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REPRESSION/1420: Atomkatastrophe - Zweckdienliche Glorifizierung japanischer Duldsamkeit (SB)



So hätten es die Herren gerne. Eine Bevölkerung, die duldsam im Angesichte der größten Katastrophe still hält, um sich im Ernstfall wie die Schafe zur Schlachtbank führen zu lassen. Eine Work Force, die bereitwillig und für kleine Münze Höchstleistungen erbringt und, wenn sie gerade nicht gebraucht wird, klaglos ihre Entlassung in die Arbeitslosigkeit hinnimmt. Eine Zivilgesellschaft, die sich höchster demokratischer Standards rühmt, um auf jeden sozialen Widerstand gegen Staat und Kapital zu verzichten.

Die Beschwörung eines angeblichen japanischen Nationalcharakters von vorbildlicher Gelassenheit im Angesicht der Atomkatastrophe frönt nicht nur hemmungsloser nationalistischer Verallgemeinerung. Sie erhebt auch zur Tugend, was Herrschern aller Couleur seit jeher vordringliches Interesse ihrer Machtentfaltung ist. Die in der deutschen Presse seit dem 11. März, dem Beginn der Atomkatastrophe von Fukushima, angestimmten Lobgesänge auf die große Diszipliniertheit der japanischen Bevölkerung weist als besondere nationale Mentalität aus, was die meisten Menschen überall in der Welt selbstverständlich tun, wenn sie mit einer akuten Krise konfrontiert sind. Sie rücken zusammen, helfen sich gegenseitig, stellen die eigene Betroffenheit zurück, wenn andere in größerer Not als sie selbst sind.

Mit Mitgefühl und Solidarität vollziehen nicht nur Menschen, sondern auch Tiere die kreatürliche Negation eines Überlebensprimats, mit dessen Verabsolutierung zum zentralen Antrieb eigener Existenzsicherung ein Naturprinzip herrschaftsförmig adaptiert wird. Die damit begründete schwarze Anthropologie des ausschließlich zu Lasten des anderen überlebenden Menschen feiert seit Thomas Hobbes den absoluten Souverän des Staates als unabdingliches Herrschaftsprinzip, ohne daß Aufklärung und Humanismus die Überantwortung des Menschen an ihn fremdbestimmende Kräfte unumkehrbar aufgehoben hätten. Ganz im Gegenteil, mit der Reduzierung der sein Leben bestimmenden Bedingungen auf das Primat der kapitalistischen Vergesellschaftung feiert der repressive Grundkonsens, laut dem man die Menschen wenn schon nicht zu ihrem Glück, dann zumindest zur Lohnarbeit zwingen müsse, Urständ.

Als marktwirtschaftlicher Wettbewerb so sehr zum zentralen Antrieb kapitalistischer Produktivität erhoben wie von der zivilreligiösen Ethik externalisierter Sozialkosten verworfen ist das sozialdarwinistische Element von nur scheinbarer Ambivalenz. Aus herrschaftskritischer Sicht erweist sich alles, was am Verhalten der japanischen Bevölkerung über die selbstverständliche Solidarität hinaus glorifiziert wird, als Versuch ihrer weiteren Unterwerfung unter das Diktat ihrer Verwertbarkeit und Verfügbarkeit. Den Bundesbürgern wird damit mitgeteilt, daß sie gefälligst ihre Bringschuld zum Ertrag gesamtgesellschaftlicher Produktivität entrichten sollen. Gegen Großprojekte der standortoptimierenden Infrastruktur, gegen technologische Innovationen, die den Vorsprung der Bundesrepublik im weltwirtschaftlichen Wettbewerb sichern sollen, zu protestieren wird demgegenüber als egoistischer, das nationale Kollektiv verratender Sonderweg diffamiert.

Die Japaner seien eben keine "Wutbürger", lobt die Konzerpresse mit einer Inbrunst, die wenig Verständnis für die Zwänge und Nöte der Bevölkerung eines hochindustrialisierten Landes, dafür aber um so mehr Interesse an der Sicherung kapitalistischer Klassenherrschaft verrät. Wenn die bei der Bewältigung der Reaktorkatastrophe in Fukushima eingesetzten Arbeiter in unzureichender Schutzkleidung ihr Leben gefährden, wenn sie trotz maximaler Anforderung nicht einmal genügend zu essen und zu trinken bekommen, wenn die Ausweitung der Sperrzone und die Evakuierung der Bevölkerung im Umfeld der Atomruine nicht entschieden vorangetrieben wird, wenn die japanische Regierung und der Atomkonzern TEPCO eine Strategie der Beschwichtigung und Verharmlosung elementarer radioaktiver Gefahr verfolgen, dann sind dies triftige Gründe dafür, nicht nur die Überforderung der Krisenmanager zu attestieren, sondern die menschenfeindliche Konsequenz des herrschenden Verwertungsregimes zu kritisieren.

