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REPRESSION/1421: Guantánamo - Labor zur Transformation der Schuldfrage (SB)



Die entrüstete Kontroverse um Guantánamo, neu entfacht durch die jüngsten Veröffentlichungen aus dem Fundus der Enthüllungsplattform WikiLeaks, spielt einem Legalismus in die Hände, der von grundsätzlicherer Tragweite als das berüchtigte Gefangenenlager selbst ist. Gefiltert durch die eingebundenen Medien, welche die Scheidung zwischen zu Recht und zu Unrecht Inhaftierten bis zum Exzeß drehen und wenden, bricht sich eine Willkür im Umgang mit zu "Terroristen" erklärten Gegnern imperialistischer Kriegsführung Bahn, die unanfechtbare Rechtmäßigkeit für sich in Anspruch nimmt. Der Fortbestand Guantánamos leitet seinen Zweck aus dem Postulat ab, zumindest ein Teil seiner Insassen sei so gefährlich und schuldig, daß diese jede Form von menschlicher Behandlung verwirkt hätten. Das Gefangenenlager bedroht als Ort der Entwürdigung, Folter, Zerstörung und Vernichtung jeden realen oder potentiellen Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung im Zuge expandierender kapitalistischer Verwertung mit einer legalen und weithin akzeptierten Entmenschlichung, die gesellschaftliche und nationalstaatliche Widersprüche zugunsten einer kulturalistischen und rassistischen Suprematie zu entsorgen trachtet.

Wen daher an Guantánamo lediglich stört, daß dort bekanntermaßen Hunderte unter falscher Bezichtigung und fadenscheinigen Vorwänden drangsaliert werden, ignoriert geflissentlich die gezielt herbeigeführte Rechtsfreiheit dieser Institution, die der Durchsetzung einer innovativen Rechtsauffassung und im weiteren Sinn einer Denkkontrolle dient, die heute für selbstverständlich erklärt, was gestern für zutiefst inhuman und illegal erachtet wurde. Wenngleich die dort verübten Grausamkeiten lange geheimgehalten wurden, ist ihre sukzessive Aufdeckung doch nicht gleichbedeutend mit dem Anfang vom Ende der Barbarei. Solange sich pseudokritischer Gestus darin erschöpft, die Spreu vom Weizen zu trennen und das Schicksal der Unschuldigen zu beklagen, dient er sich eben jener Transformation der Schuldfrage an, für die Guantánamo geschaffen wurde.

Werden Menschen ergriffen, verschleppt, auf unabsehbare Zeit inhaftiert und mit ausgeklügeltsten Foltermethoden gequält, kann nichts von dem, was sie unter dieser Tortur aussagen, den Charakter eines Geständnisses oder der Zeugenaussage zur Belastung anderer haben. Folglich gibt es in Guantánamo und anderen Geheimgefängnissen absolut nichts, was nach den Maßgaben herkömmlicher Rechtsstaatlichkeit gerichtsrelevant verwertbar wäre. Dies dennoch zu unterstellen, ist kein Webfehler im Verfahren, kein Exzeß und keine Fehleinschätzung, sondern im Gegenteil der Kern eines Systems, Täterschaften zu produzieren.

Wie die jüngst veröffentlichten Dokumente ausweisen, seien lediglich 220 der insgesamt 779 Guantánamo-Insassen als "gefährliche Extremisten" eingestuft worden. Etwa 380 Häftlinge galten demnach als "Fußsoldaten" niedrigeren Ranges, während es sich bei mindestens 150 Häftlingen demnach um unschuldige Afghanen und Pakistaner, darunter Bauern und Fahrer handelte, die teilweise jahrelang aufgrund von Fehlern bei der Feststellung ihrer Identität oder weil sie schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen seien, in Guantánamo festgehalten wurden. [1] Dieses Wissen auf seiten der Administration belegt, daß die Erzwingung fiktiver Geständnisse nur ein Aspekt dieser Drangsalierung ist. Es geht zugleich um die Erforschung und Erprobung von Gefängnissen und Foltermethoden und noch darüber hinaus um die Realisierung des Anspruchs, jeden beliebigen Menschen an diesen Schauplatz absoluter Verfügbarkeit zu verschleppen, um ihn physisch und psychisch bis hin zu seiner vollständigen Vernichtung zu zerstören. Diese Praxis im Innern des Lagers weiterzuführen und nach außen als Drohung aufrechtzuerhalten, dient der Fortbestand Guantánamos.

