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HEGEMONIE/1838: Grün gewaschen ... (SB)



Es liegt an dir, der Einberufung nicht zu folgen,
Ich möchte nicht sterben!
Es liegt an dir, der Einberufung nicht zu folgen,
Ich möchte nicht töten!
Denn der, der sterben wird,
Ist der der töten wird.
Vielleicht möchte ich die Weizenfelder sehen,
über Kiew und herunter zum Meer.
All die jungen Menschen in allen Zeiten
marschierten begeistert los um zu sterben ...

The Clash - The Call Up (1980) [1]

Gut einen Monat nach Beginn des russischen Angriffes auf die Ukraine hat sich die Sprachregelung, dass es sich um einen Krieg "Putins" handle, weitgehend durchgesetzt. Die Personifizierung der Aggression eines Staates ist auf dem Fieberthermometer internationaler Konflikte im Bereich eines akuten Handlungsnotstandes angesiedelt. Dass die NATO sich in diesem Fall zurückhält, um statt dessen die Ukraine zum Widerstand aufzurufen und aufzurüsten, muss nicht heißen, dass das Militärbündnis auf Dauer zuschauen wird. Aus den in seinen Hauptstädten und Medien debattierten Eskalationsszenarios geht hervor, dass sie Partei für den angegriffenen Staat nimmt und bei gegebenem Anlass auch aktiv ins Geschehen eingreifen würde. Allein die atomare Bewaffnung Russlands macht die Konsequenzen einer solchen Eskalation so unkalkulierbar, dass die Büchse der Pandora erst einmal verschlossen bleibt und die Ukraine zu Lasten ihrer Bevölkerung einen Stellvertreterkrieg führen muss.

Um so schärfer wird auf dem Feld der polemischen Überzeichnung des Gegners geschossen. Von der Pathologisierung des russischen Präsidenten und herabwürdigenden Bezeichnungen aller Art ist es nur ein kleiner Schritt, um mit dem Hitler-Vergleich das Maximum rhetorischer Steigerungslogik zu erreichen. Auf dem Feld geschichtspolitischer Relativierungen die Exkulpation deutscher Kriegsgräuel zu betreiben ist das eine, bei einem Kriegseintritt der NATO und Bundesrepublik zugleich den deutschen Diktator und seinen russischen Konterpart im Kampf bezwingen zu können das ganz andere. Zwei mal im letzten Jahrhundert ist der Griff nach der eurasischen Landmasse gescheitert, doch das Ende der Geschichte wurde vorzeitig ausgerufen. Wie schon nach dem Jugoslawienkrieg, als Bundeskanzler Gerhard Schröder bei einer Rekrutenvereidigung im Hof des Berliner Bendlerblocks am 20. Juli 1999 die Losung ausgab, nun gelte es, "Verantwortung für die Menschenrechte zu übernehmen - auch und gerade dort, wo deutsche Armeen in der Vergangenheit Terror und Verbrechen über die Völker gebracht haben" [2], produziert die Negativfolie des deutschen Faschismus einmal mehr das Gute einwandfreier Kriegsvorwände. Die bombenfeste Haltbarkeit einer Moral, die 27 Millionen auf der Seite der Sowjetunion in Folge des deutschen Eroberungskrieges gestorbene Menschen zum Anlass nimmt, mehr Waffen zu produzieren und mehr Krieg zu führen, findet ihren aktuellen Niederschlag in der Mobilisierung der deutschen Bevölkerung für die Verteidigung einer Ukraine, die jedes Recht auf Selbstverteidigung hat, was sie nicht davon abhalten muss, dem Staat des Aggressors in mancherlei Hinsicht ähnlicher zu werden, als es der Glaubwürdigkeit liberaler Freiheitsrhetorik gut täte.


Friedensfahne am Stand der DFG-VK in Heide - Foto: © 2022 by Schattenblick

Gegen Militarismus und Krieg ...
Foto: © 2022 by Schattenblick


Im Aufwind der "wertegeleiteten Außenpolitik"

23 Jahre nach dem Angriff der NATO auf Jugoslawien greift Außenministerin Annalena Baerbock nicht minder tief als ihr Parteigenosse und Vorgänger im Außenamt, Joseph Fischer, der 1999 im Kosovo ein zweites Auschwitz verhindern wollte, in den Fundus bellizistischer Moral. Bei der Auftaktveranstaltung zur Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie am 18. März kündigte sie an: "Aus unserer Geschichte, aus der deutschen Schuld für Krieg und Völkermord erwächst für uns, erwächst für mich in der Tat eine besondere Verantwortung: Und zwar die Verpflichtung, jenen zur Seite zu stehen, deren Leben, deren Freiheit und deren Rechte bedroht sind." [3]

Dafür gäbe es in dieser Welt zweifellos auch unter zivilen Bedingungen mehr als genug Gelegenheit, etwa durch tätiges Eintreten für eine Form sozialer Gerechtigkeit, die die ökonomischen Gewaltverhältnisse zwischen Staaten weltweit einebnete. So lange dies nicht der Fall ist, werden diese für Millionen Menschen über Leben oder Sterben entscheidenden Unterschiede weiter vertieft - ohne das Erzeugen von Mangel und Not kann kapitalistische Verwertungslogik nicht funktionieren. Wer alles hat und nicht Gefahr läuft, dass ihm alles genommen wird, begibt sich nicht unter die Knute des Lohndiktats, fällt als produktives Mitglied der Arbeitsgesellschaft aus, unterwirft sich keiner staatlichen Autorität.

Um Hunger und Armut nicht als Problem eigener Beteiligung an der Zementierung sozialer Ungleichheit erkennen zu lassen, weisen sicherheitspolitische Perspektiven den Weg zu Maßnahmen, die nach dem Ausschöpfen rechtlicher und diplomatischer Zwangsmittel stets zum Horizont militärischer Gewaltanwendung führen. Das hehre Anliegen, die Schwachen, Ausgebeuteten, Erniedrigten und Getretenen zu verteidigen, muss in seiner Selbstlosigkeit Religionsstiftern wie Jesus überlassen bleiben. Ohne die Erwartung eigenen Gewinns tritt kein staatlicher Akteur in den Ring globaler Gewaltregulation, so er nicht als Opfer eines Aggressors zur Verteidigung genötigt wird. Im Fall einer Sicherheitsdoktrin, die sich anschickt, in asymmetrische Konflikte auf der Seite der Unterlegenen zu intervenieren, weist die Rechnung des Bezwingens eines Feindes der Wertegemeinschaft stets einen nationalen Ertrag aus, der die Frage aufwirft, warum zum Kalkül des Krieges nicht von vornherein Klartext gesprochen wird.

Genau dieses Kalkül soll mit dem Verweis auf eine wertegeleitete Außenpolitik und die daraus möglicherweise resultierende militärische Gewaltanwendung dementiert werden. Deutschland führt Krieg nur aus dem vermeintlich besten aller Gründe, dem moralischen Anspruch, Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen auch und gerade mit Waffen, denn den notorischen Bösewichten dieser Welt ist nicht anders beizukommen. Fernab der Clausewitzschen Regel, Krieg sei "eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln", werden die Gründe zu militärischer Gewaltanwendung der Unantastbarkeit normativer Setzungen überantwortet. Die Gewissheit, auf der Seite der Guten zu stehen, bietet maximale Handlungsfreiheit beim Einsatz kriegerischer Gewalt, so dass die jeweilige militärische Bemittelung darüber befinden kann, wer seinem moralischen Imperativ Geltung verschafft.

Diesen mit einem Zitat des verstorbenen südafrikanischen Bischofs und Friedensaktivisten Desmond Tutu zu unterstreichen lässt allerdings Risse an der Fassade ethisch legitimierter Mobilmachung erkennen. "If you are neutral in situations of injustice, you have chosen the side of the oppressor" [4] - wo Tutu an seiner kapitalismuskritischen Gesinnung ebenso wenig Zweifel ließ wie an seiner gegen Kolonialismus und Rassismus gerichteten Haltung, da übt sich auch diese Bundesregierung überall dort, wo kein strategischer Profit zu erwirtschaften ist, in zweckdienlichem Opportunismus.

So wird der Freiheitskampf der KurdInnen kriminalisiert, türkische KommunistInnen werden in Deutschland zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Während türkische Bomben auf das Autonomiegebiet der nordsyrischen KurdInnen fallen, während tausende politische Gefangene in türkischen Knästen schmoren und kritische JournalistInnen um ihre Freiheit und ihr Leben bangen müssen, wird der türkische Präsident Erdogan nicht minder als befreundeter Autokrat hofiert, als es bei den Potentaten in Ägypten, wo die politische Opposition brutal unterdrückt wird, oder Saudi-Arabien, das einen vernichtenden Krieg im Jemen führt, der Fall ist, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Unter einer rot-grünen Bundesregierung 2001 in den Afghanistankrieg eingetreten, nach fast 20 Jahren wieder abgezogen, hinterlassen die NATO-Staaten ein Land in Trümmern, dessen Bevölkerung wieder unter dem Regime der Taliban leidet, dazu aber auch noch einer der schwersten Hungersnöte der letzten Jahrzehnte ausgesetzt ist. Das Land benötigt rund vier Milliarden Euro an humanitärer Soforthilfe, davon ist bislang nur der kleinere Teil zugesagt. Die Bundesrepublik hat 200 Millionen Euro versprochen, was bei 23 Millionen Hungernden ein Tropfen auf den heißen Stein ist, während die US-Regierung mehr als sechs Milliarden Euro des Zentralbankvermögens Afghanistans beschlagnahmt hat. Großzügigerweise soll davon die Hälfte freigesetzt werden für humanitäre Zwecke, während die andere Hälfte zur Entschädigung von Terroropfern weiterhin in US-Gewahrsam bleibt.