Die japanische Gesellschaft leistet sich etwa 20 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze [1]. Die angeblichen sozialen Garantien, die in der besonderen Loyalität der Arbeiter und Angestellten gegenüber den sie beschäftigenden Unternehmen bestehen sollen, sind längst aufgekündigt. Heute geht man von bis zu zehn Millionen Erwerbstätigen aus, die nur in prekären Jobs häufig unter Niedriglohnbedingungen überleben können [2]. Die restriktive Kodierung sozialer Not durch ihr verschämtes Verschweigen nimmt tradierte soziale Normen in die Pflicht einer Ausbeutungspraxis, die den versprochenen Ertrag der Unterwerfung unter das Kollektiv nur so lange vorenthalten kann, als mit diesen Normen nicht gebrochen wird.

Mit Erdbeben, Tsunami und Atomkatastrophe wird die soziale Krise durch Notstandsmaßnahmen verschärft, die die Emanzipation von einer Vergesellschaftung, die Sozialregulative fortschreibt, die ihre Wurzeln in der feudalistischen Ständegesellschaft der bis Mitte des 19. Jahrhunderts andauernden Vormoderne haben, um so dringlicher macht. Das Verstrahlungsrisiko nimmt von Tag zu Tag zu, doch es gibt nicht einmal eine öffentliche Debatte darüber, wie man der Gefährdung von Millionen Menschen vorbeugen will. Das dröhnende Schweigen, das die seit drei Wochen ohne Aussicht auf ein nahes Ende andauernde Atomkatastrophe hinsichtlich der drohenden Folgen für Millionen Menschen begleitet, ist nicht nur der Vermeidung einer Massenpanik geschuldet. Es soll auch verhindern, daß die sich abzeichnende Verallgemeinerung der sozialen Krise ins Blickfeld der Bevölkerung gerät.

So hat die Eisenbahnergewerkschaft Doro-Chiba einen Hilferuf an die ganze Welt gerichtet, in dem sie nicht nur das unzureichende Krisenmanagement der Regierung beklagt, sondern vor Massenentlassungen in Folge des Tsunamis und der Reaktorkatastrophe warnt [3]. Die Zerstörung der Zukunft japanischer Landwirte und Fischer sowie der vom Tourismus lebenden Menschen scheint ohnehin besiegelt zu sein. Es ist zudem sehr fraglich, ob die exportorientierten Industrien, auf denen der spezifische Charakter der Wertschöpfung dieser Volkswirtschaft beruht, aufgrund der Strahlenbelastung ihrer Produkte nicht auf viele Jahre hinaus am Boden liegen wird. Der seit 20 Jahren andauernde wirtschaftliche Niedergangs Japans dürfte aufgrund der immensen Kosten, die durch die großflächigen Zerstörungen des Erdbebens und Tsunamis anfallen, wie durch die unabsehbaren Folgen der Atomkatastrophe beschleunigt vonstatten gehen.

Eine Bevölkerung, die sich gehorsam in ihr Schicksal fügt, sollte es in Deutschland nach dem Ende der NS-Herrschaft niemals mehr geben. Die beißende Häme, mit der einige JournalistInnen und PolitikerInnen den wieder erwachenden Widerstand nicht nur gegen Atomenergie, sondern auch die ihre angebliche Unverzichtbarkeit bedingende Logik des Kapitals überziehen, verrät, daß die Akteure und Agenturen herrschender Interessen in die Defensive zu geraten drohen. Hier gilt es nachzusetzen mit einer Streitbarkeit, die die Dringlichkeit einer Notlage vorwegnimmt, der die japanische Bevölkerung unter der viel ungünstigeren Voraussetzung drohender Notstandsrepression ausgesetzt ist. Will man verhindern, daß der herrschaftliche Konsens vom Zwangscharakter des Menschen unumkehrbar Gültigkeit erhält, dann ist der Beweis im Angesicht einer ultimativen Zwangslage wie der sich in Japan entfaltenden sozialen Katastrophe auf besonders überzeugende Weise anzutreten.

Fußnote:

[1] http://www.nytimes.com/2010/04/22/world/asia/22poverty.html

[2] http://www.dailyfinance.com/story/careers/japans-economic-stagnation-is-creating-a-nation-of-lost-youths/19580780/

[3] http://www.doro-chiba.org/english/dc_en_11/dc_en_3_25.htm

31. März 2011