Das Zetern und Wüten der Obama-Administration gegen Geheimnisverrat und Gefährdung der nationalen Sicherheit im Zuge der Enthüllungen zeugt von ihrer Entschlossenheit, jeden mit Guantánamoisierung zu bedrohen, der durch die Offenlegung dieser Praktiken Widerstand auf den Plan zu rufen bestrebt ist. Sind nicht die Greueltaten das Problem, sondern deren Anprangerung, verfestigt die Umkehrung der Schuld ein System unabweislicher Bezichtigung, das jedes Recht auf Widerstand gegen Angriffskrieg und Okkupation für obsolet erklärt und unter Terrorverdikt stellt.

Die Reaktion der US-Regierung auf die aktuelle Veröffentlichung vormals geheimer Dokumente läßt zugleich die Geschmeidigkeit erkennen, mit der die Not wie auch immer zustande gekommener Enthüllungen in die Tugend im umfassendsten Sinn eingebetteter Journalisten verwandelt wird. Die Führung in Washington stritt die Echtheit des Materials keineswegs ab und räumte ein, daß die sogenannten Detainee Assessment Briefs (DAB) zwischen 2002 und 2009 im Verteidigungsministerium auf Grundlage des damaligen Kenntnisstands erstellt worden seien. Indessen habe die im Januar 2009 gegründete Guantánamo Review Task Force die DABs einer Prüfung unterzogen, wobei in einigen Fällen neue Informationen zu anderen Erkenntnissen geführt hätten. [2] Da die Dokumente der Task Force angeblich nicht in der Hand von WikiLeaks sind, stößt die Version der Obama-Administration die Tür zu einer einvernehmlichen Beschwichtigung weit auf: Erstens belege die Task Force doch den Willen zur Überprüfung Guantánamos, und zweitens dürfe man nicht alles für bare Münze nehmen, was ein veralteter Kenntnisstand zu Papier gebracht habe.

Der Köder ist ausgelegt, und daß die renommierten Medien anbeißen, steht offenbar außer Frage. Sie erfreuen sich einer beständigen Versorgung mit WikiLeaks-Dokumenten und haben sich im Gegenzug zu verantwortlichem journalistischen Handeln verpflichtet, weshalb sie sich einer Vorauswahl befleißigen, um nur ja nicht in den Verdacht des Geheimnisverrats zu geraten. Wohl entrüsten sie sich über Unschuldige, festgehaltene Kinder und Greise, grassierende Krankheiten, seelische Zerrüttung, Selbstmordversuche und Häftlingsrevolten in Guantánamo, wie sie auch fast beiläufig erwähnen, daß keinerlei Hinweise auf die "Verhörpraktiken" vorzufinden seien, aber die kenne man ja schon aus anderen Quellen. Vermißt man da nicht Worte des Eingeständnisses, daß all das und vieles mehr schon seit Jahren bekannt, aber geflissentlich ignoriert oder zumindest nie zum Gegenstand tiefgreifender Kritik gemacht wurde? Spätestens seit der Rückkehr von Murat Kurnaz kann man hierzulande schwerlich von Geheimnissen sprechen, wohl aber von der mangelnden Bereitschaft, mehr als den proklamierten Neustart unter Präsident Obama anzumahnen.

Wie es nun heißt, habe Obama bekanntlich vor rund zwei Jahren die Schließung des Gefangenenlagers angekündigt, dann aber angesichts innenpolitischer Widerstände eine Kehrtwende gemacht und neue Militärprozesse gebilligt. Zwar bestehe er offiziell weiter auf einer Schließung, doch wolle seine Regierung fünf mutmaßliche Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001 in Guantánamo vor Gericht stellen und zudem einen Prozeß gegen den mutmaßlichen Attentäter der USS-Cole vor dem Guantánamo-Militärtribunal anstrengen. So gibt man sich skeptisch und ist doch längst dabei, eine runde Ecke zu machen. Sieht so engagierter Journalismus aus, der sich damit brüstet, als vierte Gewalt im Staat ein unverzichtbares Korrektiv zu garantieren? Etwas länger sollte der Atem schon reichen, als sich im Spektakel von WikiLeaks zu erschöpfen und fleißig Gut und Böse mitzusortieren, auf daß die Botschaft von Guantánamo auch beim letzten störrischen Leser ankommt.

Anmerkungen:

[1] Wikileaks-Enthüllung. Geheimakten legen Willkür in Guantanamo offen (25.04.11)
www.sueddeutsche.de/politik/wikileaks-enthuellung-geheimakten-legen-willkuer-in-guantanamo-offen-1.1088843

[2] US-Militärdokumente. USA sollen Unschuldige und Kinder in Guantánamo festhalten (25.04.11)
www.zeit.de/politik/ausland/2011-04/guantanamo-wikileaks-dokumente

25. April 2011