Die Hunderte von Milliarden, die in die Aufrüstung der NATO-Staaten fließen, die mehr als 17 Milliarden Euro, die allein für die Bundeswehr in Afghanistan ausgegeben wurden, beziffern das monetäre Verhältnis von Gewalt- und Lebensmitteln so deutlich, dass lieber nicht darüber geredet wird. Was das Versprechen betrifft, sich um die zurückgelassenen HelferInnen der Bundeswehr zu kümmern, so wurden diese zum großen Teil alleingelassen und müssen um ihr Leben fürchten. Während bereitwillig Flüchtende aus der Ukraine aufgenommen werden, zeigt sich auch diese Bundesregierung zugeknöpft, wenn es um das Leben derjenigen geht, die den Versprechungen der Invasoren auf ein besseres Afghanistan geglaubt haben [4]. Nicht jeder notleidende Mensch ist gleichermaßen willkommen, auch und gerade bei Flüchtenden werden Unterschiede ethnischer Herkunft gemacht. Eine wertegeleitete Außenpolitik verurteilt selbstverständlich jeglichen Rassismus, solange er nicht die eigene Praxis betrifft.

Es ist mithin komplizierter als in der schwarz und weiß tapezierten Welt ideologischer Polarisierung, Freund und Feind so sauber zu sortieren, dass die Rechnung auch in anderen Bündniskonstellationen aufgeht. Die Fußangeln, die AußenpolitikerInnen zu Fall bringen können, wenn sie das Schild der Werte nicht nur als Machtmittel vor sich hertragen, sondern deren widerspruchsfreie Anwendung durch imperialistische Staatsapparate tatsächlich für möglich halten, sind so zahlreich, dass letzteres eigentlich nur in der Theorie stattfindet. Vor Werten in der Außenpolitik gewarnt hat nicht zuletzt der Realpolitiker Egon Bahr, der sich als Architekt der höchst erfolgreichen Osteuropapolitik der alten BRD stets im Klaren darüber war, wie schnell er damit in Teufels Küche geraten wäre. Desmond Tutu als moralische Lichtgestalt zur Legitimation einer wertegeleiteten Außenpolitik zu nutzen, könnte denn auch analog zum Vorwurf der cultural appropriation als eine Form ideologischer Aneignung bezeichnet werden.

Ohne programmatische Ambiguität, die der Instrumentalisierung insbesondere an und für sich unteilbarer Menschenrechte Tür und Tor öffnet, sind die Abgründe zwischen Wertefundierung und Interessenpolitik imperialistischer Staatlichkeit nicht zu brücken. Deshalb besteht für Baerbock der Kern einer wertegeleiteten Außenpolitik gerade darin, "gleichzeitig Werte und Interessen - auch wirtschaftliche Interessen - zu verteidigen."

Was vor der Ära postfaktischer Realitäten als Quadratur des Kreises bezeichnet worden wäre, könnte als späte Frucht des von dem langjährigen sicherheitspolitischen Chefstrategen der EU Robert Cooper propagierten "neuen liberalen Imperialismus" verstanden werden. Um offenliegende Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit EU-europäischer Hegemonialpolitik mit einer "rechtebasierten Weltordnung" in Übereinstimmung zu bringen, empfahl er, "sich an die Idee zu gewöhnen, dass Doppelmoral zum Alltag gehört." Begründet wurde die Einladung zur produktiven Anwendung doppelter Standards mit der Notwendigkeit, beim Umgang mit "altmodischeren Systemen außerhalb des postmodernen Kontinents Europa" auf die "die raueren Methoden einer früheren Ära zurückzugreifen: Gewalt, Präventivschläge, Betrug und was immer notwendig wird, um mit denen, die noch immer im 19. Jahrhundert leben, zurecht zu kommen. Innerhalb der postmodernen Welt halten sich alle beteiligten Akteure an das Gesetz, doch wenn man den Operationsradius in den Dschungel verlegt, dann gelten auch die Gesetze des Dschungels." [5]

Das ist nur ein Beispiel für postmoderne Lesarten kolonialistischer und rassistischer Suprematie, mit denen der in Anspruch genommene Werteuniversalismus legalistisch flexibilisiert und als zivilisatorische Überlegenheit ideologisch überdeterminiert wird. "Freiheit und Demokratie" sind die zentrale Norm eines weißen Moralismus, dessen Bewaffnung in diversen Kriegen der NATO-Staaten oder ad hoc gebildeter Allianzen wie der "Coalition of the willing" im Irakkrieg blutigste Ergebnisse gezeitigt hat. Dementsprechend unschwer ist die von der deutschen Außenministerin beschworene "Sehnsucht nach Sicherheit" als Motiv zur militärischen Sicherung deutschen Hegemonialstrebens und Wirtschaftswachstums zu dechiffrieren. Sich nicht von der Methodik beirren zu lassen, dass verschiedene Faktoren der Soft und Hard Power miteinander vermengt und moralisch überhöht werden, empfiehlt sich insbesondere für die Reste einer kritischen Öffentlichkeit, die grundsätzliche Einwände gegen die Ausweitung imperialistischer Außen- und Kriegspolitik hat.


Von US-Kampfflugzeugen zerstörte Fahrzeuge aus Kuwait abziehender irakischer Truppen und Zivilisten - Foto: Capt. R.J. Worsley, Public domain, via Wikimedia Commons

Imperialer Krieg 1 - auf der Flucht vernichtet - "Highway of Death" im Irak 1991
Foto: Capt. R.J. Worsley, Public domain, via Wikimedia Commons


Bruchzonen imperialer Konkurrenz

Wer also sind die handelnden Subjekte in diesem Krieg, in dem die Wertegemeinschaft NATO zugleich außenstehende Beobachterin als auch in die treibenden Faktoren des Geschehens zutiefst verstrickte Akteurin ist? Jedenfalls nicht allein die namentlich genannten Kontrahenten Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj, die in Politik und Medien als personifizierte Konfliktparteien fungieren. Auf beiden Seiten sind Bevölkerungen aktiv beteiligt respektive passiv betroffen, deren Vielfalt, in den jeweiligen ideologischen Staatsapparaten kondensiert, am ehesten Aufschluss über die diesen Krieg bestimmenden Gewaltverhältnisse geben. Ihr Interesse, sich auf einer Seite zu positionieren und womöglich dafür das Leben zu geben, muss ernstgenommen werden. Für die individuelle Teilhaberschaft an Staatsprojekten gibt es Gründe, die nicht einfach diktiert werden können, darauf gründen auch Praktiken der Unterwerfung, die bei allem Zwang meist nicht jeden Rest subjektiver Widerständigkeit eliminieren können.

Nach Auflösung der Sowjetunion 1991 wurden die Gesellschaften Russlands und der Ukraine radikalen marktwirtschaftlichen Reformen unterzogen, aus denen die Klasse der neuen Oligarchen als Ausdruck einer ursprünglichen Akkumulation hervorging, mit der in privatwirtschaftlichen Wert gesetzt wurde, was zuvor als staatskapitalistisches Vermögen zumindest nominell dem Wohle der ganzen Bevölkerung gewidmet war. Der Abbau der meisten sozialen Sicherungssysteme wie die Zerstörung insbesondere auf dem Land etablierter Subsistenzstrukturen führte im Ergebnis privater Aneignung dazu, dass die Menschen durch Mangel und Not auf kostengünstige Weise für Lohnarbeit verfügbar gemacht wurden.

Dieser Prozess wäre ohne die Einflussnahme westlicher Kapitalakteure und die Durchsetzung der allein übrig gebliebenen Marktwirtschaftsdoktrin weniger schnell und brutal erfolgt, doch schien dieser Zerstörungsprozess auch ohne die Erschließung eines gigantischen Territoriums für das stets nach Anlagemöglichkeiten suchende Investivkapital unausweichlich gewesen zu sein. Der implodierende Sozialismus hatte ein Vakuum hinterlassen, in dem sich sozialdarwinistische Energien frei entfalten konnten und das in erster Linie nationalistische und staatsautoritäre Zukunftsentwürfe begünstigte, nicht zuletzt weil die Sicherung sozialökonomischer Mindeststandards den schnellen Anschluss an weltwirtschaftliche Handelsverhältnisse erforderlich machte.

Das Einschwören der Bevölkerungen auf einen strikt antikommunistischen Kurs, der nicht nur die Stalin-Ära, sondern auch den revolutionären Aufbruch 1917 als historischen Fehler verwarf, ließ wenig Raum für die Formierung einer Linken, die dem Vermächtnis der Sowjetunion neue emanzipatorische Potentiale hätte abringen können. Während die liberale Demokratie aufgrund der verheerenden sozialen Folgen der mit ihr identifizierten ökonomischen Transformation schnell an Ansehen verlor, boten die SachwalterInnen nationalchauvinistischer Ideologien Lösungen an, die das Verhältnis Russlands zu einer zusehends auf EU und USA orientierten Ukraine insbesondere nach dem Machtwechsel auf dem Euromaidan 2014 und dem Sezessionskrieg gegen die abtrünnigen Gebiete Donezk und Lugansk negativ verschärfte.

Spricht der russische Präsident bei der Ukraine von einer Art "Anti-Russland", dann legt er damit nicht nur Verrat an russischer Hegemonie nahe, sondern spricht auch die Herausforderung an, die aus einer der Integration in die Einflusssphäre der EU geschuldeten Modernisierung des Landes für die Russische Föderation entstehen könnte. Nicht nur das Vordringen der NATO an Russlands Grenzen, auch die liberale Transformation der Ukraine unter dem Einfluss westlicher Kapitalinvestitionen hätte der russischen Bevölkerung gesellschaftliche Optionen vor Augen geführt, die das soziale Aufbegehren im Land verstärken könnte. So wurde der Raubzug der 1990er Jahre von dem durch den damaligen Präsidenten Boris Jelzin handverlesenen Nachfolger Wladimir Putin zwar beendet, aber nicht aufgehoben. Sein Arrangement mit den Transformationsgewinnern, das diesen zum Preis politischer Enthaltsamkeit Nichteinmischung in ihre Geschäfte versprach, drängte die schlimmsten soziale Auswüchse des entfesselten Neoliberalismus zurück. Doch die aus der Rohstoffrente abgezweigten sozialen Zugeständnisse konnten die herrschenden Klassenwidersprüche nicht ohne Einschränkung demokratischer wie ökonomischer Entwicklungsmöglichkeiten befrieden.

