militäreinsätze in der Geschichte der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro schickt sich die Staatsgewalt an, der sogenannten Parallelgesellschaft in den Favelas ein Ende zu machen. Daß in unmittelbarer Nachbarschaft sagenhaften Reichtums und hoch frequentierter touristischer Anziehungspunkte bittere Armut entufert, ist aus Sicht der herrschenden Klasse und des gutsituierten Bürgertums keineswegs ein Grundwiderspruch, den es aus der Welt zu schaffen gilt. Ausmerzen will man vielmehr jene Störfaktoren, die aus den Quartieren des Elends hervorbrechen und den Frieden konzentrierten Kommerzes beeinträchtigen könnten, der mit der Fußballweltmeisterschaft 2014 und den Olympischen Sommerspielen 2016 die Taschen der Profiteure füllen soll. Mit harter Hand signalisiert man den Slumbewohnern, wer über die wirkmächtigsten Waffen wie auch die Legitimation ihrer Anwendung verfügt, die letzten Endes jeden Konflikt zu entscheiden in der Lage sind. Zugleich demonstriert man vor aller Welt, wie unbegründet die Sorge ist, das Gastgeberland Brasilien locke Besucher in eine unwägbare Gemengelage sozialer Auseinandersetzungen. Sport soll schließlich friedlich zelebriert werden, freigehalten von mißlicher Konfrontation mit Hungerleidern, sozialisierten Touristenbörsen oder gar unverschämtem Aufbegehren im Fokus internationalen Medieninteresses.

So zollt man denn den Brasilianern unverhohlen Respekt, die mit der "Operation Friedensschock" in einer Mischung aus Aufstandsbekämpfung und Propagandacoup ganze Favelas im Handstreich besetzen, noch dazu ohne einen einzigen Schuß abzufeuern. Bürgerkrieg, der nicht als solcher wahrgenommen wird - das könnte auch hiesige Sicherheitsstrategen reizen und ihren medialen Kolporteuren gefallen. Vor gut einem Jahr sah das noch ganz anders aus, als der riesige Favela-Komplex "Alemào" im Norden der Stadt mit militärischer Hilfe spektakulär gestürmt wurde. Der Invasion schlug heftiger Widerstand entgegen, worauf mehr als 40 Menschen in den Feuergefechten starben. [1] Inzwischen haben die Sicherheitskräfte dazugelernt, daß sie zwar in den Armenvierteln ohne viel Federlesens zuschlagen können, ohne daß ein Hahn danach kräht, aber tunlichst die Form zu wahren haben, wenn alle Welt zusieht, ob sich Rio nicht mit dem doppelten Sportspektakel grandios überhoben hat. Respekt, heißt es nun bewundernd, wenn die Bilder einer bis an die Zähne bewaffneten Polizeistreitmacht in den Favelas unmißverständlich unterstreichen, wer Herr im Haus ist.

Der Winkelzug, die Besetzung vorab mit Datum und Uhrzeit anzukündigen, sowie die Zufahrten zur Favela schon Tage vor der Operation scharf zu kontrollieren, hat sich bezahlt gemacht. Wer Gründe sah, sich besser aus dem Staub zu machen, suchte rechtzeitig das Weite, so daß niemand zurückblieb, der den anrückenden Invasionskräften Steine in den Weg zu legen gedachte. Die Stadtverwaltung Rio de Janeiros hatte bei Staatspräsidentin Dilma Rousseff militärische Hilfe angefordert, die mit 18 Panzern und 200 Marinesoldaten auch umgehend gewährt wurde. So rückten rund 3.000 Soldaten und Militärpolizisten zu nächtlicher Stunde von Hubschraubern unterstützt in Rocinha, die größte Favela der Stadt, sowie die beiden kleinen Nachbarsiedlungen Vidigal und Chácara do Céu ein, in denen zusammengenommen bis zu 150.000 Menschen auf engstem Raum leben dürften. Am Sonntag fuhren Einsatzkräfte in schwarzen Uniformen und schußsicheren Westen mit Maschinenpistolen im Anschlag auf offenen Pick-Ups durch die engen Gassen. Unterdessen rangierten die Panzer mit enormem Getöse umher, bis sie am Vormittag wieder abzogen. [2]