Die Festlegung auf eine agrarische, fossile und mineralische Ressourcen extrahierende Volkswirtschaft, als dessen industriell am meisten entwickelter Sektor die Rüstungsindustrie herausstach, hatte eine gesellschaftliche Blockierung zur Folge, die als potentielles Einfallstor für die ExponentInnen einer Modernisierung nach westlichem Vorbild die anwachsende Unterdrückung zivilgesellschaftlicher Initiativen und linksoppositioneller Bewegungen erforderte. Was von diversen AutorInnen als bonapartistische Regime ausgewiesen wird [6], ist leichter angreifbar als die liberalen Gesellschaften der EU. Diese können in höherem Ausmaß gesellschaftliche Kohärenz erzeugen, weil sich ihre Funktionseliten besser darauf verstehen, die Klassenantagonismen und Gewaltverhältnisse kulturindustriell zu moderieren, durch Subjektivierungsprozesse zu individualisieren und durch eine extraktivistische Wohlstandsproduktion zu befrieden.

Nachdem 1991 über 80 Prozent der Bevölkerung die Unabhängigkeit der Ukraine befürwortet haben, wurde dieses auf den Bruchzonen imperialer Interessen liegende Land von drei Seiten, der EU und den USA westlicherseits, Russland östlicherseits und den Krisengebieten im Kaukasus im Süden, erheblichem geostrategischen Druck ausgesetzt. Durch die stark anwachsende staatliche Verschuldung insbesondere nach der Finanzkrise 2008 geriet die Ukraine unter das Diktat der Internationalen Finanzinstitutionen wie westlicher Kreditoren, die die Auspressung billiger Arbeitskraft und die Privatisierung insbesondere der Agrarwirtschaft mit der rabiaten Durchsetzungskraft vollzogen, die für das neu zu erobernde Territorium der osteuropäischen Transformationsstaaten üblich war. Ohne die Rückendeckung äußerer Akteure wäre die Herrschaft der ukrainischen Oligarchen, die die Politik des Landes bis heute maßgeblich bestimmen, vor allem dann nicht durchsetzbar gewesen, wenn sich eine starke soziale Opposition herausgebildet hätte.

Dies zu verhindern war nicht nur Aufgabe der rechtsradikalen Fußtruppen der großen Kapitalfraktionen in der Ukraine. Ein insbesondere nach 2014 um sich greifender Nationalchauvinismus sorgte für die erfolgreiche Anwendung der Strategie des Teilens und Herrschens. Das gilt für beide Konfliktparteien, so dass der jeweils gegen den anderen gerichtete Vorwurf des Nazismus ebenso sehr ein Mittel zum Zweck der Vertiefung ethnischer und nationaler Feindseligkeit ist, als er bei bestimmten Akteuren auch inhaltlich zutrifft. Vor allem jedoch steht die sich antifaschistisch gebende Bezichtigung, es auf der anderen Seite mit Nazis zu tun zu haben, nicht selbstverständlicherweise dafür, ein emanzipatorisches oder gar sozialrevolutionäres Anliegen zu verfolgen. Klassenfragen werden bestenfalls unter dem Begriff der Korruption verhandelt, und wo linksradikale Oppositionelle den Kopf heben, werden sie auf beiden Seiten der Front als Vaterlandsverräter stigmatisiert und kriminalisiert. [7]

Auch in der Bundesrepublik nimmt die staatliche Repression zu, doch noch werden antagonistische Bewegungen eher ausgegrenzt und stigmatisiert, als mit langjährigen Haftstrafen belegt. Das gibt es, aber nicht auf Massenbasis, wiewohl eine derartige Repressionspraxis stets am Horizont des staatlichen Gewaltmonopols droht. Die gewaltsame Unterdrückung der sozialen Opposition und weitreichende Einschränkung der Pressefreiheit, wie derzeit in Russland praktiziert, tragen einem hohen Widerspruchspotential Rechnung, das nicht zur Geltung gelangen soll. In der Ukraine wiederum werden linke Parteien verboten, Roma verfolgt, nichtweiße Menschen diskriminiert und eine regionale Gewaltherrschaft rechter Milizen akzeptiert. Unter den 400.000 dort lebenden Roma sollen 10 bis 20 Prozent über keine gültigen Personaldokumente verfügen oder lediglich alte sowjetische Papiere besitzen, was auch zu Schwierigkeiten bei der Flucht führen kann. In beiden Staaten gibt es zudem starke Bestrebungen, patriarchale und heteronormative Werte durchzusetzen, was davon abweichenden Menschen kaum eine andere Wahl lässt als ins Ausland zu gehen oder sich gegen die jeweilige Regierung zu stellen.


Schwarzweißfoto des zerstörten Grosny - Foto: Foto: Georges DeKeerle & Alireza numberone, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Imperialer Krieg 2 - Grosny im zweiten Tschetschenienkrieg im März 1995
Foto: Georges DeKeerle & Alireza numberone, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons


Staaten führen Kriege, Menschen sterben darin

Von Russland oder der Ukraine zu sprechen, wenn es um die Benennung der Kriegsparteien gilt, ist auf jeden Fall zutreffender, als die feindlichen Brüder Putin und Selenskyj ins Schwarz-Weiß-Schema von Böse und Gut einzuordnen. Wenn der Berichterstattung zu glauben ist, können sich beide Regierungen der mehrheitlichen Unterstützung ihrer Bevölkerungen sicher sein, was die Wahrscheinlichkeit eines langen Krieges vergrößert und den Kreis der AnsprechpartnerInnen einer internationalen Antikriegsbewegung kleiner macht. Sich in diesem Krieg als dritte Partei auf die Seite einer Regierung zu stellen, ist dennoch fatal, wird damit doch die Teilhabe an Herrschaftsinteressen reklamiert, die auch im Fall der von kriegerischer Aggression betroffenen Ukraine virulent sind.

Einmal unterstellt, dass es NATO und EU nicht nur um die Integration der Ukraine in ihre Einflusssphäre, sondern die Schwächung der staatlichen Integrität Russlands und die langfristige Festlegung des Landes auf die Rolle eines von transnationalen Kapitalen bewirtschafteten Rohstofflieferanten geht, dann ist die Bevölkerung der Ukraine gleich mehrfach betroffen. Durch Russland in Form eines Krieges, der die Frage aufwirft, wieso sich die russischen Streitkräfte nicht auf Donezk und Lugansk als Operationsgebiet beschränkt haben, was unter dem Titel einer Verteidigung dieser Regionen gegen Angriffe der ukrainischen Streitkräfte die Einbeziehung der Zivilbevölkerung in Kampfhandlungen weitgehend verhindert hätte, ohne den NATO-Staaten in die Hände zu spielen.

Für Russland ist der Vergleich mit dem Ende der Sowjetunion, das mit der Besetzung Afghanistans und der Rekrutierung der Mujaheddin insbesondere durch die US-Regierung für den Kampf gegen die Okkupanten eingeleitet worden sein soll, nicht ganz entlegen. Dieser Verdacht liegt auch nahe, weil die Vorbereitung der Ukraine auf eine Kriegsführung nach Partisanenart durch die NATO in Form erheblicher Geldmittel, umfassender Rüstungslieferungen und des Einsatzes darauf spezialisierter AusbilderInnen seit Jahren im Gang ist. [8]

Die langfristige geopolitische Einkreisung Russlands durch die NATO, die Aufrüstung der ukrainischen Bevölkerung im Vorfeld des 24. Februars und die Einflussnahme westlicher Vorfeldorganisationen und Finanzakteure auf die ukrainische Zivilgesellschaft als bloße Verschwörungserzählung zu denunzieren ist wenig plausibel. Zweifellos ist der Angriff Russlands so verwerflich wie jede kriegerische Aggression. Zu bestreiten, dass die Bevölkerung des Landes auch für NATO, EU und USA blutet, ist vor allem dann wenig glaubwürdig, wenn die Empörung über diesen Angriffskrieg von weitreichender Ausblendung eigener Aggressionen in aller Welt begleitet wird. Auch wenn dies für die doppelte Buchführung des "wohlwollenden Imperialismus" kein Problem darstellt, so bleibt der von den USA befürwortete und unterstützte Krieg im Jemen, der fast 400.000 Menschen das Leben gekostet und eine humanitäre Katastrophe epochalen Ausmaßes ausgelöst hat, ein unauflösbarer Widerspruch für den Anspruch auf Gleichbehandlung aller Menschen und Staaten.