Angesichts dieser Demonstration polizeilich-militärischer Übermacht wurde schon nach wenigen Stunden Vollzug gemeldet: "Rocinha ist besetzt. Die Lage ist ruhig", teilte René Alonso, der Kommandant der berüchtigten Spezialtruppe Bope mit. "Es kann sein, dass vielleicht noch Dealer dort sind. Aber jetzt sind eben auch der Staat und die Polizei da. Wir müssen zeigen, dass wir bleiben und dass wir die Glaubwürdigkeit unter der Bevölkerung verdienen", erklärte der Sicherheitssekretär des Bundesstaates Rio, Jose Mariano Beltrame, in einem Fernsehinterview am Montag. [3] Natürlich stellt sich die Frage, wohin sich die Drogenbanden, denen der Angriff nach offizieller Lesart galt, zurückgezogen haben. Von den "Amigos dos Amigos" (Freunde der Freunde), die Rocinha zuvor kontrolliert hatten, war nichts mehr zu sehen. Angeblich haben die Rauschgifthändler, die aus anderen Favelas verjagt wurden, im Complexo da Maré, einem Ensemble von 16 Favelas mit insgesamt 130.000 Bewohnern in der Nähe von Rios internationalem Flughafen, Unterschlupf gefunden.

Bereits vor zwei Monaten hatte die Polizei die Favela Mangueira unweit des Macarena-Stadions besetzt, in dem mehrere Spiele der Fußballweltmeisterschaft ausgetragen werden. Die nun eingenommenen Armenquartiere liegen nur wenige Kilometer von den teuersten und bei Touristen beliebten Viertel der Stadt, Leblon und Ipanema, entfernt. Zudem befindet sich Rocinha direkt über einem vielbefahrenen Tunnel, in dem die Autofahrer bei den täglichen Staus oft ausgeraubt wurden. Die Polizeiführung zeigt sich fest entschlossen, weitere Favelas unter ihre Kontrolle bringen. In der brasilianischen Metropole mit ihren mehr als sechs Millionen Einwohnern leben über 1,5 Millionen Menschen in mehr als 1000 Favelas. Die Regierung will nun über 100 Armenviertel kontrollieren, die als besonders gewalttätig gelten. Bis zur Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien sollen die sogenannten "friedensstiftenden Polizeieinheiten" (UPP) in den Favelas von derzeit 19 auf 21 aufgestockt werden. Die Rückeroberung der von der Drogenmafia beherrschten Armutsviertel gehe weiter, kündigte der Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro, Sergio Cabral, einen Feldzug an. Da es sich dabei nicht zuletzt um einen Verdrängungsprozeß handelt, wird es womöglich schon im Complexo da Maré, der als nächstes Angriffsziel ausgewiesen ist, zu heftigen bewaffneten Auseinandersetzungen kommen, die die vermeintlich gewaltlose Besetzung der Favelas konterkariert.

Wenn man bedenkt, daß dieselben Polizeieinheiten, die wegen ihrer brutalen Überfälle, verübten Grausamkeiten und Etablierung repressiver "Schutzmacht" in den Armenvierteln verhaßt sind, nun als Befreier oder gar Friedensstifter auftreten, wird die Propaganda der Behörden und Politiker nur noch von der kritiklos affirmativen Berichterstattung bundesdeutscher Medien in ihrem vernebelnden Charakter übertroffen. So steht zu lesen, die Menschen in Rocinha hofften nun auf Ruhe. "Frieden und soziale Gerechtigkeit", habe auf einem Transparent an einer Mauer gestanden. Für die zuständige Leiterin der Zivilpolizei von Rio de Janeiro, Martha Rocha, sei klar: "Die Bewohner haben ihr Territorium zurückbekommen." [4] Dies in einem Atemzug zu schreiben, ohne zu bemerken, daß dabei die von den Bewohnern der Favela angemahnte soziale Gerechtigkeit sang- und klanglos unter den Tisch fällt, bedarf offenbar einer Mischung aus journalistischer Ignoranz und interessengeleiteter Anbetung mit massivsten Mitteln vorgetragener Sicherheitspolitik: Den dubiosen Erwerbsweisen der Armen und ihren erbitterten Überlebenskämpfen mit Panzern in die Parade zu fahren freut den saturierten Bürgersinn - und das nicht nur in Rio!

Fußnoten:

[1] http://brasilienmagazin.net/panorama/15656/gefaehrlichste-favela-brasiliens-in-hand-von-polizei-und-militaer/

[2] http://www.stern.de/politik/ausland/rio-de-janeiro-polizei-besetzt-favela-mit-schwerem-geraet-1750963.html

[3] http://derstandard.at/1319182834617/Rio-de-Janeiro-Polizei-will-Praesenz-in-Favelas-bis-zur-Fussball-WM-ausbauen

[4] http://www.focus.de/panorama/welt/rio-de-janeiro-kein-widerstand-bei-operation-friedensschock_aid_683975.html

15. November 2011