Katar, das nun unter Einpreisung von Menschenrechtsverletzungen, die für eine wertegeleitete Außenpolitik inakzeptabel sein müssten, als Ersatzlieferant für Russland im Gas- und Ölsektor hofiert wird, könnte nicht besser demonstrieren, dass die Frage, wer gerade als Bösewicht durchs mediale Dorf getrieben wird, kaum inhaltlicher Art ist, sondern vor allem mit strategischen Zwecken beantwortet wird. So begründete der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff die Reise des Wirtschaftsministers Robert Habeck nach Katar mit der Notwendigkeit, den Standort Deutschland ökonomisch voranzubringen, weil sonst auch kein Sondervermögen im Umfang von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr finanzierbar wäre. "Mittelfristig bleibt unsere Werteorientierung, die übrigens auch nicht Interessen ausblendet, also keine naive Außenpolitik ist, erhalten, aber natürlich ist in der kurzen Frist angesichts dieses dramatischen Ereignisses in Osteuropa eine andere Herangehensweise jetzt nötig." Diese "pragmatische" Herangehensweise sei vor dem "Hintergrund einer zeitlich differenzierten Betrachtung auch zu rechtfertigen." [9]

Sprich die Prioritäten einer wertegeleiteten Außenpolitik variieren je nach Zeitpunkt und Situation nach der Maßgabe, stets den größten Vorteil für die Bundesrepublik zu erwirtschaften. Das ist schlichte Interessenpolitik, und das Verschieben perspektivischer Parameter zur Einlösung nämlicher Werte könnte den Vorwandscharakter dieses ethischen Anliegens nicht besser dokumentieren. Letztlich handelt es sich um eine Frage des Blickwinkels, die Sache kann so oder auch anders gesehen werden, postmoderne Konsistenz und liberaler Voluntarismus ergänzen sich aufs Beste, was den Opfern kriegerischer Vernichtung den Trost schenkt, dass ihr Sterben dem Legitimationsgetriebe Deutschlands immerhin einige pflichtschuldige Pirouetten wert ist. Wer eine in sich widersprüchliche Regierungspolitik mit machiavellistischem Winkeladvokatentum rechtfertigt, nimmt dann auch gerne die Entstehung populistischer Bewegungen in Kauf.

Wie sehr der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen die russische Invasion auch heroisiert wird, bleibt doch die Frage, für wenn die MilizionärInnen und SoldatInnen eigentlich ihr Leben aufs Spiel setzen. Der blau-gelbe Nationalpathos, der auch auf den Straßen und in den Medien der Bundesrepublik den Ton angibt, lässt den Klassencharakter der ukrainischen Gesellschaft so gründlich außer Acht, wie vergessen wird, dass Menschen, die vor dem Krieg aus der Ukraine in die Bundesrepublik kamen, auch noch dankbar dafür sein sollten, sich als besonders billige Arbeitskräfte ausbeuten zu lassen. Sie standen bisher im Gefälle europäischer Lohnniveaus ganz unten, wie das Beispiel der privaten Hauspflege zeigt, wo polnische PflegerInnen für die Zeit, die sie im Dienst deutscher Pflegebedürftiger verbrachten, zur Pflege ihrer bedürftigen Angehörigen in Polen UkrainerInnen anheuerten.

Wie für Nationalökonomien der Semiperipherie typisch hat sich in der Ukraine auch ein großer Arbeitsmarkt für biologische Dienstleistungen wie die der Leihmütterschaft etabliert [10]. Dass Menschen aus ökonomischem Druck dazu genötigt werden, sich nicht nur auf dem konventionellen Markt für Lohnarbeit zu verdingen, sondern die eigene Physis etwa durch Organentnahmen, Arzneimittelversuche oder Sexarbeit verwertbar zu machen, ist ein typisches Merkmal für sogenannte Transformationsstaaten, denen langfristig die Aufnahme in die EU in Aussicht gestellt wird, die sich bis dahin jedoch ohne Mitspracherecht den Maßgaben EU-europäischer Privatisierungs- und Austeritätspolitik zu beugen haben.

Es gibt mithin viele gute Gründe, sich solidarisch mit der Bevölkerung der Ukraine zu zeigen, nicht jedoch mit einem Staatsprojekt, dass im kriegerischen Kampf der Imperien und ihrer Vasallen auf einer Seite fest verortet ist. Die Ukraine ist kein sozialistischer Staat, der von einem äußeren Aggressor angegriffen wird, weil er der Welt die Möglichkeit vor Augen führt, wie sich ohne Ausbeutung von Mensch und Natur leben lässt. Ein Versuch dieser Art, die in Nordsyrien praktizierte Selbstorganisation Rojavas, findet keinen Beifall durch die ideologischen Staatsapparate in aller Welt, sondern fällt deren strategischen Interessen regelmäßig zum Opfer. Das gilt auch für Russland, das lieber mit der Türkei Geschäfte macht, als für den Schutz dieses Sozialexperiments einzutreten.


Aktivistin der Women in Black verteilt Flugblätter neben Transparent - Foto: Alisdare Hickson from Canterbury, United Kingdom, CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0], via Wikimedia Commons

Imperialer Krieg 3 - Protest gegen die Aufrüstung Saudi-Arabiens im Jemen-Krieg durch Großbritannien
Foto: Alisdare Hickson from Canterbury, United Kingdom, CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0], via Wikimedia Commons


Die Abgründe neuer Blockbildung

Dreiunddreißig Jahre nach dem Mauerfall ist das Blockdenken zurück. Der demokratische "Westen" gegen den autoritären "Osten". Autoritäre Allianzen im "Westen" treten in den Hintergrund, Kritik an den chronischen Schattenseiten liberaler Demokratie verstummen zusehends. Staaten werden umarmt, denen noch vor kurzem Rechtsstaatlichkeit und Demokratie abgesprochen wurden. Sie gehören wieder zum demokratischen Wir. Mit dem Krieg in der Ukraine wird Autoritarismus im "Westen" auf das Putin-Regime externalisiert. Dabei breitet sich autoritärer Populismus seit langem in Europa aus, inmitten der liberalen Demokratie, in sich als illiberal bezeichnenden Staaten, aber nicht nur dort.
Isabell Lorey - Kriegerische Männlichkeit und autoritärer Populismus [11]

Wenn von militärischer und staatlicher Gewalt betroffenen Flüchtenden nichtweißer Herkunft nicht die gleiche Empathie zuteil wird wie den Kriegsopfern in der Ukraine, wenn Solidarität selektiv geübt und dem ursprünglichen Begriffskontext des sozialen Widerstands gegen Ausbeutung und Unterdrückung enthoben wird, dann liegt der Verdacht nahe, es mit der politischen Instrumentalisierung grundmenschlicher Praktiken des aktiven Mitgefühls und Füreinandereinstehens zu tun zu haben. Dieser Verdacht vertieft sich, wenn im Ergebnis mehr Zerstörung, mehr Not und mehr Mangel erzeugt werden. Es hätte durchaus Möglichkeiten gegeben, diesen Krieg zu verhindern, kurzfristig durch Zugeständnisse an Russland und die Einstellung der Ausdehnung der NATO, auf längere Sicht durch eine eigenständige Sicherheitspolitik der EU und die Aufkündigung des Nordatlantikvertrages als unzeitgemäßes, dem Kalten Krieg entspringendes Bündnis der Blockkonfrontation.

Zur Eskalation eines Konfliktes gehören immer zwei Seiten, das gilt insbesondere im Fall einer das Militärpotential Russlands mehrfach übersteigenden Hochrüstung der NATO-Staaten. Der russische Präsident hat viele Jahre von sich aus auf geopolitischen Ausgleich mit NATO und EU gedrängt, was schon deshalb nicht erstaunlich ist, weil er als Jelzins Wahl für das Amt des Präsidenten und bekennender Antikommunist über jeden Verdacht erhaben ist, den Realsozialismus der Sowjetunion oder den Kriegskommunismus der Bolschewiki wiedererstehen zu lassen. Wie sehr Putin auch ethnonationalistischer Ideologie und großrussischer Ambition verfallen sein mag, er ist nicht zuletzt als ehemaliger Geheimdienstler und Staatsbürokrat so berechenbar und rational, dass er die Rechnung imperialer Größe stets mit dem Wirt mächtiger Staatenkonkurrenz gemacht hätte, sprich einem Ausgleich hegemonialer Interessen lange Zeit zugänglich war.

Wenn Putin nun als das fleischgewordene Böse überzeichnet wird und als russische Nemesis dem antislawischen Rassismus Zunder geben darf, dann ist diese demagogische Disposition auf der Seite derjenigen, die mit Despoten wie Javier Bolsonaro oder Recep Tayyip Erdogan noch nie Probleme hatten, Gewaltherrschern wie Mohammed bin Salman und Abdel Fatah El-Sisi gerne ihre Aufwartung machen und einen misogynen Rassisten wie Donald Trump zumindest demütig ertragen, ebenso der Zweckratio eigenen Erfolgsstrebens wie populistischer Feindbildproduktion geschuldet. Nie war Putin so nützlich wie heute, als er vergessen macht, dass er kein Monopol darauf hat, "wahre Patrioten von Abschaum und Verrätern" [12] zu unterscheiden.

Dieser an die Gegner des Einmarsches in die Ukraine gerichtete Anwurf, das über die Presse verhängte Verbot, diesen Krieg als Krieg zu bezeichnen, das bis zu 15 Jahre lange Wegsperren antimilitaristischer AktivistInnen sind zweifellos extrem harte Maßnahmen zur Unterdrückung der inneren Opposition. Doch auch in NATO-Staaten finden sich viele Beispiele dafür, dass im kriegerischen Ernstfall mit Folter, Polizeimord und Lagerhaft gegen Menschen falscher Gesinnung und Hautfarbe vorgegangen wird.

Als liberal geltende Staaten lassen sich bei der Maßregelung sozialen Widerstands nicht gerne rechts überholen, das mussten die Gilets Jaunes in Frankreich ebenso erleben wie die Black Panther Party in den USA, das haben irische RepublikanerInnen in UK und türkische KommunistInnen in der BRD leidvoll erfahren müssen. All das wird angesichts anwachsender Breitenwirkung des autoritären Populismus rechtsradikaler und staatskonformer Provenienz nicht besser, sondern erhält den Charakter eines Momentums zur Durchsetzung herrschender Interessen, was im eskalierenden Krisenzyklus vor dem Problem steht, mit immer mehr Widerstand aus verschiedenen Richtungen der Bevölkerungen konfrontiert zu werden.

Zwar gibt sich die Mobilisierung für die Verteidigung der Ukraine besonders menschlich und ist es bei karitativem Engagement wie der Aufnahme Flüchtender auch. Der Rückenwind des erhebenden Gefühls, auf der richtigen Seite zu stehen und in Übereinstimmung mit der eigenen Regierung Widerstand gegen einen faschistischen Diktator leisten zu können, wird aber auch vom Feuer des Weltenbrandes angefacht. Den Sprung von der seit Jahrzehnten präsenten, zum Standardrepertoire ziviler Lebensrisiken gehörenden nuklearen Bedrohung zur willkürlich provozierten Wahrscheinlichkeit eines atomaren Schlagabtauschs zu vollziehen ist heute ein Allerweltsphänomen. Der als politischer Denker geltende Schriftsteller Denis Yücel, die mit kühler Professionalität argumentierende Journalistin Gesine Dornblüth, der höchst erfolgreiche Spitzenmanager Mathias Döpfner - sie und viele mehr eint die Bereitschaft, einen Kriegseintritt der NATO nicht von vornherein auszuschließen, sondern sehenden Auges das Feld ohne Wiederkehr zu betreten.

40 Jahre, nachdem über 300.000 KriegsgegnerInnen im Bonner Hofgarten gegen den NATO-Doppelbeschluss demonstriert haben, sind die deutschen StaatsbürgerInnen in einem Land mit Atomkriegsagenda aufgewacht. Nationale Souveränität und aggressives Wirtschaftswachstum haben einen Preis, der bei einem der weltweit führenden Industriestaaten und Technologiestandorte mit radioaktiv strahlenden Zahlen beziffert werden soll. Das Vorhaben der Bundesregierung, im Rahmen der geplanten Aufrüstungsoffensive auch atomwaffenfähige Kampfbomber anzuschaffen, bedarf der demonstrativen Willensbekundung, sie einsetzen zu wollen. Keine militärische Drohkulisse entfaltet Wirkung ohne die Annahme, es handle sich bei dem aufgebotenen Vernichtungspotential nicht um eine Attrappe, sondern ein reales Machtmittel.


Transparent 'Militarisierung ist keine Solidarität - militärisch-industriellen Komplex zerschlagen - überall' - Foto: © 2022 by Brandfilme

Am Rande der Aktionskonferenz des Bündnisses Rheinmetall entwaffnen am 26. März 2022
Foto: © 2022 by Brandfilme


Kontext statt Content

Gegen die weitere Militarisierung der Bundesrepublik mit kritischen Nachfragen Einwände zu erheben wird in sozialen Netzwerken häufig mit dem jede Diskussion abrupt beendenden Neologismus "Whataboutism" quittiert. Allein Vergleiche zu den Kriegen der NATO zu ziehen, um den einseitig auf Russland zielenden Moralismus in Frage zu stellen, ist ein solcher. What about Iraq, what about Vietnam, what about Trump - es gibt keine Analogie, die sich nicht als "Whataboutism" im Limbus der Verwerflichkeit entsorgen ließe. Diese Kommunikationsstrategie ist auch unter sich als links verstehenden Menschen gang und gäbe, obwohl sie im Kern nichts weiter als die Negation unbequemer Fragen und damit eine klassische Form von Zensur und Sprechverbot betreibt. Als Symptom einer doktrinären Stigmatisierung missliebiger Positionen steht diese Sprechpraxis für die hochgradige Bereitschaft politisch aktiver Menschen, das Gehirn beim Anschalten des Bildschirms abzustellen, um sich guten Gefühlen hingeben zu können, deren aggressiver Stachel stets bereit ist, die Störung des Friedens der JasagerInnen schmerzhaft zu ahnden.

Wo die Einbettung spektakulärer Ereignisse in ihren politischen und historischen Kontext verhindert wird, soll affirmative Ideologie an die Stelle herrschaftskritischer Fragen treten. Um die hochgradige Zustimmung einer Bevölkerung zu politischen Entscheidungen, die ins eigene Fleisch schneiden - auch einkommensarme US-RepublikanerInnen sind gegen die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung, selbst wenn sie die eigenen Arztrechnungen nicht bezahlen können, weil eine solche Sozialleistung ihre Freiheit beseitige - zu erklären, wird häufig eine angeblich totale mediale Manipulation bemüht. Wer damit kundtut, es besser zu wissen, vollzieht die paternalistische Bevormundung angeblich ohnmächtiger RezipientInnen von Propaganda, die er den Medien anlastet, von der Warte eigener Deutungshoheit aus. Sich von Indoktrination zu emanzipieren ist jedem Menschen möglich, wenn nur die Bereitschaft besteht, sich womöglich außerhalb jeglichen sozialen und politischen Konsenses zu stellen. Eben das ist beim Schmähruf "Lügenpresse" nicht der Fall, diese WutbürgerInnen wollen lediglich andere Formen der Herrschafts- und Wahrheitsproduktion etablieren, anstatt sich von jeder Bevormundung zu befreien.

Auch zum Krieg in der Ukraine lassen sich in sozialen Netzwerken umfassende und differenzierte Berichte aus subjektiver Perspektive finden, die die Unterstellung, die Menschen würden ohnehin nach Strich und Faden belogen, als geschlossenes System zirkelschlüssiger Selbstvergewisserung erkennen lassen. Das ist so legitim wie jede andere Flucht vor den Schmerzen der Wirklichkeit auch, nur geraten die Menschen leicht aneinander, wenn sie versuchen, die eigene Wahrheitsproduktion zu verallgemeinern.

Auf einer Online-Konferenz der britischen Stop The War Coalition, die stets gegen die Angriffskriege der NATO auf die Straße gegangen ist und auch jetzt nicht mit Kritik an der Militärallianz spart, wurde zum Beispiel die Frage, wie eine von Sprache und Kultur des Aggressors geprägte Bevölkerung für dessen Sache gewonnen werden soll, erörtert. Dazu berichtete die ukrainische Juristin Oxsana Solomou aus London über ihre Heimatstadt Chernigov im Norden der Ukraine. Dort haben ihre Eltern die ersten zwei Wochen des Krieges verbracht, und sie unterhält weiterhin enge Kontakte zur ihren dort lebenden FreundInnen und Verwandten.

80 Prozent der Bevölkerung dieser nahe an den Grenzen zu Belarus und Russland gelegenen Stadt mit 285.000 EinwohnerInnen sprechen russisch als erste Sprache. Aufgrund der gemeinsamen Vergangenheit in der Sowjetunion sei die soziale Integration der Menschen in allen drei Ländern sehr groß. Für die Bevölkerung Chernigovs sei es schlicht unfassbar und unvorstellbar gewesen, dass ihre Freunde und Verwandten plötzlich auf der anderen Seite der Front stehen und auf sie schießen würden. 60 Prozent der zivilen Infrastruktur der Stadt seien zerstört worden, darunter Schulen, Krankenhäuser, Apotheken, Büchereien und das Stadion. Dazu sei es nicht einmal im Zweiten Weltkrieg gekommen. 40 Prozent der privaten Häuser und Wohnungen seien nicht mehr bewohnbar. Alle Brücken seien bombardiert worden, es gebe keine Verbindung mehr zu anderen Landesteilen.

Alle hätten in der Sowjetunion gemeinsam gegen die deutschen Eroberer gekämpft, so als PartisanInnen, die Seite an Seite lebten und starben. Neun Millionen UkrainerInnen ließen in diesem Krieg ihr Leben. Als Mitarbeiterin einer internationalen Anwaltskanzlei in Moskau habe sie ein erschreckendes Ausmaß an Regierungspropaganda erleben müssen. Wer wie die KollegInnen in der Kanzlei aufgrund ihrer Auslandskontakte und -reisen besser Bescheid wüsste, beantworte keine ihrer Fragen aus Angst vor Verfolgung. Selbst ihre in Russland lebende Tante habe ihr mitgeteilt, dass sie aus Angst nicht frei sprechen könne, und sie gebeten, nicht mehr über den Krieg zu reden. Allein das Wissen darum, manipuliert zu werden, kann mithin auch Handhabe dazu sein, dagegen vorzugehen. [13]


Plakat zum Ostermarsch von Schleswig nach Jagel am 15. April 2022 - Foto: © 2022 by Schattenblick

Aufruf zum Ostermarsch der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK)
Foto: © 2022 by Schattenblick


Nationalistische Kollektivschuldthese

Mein ganzes Leben
habe ich gelernt, die Russen zu hassen.
Wenn wieder Krieg ausbricht,
dann sind sie es, gegen die wir kämpfen müssen,
die wir zu hassen und zu fürchten haben,
vor denen wir wegrennen und uns verstecken,
und all das tapfer zu ertragen,
mit Gott auf meiner Seite.


Bob Dylan - With God On Our Side (1964) [14]

Der die Republik in Beschlag nehmende Aufruf zur Unterstützung der Ukraine mit zivilen wie militärischen Mitteln eint die Nation und hat ein Ventil für Missliebigkeiten aller Art geschaffen. Die pauschale Diffamierung nicht nur Putins, sondern all dessen, was mit Russland assoziiert wird, bedient einen Moralismus, der sich klebrig auf die sozialen Beziehungen legt und sie mit dem Verdacht vergiftet, der andere weiche womöglich von der herrschenden Freund-Feind-Doktrin ab. Schon kleine Hinweise darauf, dass dieser Krieg vielleicht etwas differenzierter bewertet werden könnte und die NATO-Staaten an seiner Entstehung nicht unbeteiligt seien, reichen dazu aus, das gegenseitige Misstrauen zu vertiefen und womöglich langjährige Freundschaften aufzukündigen. Das aus den Hochzeiten der Angst vor Covid bekannte Phänomen bis zur Feindseligkeit erfolgender Polarisierung wiederholt sich auf der nächsthöheren Ebene, was durchaus die Frage aufwirft, ob es sich bei diesem Phänomen nicht um ein strukturelles Herrschaftsmittel handelt.

Der gegen KünstlerInnen und AutorInnen aus Russland gehegte Gesinnungsverdacht und die daraus resultierenden Absagen von Auftritten und Kündigungen von Arbeitsverhältnissen erfüllen alle Kriterien dessen, was mit dem Vorwurf, in Deutschland würde mit moralischem Rigorismus eine woke Cancel Culture bedient, seit Jahren behauptet wird. Von den Stimmen, die dies lautstark taten, ist inzwischen nicht mehr viel zu hören. Die Forderung, als Nation gemeinsam gegen den äußeren Feind zu stehen, ihn also auch im Innern auszugrenzen, scheint der neoliberalen und nationalkonservativen Rechten Aufwind bei der Verfolgung jener Stimmen zu geben, die im Geiste der neuen Kriegsbereitschaft als unpatriotische VaterlandsverräterInnen gebrandmarkt werden können. Der Liberalismus transformiert sich an seinem Feindbild und wird ihm immer ähnlicher, Unterwerfung unter nationale Souveränität ist das Gebot der neuen Blockbildung, die keine Klassen, sondern nur noch Deutsche, US-AmerikanerInnen und EU-EuropäerInnen kennt.

Die auf Dauer gestellte Schockoffensive fugenlos aufeinander folgender Krisen greift tief in die Befindlichkeiten und Mentalitäten der Arbeitsgesellschaft. Ihre Subjekte sollen verfügbarer für ihnen fremde Zwecke denn je gemacht werden, steht doch ein globales Notstandsmanagement auf dem Programm, das jedem einzelnen Opfer wie im Krieg abverlangt. Wurden Klima- und Naturschutz zuvor zumindest nominell als Angelegenheit des ganzen Planeten betrachtet, nicht ohne zugleich nationalen Wachstums- und Gewinnzielen unterworfen zu werden, so wird nun mit der Alternativlosigkeit eines langfristigen Projekts imperialen Machtstrebens darüber befunden, was daran produktiv gemacht werden kann und was auf den Abfallhaufen sozialökologischer Schranken und anderer Hindernisse uneingeschränkter Kapitalakkumulation gehört.

So liegt der tiefere Sinn des neuen Schlagwortes "Freiheitsenergien" - ursprünglich eine Begriffsbildung zur ideologischen Aufladung fossiler Energieproduktion - darin, das Frieren und Hungern akzeptabler zu machen, das aus der kriegsökonomischen Neuaufstellung des Standortes Deutschland resultieren wird. Auch die Einschränkung des Konsums tierischer Lebensmittel folgt einer Ratio des Mangels, der die Subjektivität und Unverletzlichkeit jedes Lebewesens nicht ferner liegen könnte, geht es doch um die Konfrontation mit Russland und seiner Agrarindustrie. Es war der russische Schriftsteller Leo Tolstoi, der den Satz geprägt hat: "Solange es Schlachthöfe gibt, wird es auch Schlachtfelder geben" - ein Grund mehr, ihn nationalpathologisch zu denunzieren.

Regieren mit Angst und Hass - die Agenda gouvernementaler Innovationslogik ist auf den ganzen Menschen ausgerichtet, der sich selbst als Ressource nationaler Ermächtigung begreifen und bewähren soll. Was könnte dessen Widerstand gegen das Gebot ihm fremder Zwecke und Ziele besser überwinden als der akute Handlungsnotstand eines Krieges, den nicht zu führen und doch zu betreiben den Arbeitsmodus des Imperialismus im Zustand friedlicher Neutralität charakterisiert. Auf das Mittel repressiver Gewalt muss nur an seinen ideologischen Rändern zurückgegriffen werden, weil die Intelligenz verhaltensökonomischer Motivationskontrolle, arbeitstechnischer Rationalisierung und biophysischer Optimierung massenhafte Zustimmung zur eigenen Unterwerfung erzeugt.


Weltkugel gestickt - Detail aus einem Transparent der kurdischen Jineoloji - Foto: © 2017 by Schattenblick

Die Welt am seidenen Faden ...
Foto: © 2017 by Schattenblick


Geschlechterverhältnisse entmilitarisieren

Die autoritäre maskulinistische Führerfigur eines Wladimir Putin ist nur die Spitze dieses kriegerisch-maskulinistischen Identitarismus im Namen eines vermeintlich geeinten nationalen "Volkes". Wolodymyr Selenskyj wird als Gegenfigur stilisiert, ihm wird die Rolle des "tragischen Helden" zugedacht: Der zum ukrainischen Präsidenten gewählte Comedian würde durch den von Russland aufgezwungenen Krieg dazu genötigt, "Gewalt zum notwendigen Übel" zu machen. Seine Inszenierung von Männlichkeit zeigt ihn heldenhaft, demütig, verwundbar, fordernd. Putin dagegen gilt als kaltes oder verrücktes Monster. David gegen Goliath - die doppelte Männlichkeit der Krieger. Die bei Selenskyj gefeierte Maskulinität ist nicht weniger umfassend kriegerisch, gerade wenn er immer wieder, in vielen nationalen Parlamenten und der UN-Versammlung via live-Video zugeschaltet, nicht nur Waffenlieferungen, sondern das Eingreifen der Nato fordert. Damit treibt er bewusst die Militarisierung in der EU voran und nimmt zugleich unentwegt - zumindest rhetorisch - einen weiteren Weltkrieg in kauf.
Isabell Lorey - Kriegerische Männlichkeit und autoritärer Populismus [15]

Die weitere Liberalisierung binärer Geschlechtlichkeit gehört zu den wenigen Errungenschaften dieser Bundesregierung, die zumindest formal zu begrüßen sind. Das gilt nicht für die Instrumentalisierung sogenannter Identitätspolitiken zur Durchsetzung ganz anderer Zwecke wie etwa dem der weiteren Militarisierung der Gesellschaft. Wo von der Herrschaft des Patriarchats geschwiegen, die Einspeisung kostenloser, meist von Frauen verrichteter Sorgearbeit als essentielle Bedingung kapitalistischer Produktion stillschweigend gutgeheißen und mit geschlechtlicher Gleichstellung Klassenantagonismen zementiert werden, ist für ein befreiendes Verständnis der Geschlechterverhältnisse nichts gewonnen.

Der russische Präsident hat den Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 unter anderem mit Verweis auf die ansonsten drohende "Degradierung und Entartung" der "menschlichen Natur" begründet, womit er von patriarchaler Kleinfamilie und heterosexueller Geschlechtlichkeit abweichende Lebensweisen zumindest indirekt zu einem Kriegsgrund erklärte. Er schlug damit in die Kerbe seiner im Einklang mit der Russisch-Orthodoxen Kirche erfolgenden Abwehr einer Geschlechterpolitik, die offener und unbescheidener ist als die Praxis, russischen Frauen am 8. März zum Dank für klaglos erbrachte Leistungen für Familie und Vaterland Blumen zu überreichen. Was Putin weltweit einen guten Ruf bei der Klientel eines antifeministischen Rechtspopulismus verschafft hat und Evangelikale im Süden der USA, bei denen die Russisch-Orthodoxe Kirche als Hort echter Männlichkeit in hohem Ansehen steht, sogar zum Übertritt in diese Konfession veranlasst hat [16], gehört zu den Grundlagen des Glaubens an ein homogenes Volk, an die Reinheit weißer Identität und die Notwendigkeit männlicher Bereitschaft zum Opfergang auf dem Schlachtfeld. Der hierarchische Charakter militärischer Organisationen, der Korpsgeist der Truppe und der kriegerisch heroisierte Kampfeswillen stehen allesamt für extreme Formen der Konkurrenz und des Wettbewerbs - gemeinhin dem Mann zugeschriebene Qualitäten, die als soziales Geschlecht Ergebnis patriarchaler Konditionierung über die Jahrhunderte sind.

So dürfen Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren die Ukraine nicht verlassen. Sie werden zum Dienst an der Waffe gezwungen, wenn sie nicht in der Lage sind, sich über korrupte Strukturen freizukaufen. Die wenigen AktivistInnen, die den Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigern, haben einen dementsprechend schweren Stand. In einer Onlinekonferenz der britischen Stop The War Coalition berichtet der Friedensaktivist und Rechtsgelehrte Yurii Sheliazhenko, Vorsitzender des Ukrainian Pacifist Movement, von den Einschränkungen und Nachstellungen, die seine Bewegung in der Ukraine zu erleiden hat. [17]

Nonbinäre und Transpersonen, die sich nicht als Frau ausweisen können, werden in die Streitkräfte integriert, und es bedarf keiner großen Phantasie sich vorzustellen, wie es ihnen in der aggressiven Kultur des Militärs ergehen kann. Es gibt auch Frauen, die freiwillig in den Kampfeinsatz gehen, doch das ändert am maskulinen Charakter militärischer Gewaltanwendung wenig.

Die medial induzierte Heroisierung des zivilen Widerstands gegen die russischen Streitkräfte grenzt mitunter an Verantwortungslosigkeit - mit ihr wird eine Militarisierung des Alltags propagiert, die eine regelrechte Kriegsromantik entfachen und damit Jugendliche für etwas begeistern kann, an dem sie womöglich zugrundegehen. Wo individuelle Risiken etwa des Drogenkonsums strafbewehrt sind oder Tanzpartys unter Covid-Bedingungen als verantwortungslos gebrandmarkt werden, erscheint die Militarisierung kapitalistischer Vergesellschaftung sakrosankt für jede Kritik vergleichbarer Art.

Geschlechterverhältnisse zu entmilitarisieren hieße denn auch, jede Form von Zwang zum Kriegsdienst zu unterlassen, als auch die Rolle der Frau als biologische Produzentin neuer SoldatInnen zu bestreiten. Sich einer äußeren Aggression nicht zu erwehren kann keine Option sein, doch deren Zustandekommen und Andauern in Hinsicht auf die patriarchalen Strukturen und antifeministischen Ideologien der Kriegsakteure zu untersuchen, um schon ihrer Entstehung entgegenzutreten, ist eine antimilitaristische Minimalforderung.

Entschiedene Opposition verlangt der Primat einer "feministischen Außenpolitik", propagiert unter anderem von Außenministerin Annalena Baerbock, Verteidigungsministerin Christine Lambrecht und der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Svenja Schulze. Indem PolitikerInnen unter Verweis auf ihr biologisches Geschlecht feministische Handlungsweisen für sich reklamieren, während sie realpolitisch wesentliche Positionen patriarchaler Herrschaft propagieren, berufen sie sich auf ein reaktionäres Geschlechterbild, das Biologie und Ideologie in eins setzt. So hat die feministische Vordenkerin bell hooks in "Understanding Patriarchy" umfassend begründet, warum pauschale und identitäre Geschlechtszuweisungen die Tatsache ignorieren, dass biologische Männer unter dem Patriarchat leiden wie biologische Frauen es ausüben können, auch wenn es meist umgekehrt ist.

Mit "feministischer Außenpolitik" wird ein emanzipatorischer Anspruch erhoben, der am patriarchalen Charakter imperialistischer Staatspraxis nicht nur scheitert, sondern den Kampfbegriff des Feminismus für konträre Zwecke missbraucht. So hochentwickelt die Technik neoliberaler Sinngebung sein mag, Freiheit und Demokratie in Signaturen ihrer praktischen Negation zu verwandeln, so wenig akzeptabel kann es für von patriarchaler Gewalt betroffene Menschen sein, das ihnen auch noch die Sprache des Widerstands genommen und in ein Herrschaftsinstrument verwandelt wird. Wenn feministische Befreiung ohne Überwindung des Kapitalismus nicht gelingen kann, wenn die Dichotomie binärer Geschlechtlichkeit nicht nur ein Identitätsproblem ist, sondern von sozialen und materiellen Gewaltverhältnissen bestimmt wird, dann ist das Führen sozialer und militärischer Kriege im Namen des Feminismus ein Affront, der nicht passiv ignoriert, sondern aktiv bekämpft werden sollte.

Zudem gilt jetzt, sich mit denjenigen KriegsgegnerInnen in Russland solidarisch zu zeigen, die angesichts der massiven Strafandrohung überhaupt noch öffentlich auftreten. Dazu gehören viele feministische AktivistInnen, die hinsichtlich der Rolle, die Frauen und Soldatenmütter bei der Beendigung der sowjetischen Besetzung Afghanistans und der Kriege gegen Tschetschenien gespielt haben, auf eine erfolgreiche Geschichte sozialen Widerstands zurückblicken können [18].

Dazu gehören auch MusikerInnen wie Anastasia Kreslina and Nickolay Kostilev von IC3PEAK, über die schon Auftrittsverbote verhängt wurden, was sie nicht davon abgehalten hat, den Einmarsch in die Ukraine mit starken Akzenten zu kritisieren. Ihre an die künstlerische Avantgarde der frühen Sowjetunion anknüpfende Bildproduktion [19] beweist, dass ein Boykott russischer Kultur hierzulande ideologische Substitute von einer Armseligkeit propagiert, die bereitwillig hinzunehmen den Schatten einer auch intellektuellen Mangelproduktion wirft, wie er typisch ist für die lebensfeindliche Praxis des warenförmigen Kapitalismus.


Transparent 'Militarisierung ist keine Solidarität - Gegen alle Grenzen, Imperien und Kriege - Foto: © 2022 by Brandfilme

Am Rande der Aktionskonferenz des Bündnisses Rheinmetall entwaffnen am 26. März 2022
Foto: © 2022 by Brandfilme


Von der Friedensdemonstration zum Kampfeinsatz

Worin ist Krieg produktiv, wo er doch in so ungeheurem Ausmaß Werte zerstört? Eben gerade darin. Die Meinungen, die sich mit dem Lamento über die Wert- und Kapitalvernichtung aufhalten (womöglich noch als künstliche Absatzformen aus der Überakkumulation, wenn andere Absatzformen verschlossen sind), vergessen einen wesentlichen Punkt, der nicht nur schon von Marx und Luxemburg behandelt wurde, sondern die gesamte politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts beherrscht: Dass der Kapitalismus kein System ist, sondern ein gewaltsamer Prozess, in dem die dynamischen kapitalistischen Kerne ständig nach technisch-sozialen Möglichkeiten suchen, tradierte Formen sozialer Reproduktion und Gesellschaftlichkeit zu zerstören, um die daraus gewonnenen lebendigen Partikel neuen Formen der Arbeitswertauspressung zu unterwerfen.
Detlef Hartmann: Ökonomie des Krieges - Krieg der Ökonomie (2001)

40 Jahre nach der legendären Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten kann von einer Massenmobilisierung gegen den Krieg keine Rede mehr sein. Ganz im Gegenteil, heute gehen die Menschen massenhaft mit blaugelben Fahnen auf die Straße und fordern nicht nur den Rückzug der russischen Kampftruppen, sondern auch die Lieferung von Waffen in die Ukraine. Wer letzteres tut, legitimiert damit die Regierungspolitik der meisten NATO-Staaten und scheint keinen Einwand dagegen zu haben, dass das Militärbündnis auf diese Weise zum informellen Kriegsakteur wird. Erschwerend hinzu kommen die kontraproduktiven Auswirkungen von Waffenlieferungen auf Verhandlungen zur Beendigung des Krieges.

Es ist ein Gebot simpler Logik, dass die durch die Aufrüstung der ukrainischen Verteidigungskräfte bewirkte Verlängerung des Krieges schlussendlich in die Forderung eines direkten Eingreifens der NATO münden kann. Gerade weil die Empathie für die Angegriffenen allen Einsatz zu ihrer Rettung verlangt, anstatt sie in einem Krieg, der auch im Interesse der NATO geführt wird - sonst würden die Streitkräfte der Ukraine nicht waffen- und ausbildungstechnisch unterstützt werden - allein zu lassen, ist der Schritt zur offiziellen Kriegsteilnahme schnell getan. Womöglich melden sich einige der Personen, die Waffenlieferungen in die Ukraine oder gar einen Kriegseintritt der NATO fordern, freiwillig zum Kampfeinsatz gegen Russland, was als Konsequenz auf jeden Fall respektabler wäre, als den Brand aus der Ferne anzuheizen und in vermeintlich sicherer Distanz zu bleiben.

Unter der Bedingung einer mit allen Instrumenten gesellschaftlicher Konsensproduktion forcierten Mobilisierung für die Ukraine, die sich nicht gleichzeitig gegen Russland und die NATO positioniert, bleibt für radikalen Antimilitarismus nur wenig Platz. So scheint sich neben der staatskonformen Protestbewegung eine aus den Mahnwachen für den Frieden, der Querdenkerszene, AfD-PolitikerInnen, ReichsbürgerInnen, dem Publikum des rechtsradikalen Magazins Compact und anderen Personen und Gruppen des libertären bis rechtspopulistischen Spektrums rekrutierende Friedensbewegung zu formieren, die ihre Parteinahme für Russland mit dem angeblichen Opferstatus des Landes und der Dämonisierung seines Präsidenten begründet.

Dass Russland in dieser von imperialer Konkurrenz bestimmten Konfrontation die schwächere Partei ist, macht aus seiner grenzüberschreitenden Kriegsführung dennoch keine Verteidigungshandlung. Nicht anders haben die USA 2001 bei der Eroberung Afghanistans und 2003 bei der Invasion in den Irak argumentiert. Es waren in beiden Fällen aggressive Kriege, für die durchsichtige Vorwandslagen bemüht wurden. Sich als KriegsgegnerIn auf die Seite Russlands mit dem Argument zu stellen, dass ein solches Vorgehen für jeden Staat legitim sein müsse, begründet dessen hegemoniales Eigeninteresse nicht einmal auf legalistische Weise, wie es die NATO Staaten mit der fallweisen Inanspruchnahme internationaler Gerichte tun, sondern propagiert einen Revanchismus, der den Untergang aller Beteiligten in Kauf nimmt. Ohnehin ist die Schlussfolgerung, der Feind meines Feindes sei mein Freund, bar jeder Kritik an den Mensch und Natur zerstörenden Verwertungsverhältnissen, also dem zentralen Problem, das sozialistische und sozialrevolutionäre Bewegungen erklärtermaßen überwinden wollen.

Für eine gegen jeden Krieg gerichtete antimilitaristische Bewegung kann die Bezichtigungslogik miteinander konkurrierender Staaten kein Anlass sein, sich auf eine der beiden Seiten zu stellen, handelt es sich doch um Herrschaftsprojekte, denen die eigene Bevölkerung prinzipiell gleichgültig ist. Ihre Verwendbarkeit steht und fällt mit ihrer Verwertbarkeit in Fabrik und Krieg, sprich der einzelne Mensch ist austauschbar. Was staatliche Konfliktparteien eint, ist die Grundlage kapitalistischer Akkumulation auf der Basis der Ausbeutung von Lohn- und Sklavenarbeit wie der Extraktion von Rohstoffen aller Art. Von daher empfiehlt sich die kritische Überprüfung des Begriffs vom Frieden, der keiner ist, so lange er als ideeller Fluchtpunkt herrschender Ordnung den ihr zugrundeliegenden sozialen Krieg bemäntelt.

Zweifellos ist eine antimilitaristische Bewegung, die sich hinter die Forderung "Bundeswehr abschaffen" stellt, immun gegen eine Infiltration durch staatsautoritäre und rechtsradikale Kräfte. Gleiches gilt für die Unterstützung von Deserteuren auf beiden Seiten, was vor allem ihr bevorzugte Aufnahme nach gelungener Flucht aus dem Land betrifft. Dass diese Forderung nicht von PolitikerInnen der Regierungskoalition erhoben wird, statt dessen jedoch Waffen in die Ukraine geschickt werden, unterstreicht die große Bedeutung des Themas Desertation für jede Antikriegsbewegung.

Anders verhält es sich mit der Forderung nach einem Austritt Deutschlands aus der NATO, die auch nationalchauvinistischem Großmachtstreben adäquat ist. Warum das für seine aggressive Kriegsführung berüchtigte Militärbündnis nicht ganz auflösen und föderale Strukturen möglichst unbewaffneter und etwa ökosozialistischer Art an seine Stelle treten lassen? Warum nicht die Bevölkerungen selbst darüber befinden lassen, ob überhaupt Arbeit, Energie und Geld in Kriegsunternehmen gesteckt werden soll, nicht nur weil die globalen Probleme inzwischen wortwörtlich auf der Haut brennen, sondern weil die Frage der Befreiung von Gewalt ganz neu gestellt werden müsste?

Vorbildcharakter für AntimilitaristInnen haben sicherlich die Blockadeaktionen von ArbeiterInnen, die die Logistik des militärischen Nachschubs unterbrochen haben. In Griechenland wurden für die Ukraine bestimmte US-Panzer über zwei Wochen lang aufgehalten, bis StreikbrecherInnen den Boykott durchbrachen [21]. In Belarus haben EisenbahnerInnen die lebensgefährliche Aufgabe übernommen, den Nachschub der russischen Truppen in der Ukraine zu sabotieren [22]. In Hamburg hat die Gewerkschaft Verdi eine Volksinitiative zum Verbot des Umschlags von Rüstungsgütern im Hamburger Hafen gestartet [23]. Diese Aktionen zeigen, dass es praktische Möglichkeiten gibt, Krieg und Militarisierung entgegenzutreten, um ein Zeichen dafür zu setzen, dass es für keinen Staat legitime Gründe gibt, in ein anderes Land einzufallen.

40 Jahre Niedergang einer radikalen Linken, aus deren Reihen einige der aggressivsten deutschen KriegspolitikerInnen hervorgegangen sind, vor dem Hintergrund einer Krisenentwicklung, die erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg auch die Bevölkerungen der westeuropäischen und nordamerikanischen Metropolengesellschaften unmittelbar betrifft, legen nahe, das Übel staatlicher Gewalt mit aller Radikalität an der Wurzel zu packen. Das kann eine saisonale, am Krieg au jour erstarkende und dann wieder vergessene Friedensbewegung auch dann nicht leisten, wenn sie sich explizit antimilitaristisch aufstellt. Wie die derzeitige Blockbildung demonstriert, geht es sprichwörtlich um alles - um sozialökologische Fragen, um die Überwindung des fossilen Kapitalismus, um die Aufhebung patriarchaler Herrschaft und binärer Geschlechternorm, um den Kampf gegen Kolonialismus und Rassismus, um den Widerstand gegen faschistische Gruppen, die den Bürgerkrieg planen, wie die Doktrin eines Ethnonationalismus, der die Bevölkerungen den jeweiligen Nationaldoktrinen und Hegemonialprojekten unterwerfen will.

Mit dem Eintreten des potentiell finalen Stadiums der Systemkrise, in dem alle vorherigen Erschütterungen wie die Währungs- und Finanzkrise 2008, die permanent vorangetriebene Naturzerstörung und die auch in gemäßigten Breiten manifest werdende Klimakatastrophe, der Hunger von rund 10 Prozent der Weltbevölkerung, die weltweit bald 100 Millionen aus verschiedenen Gründen zur Flucht getriebenen Menschen unbewältigt andauern, ist eine Bewegung gegen den Krieg notwendigerweise auch gegen all seine konstitutiven Bedingungen und Begleitumstände positioniert. Es bedarf eines universalen Bündnisses, das die Verschränkung der diversen Konflikte und Eskalationen erkennt und dazu Forderungen stellt, die sich nicht mit dem kleineren Übel zufrieden geben, sondern ums große Ganze streiten. Das mag sich idealistisch und utopisch anhören, doch in dieser Situation fallen halbgare Reformen und opportune Kompromisse so weit hinter die rasante Geschwindigkeit der multiplen Krisendynamik zurück, dass sie bestenfalls zur künstlichen Beruhigung taugen.


Epilog: Lodengrüne Alternativbewegung am Ziel totaler Mobilmachung

Denn wie das Bedürfnis nach einem alternativen Leben ein Produkt der Gewaltstrategie des Kapitals ist, genauso ist diese eine Existenzvoraussetzung jeder Alternative. Millionenbeträge kapitalistisch erpreßter Renten fließen in die friedlichen Nischen, Millionen unter mörderischen Arbeitsbedingungen hergestellter "Gebrauchswerte" gestalten den alternativen Alltag. Begreift und praktiziert man ihn isoliert, dann vergißt man, daß die Parzellen gesellschaftlich reicher Alternativität das notwendige Produkt der Rationalisierungen sind, daß sie darum so "frei" sind, weil die anderen noch mehr vergewaltigt werden; dann vergißt man, daß man die Freiheit genießen und entwickeln kann, gerade weil die anderen noch mehr zerstört werden, dann vergißt man, daß man die Rente, die Arbeitslosenunterstützung darum so "reich"-lich verzehren kann, weil die anderen durch die Gewalt der technologischen Lebenszerstörung um so schneller und mehr produzieren müssen; dann unterdrückt man die Wahrheit, daß in die neuen Lebensformen befreiten Subjekte pro Tag hunderte von Gegenständen benutzen und konsumieren können, gerade weil an ihnen der innere Reichtum der seelisch zerstückelten "wahren" Produzenten wie Blut klebt.
Detlef Hartmann - Leben als Sabotage (1981) [24]

In der Barbarei des Krieges lassen Massaker niemals auf sich warten, sie sind der blutige Schatten "normaler" Kampfhandlungen, deren Verrechtlichung vor allem dem Zweck dient, Kriege zwischen Staaten oder gegen aufständische Gruppen überhaupt führbar zu machen. Was sind Kriegsverbrechen gegen das Verbrechen des Krieges? An welchem Punkt genau fängt Gewaltanwendung an, wird nicht schon im Vorfeld des Krieges an vielerlei Stellen durch ökonomischen Zwang, sozialen Druck und nationalistische Propaganda Gewalt ausgeübt? Wer will sich frei davon sprechen, auf diese oder jene Weise zum Blutvergießen beizutragen?

Einmal mehr stehen PolitikerInnen der Grünen an vorderster Front der Mobilmachung, mit der die in der Ukraine entdeckten Massaker hierzulande quittiert werden. So verlangt Anton Hofreiter [25] den sofortigen Ausstieg aus den russischen Energielieferungen, als sei die Bundesrepublik der einzige Kunde Russlands für Öl und Gas. Waffen sollen in großem Stil an die Ukraine geliefert werden, zudem soll deren Regierung nach Belieben Rüstungsgüter bei der deutschen Industrie bestellen können. Aus Energiemangel resultierende Einbrüche in der Industrieproduktion sollen durch Staatshilfen kompensiert werden, gleiches gilt für LohnarbeiterInnen, die in Kurzarbeit geschickt und zu 100 Prozent staatlich alimentiert werden sollen. Wie es um die Nöte derjenigen bestellt ist, die schon jetzt auf Sozialhilfe und Grundsicherung angewiesen sind, bleibt Hofreiters Geheimnis.

Anlässlich eines Kriegsgeschehens, das der Barbarei fast jeden Krieges innewohnt und zu dem es auch in den Feldzügen der NATO kommt, wenn sogenannte "Kollateralschäden" erzeugt werden, mit Nachdruck Maßnahmen zu fordern, die tief ins Fleisch der Gesellschaft schneiden, lässt sich mit der Empörung über die Grausamkeiten dieses Krieges nicht wirklich glaubhaft begründen. Auch Grüne haben keine vollständige Öffnung der Grenzen gefordert, wenn Tausende Flüchtende im Mittelmeer ertranken. Dabei wären die gesellschaftlichen Kosten ihrer Aufnahme weit geringer gewesen, als es bei den nun für akzeptabel erachteten Einschnitten in die Industrieproduktion und die Verteuerung der Lebenshaltungskosten der Fall ist. Auch Grüne haben nicht die Abschaffung der NATO verlangt, wenn in deren Auftrag Zivilbevölkerungen dezimiert wurden, sondern versucht, sich für imperialistische Kriegführung unentbehrlich zu machen.

Gleiches gilt für das Hochfahren der Kohleverstromung, die Hofreiter für erforderlich hält. Wenn die langfristigen, das Leben zahlloser Menschen gefährdenden Folgen einer neuerlichen Steigerung der CO2-Emissionen wie die unmittelbar auftretenden Auswirkungen der neuen Blockkonfrontation auf die Getreidelieferungen in den Globalen Süden, die Millionen von Menschen mit Mangelernährung und Hungertod bedrohen, weniger Konsequenzen zeitigen sollen als das Begehen von Kriegsverbrechen, dann muss es dem Grünen-Politiker um mehr gehen als die Verschärfung des Wirtschaftskrieges gegen Russland zwecks Beendigung des Krieges.

Die Radikalität der Mobilisierung zu tiefen Einschnitten in die soziale und kapitalistische Reproduktion anlässlich eines brutalen Geschehens, das Kriegen stets immanent ist, hat die Wirkung eines Schocks, der alle Bedenken gegen weitere Eskalationen vom Tisch fegt. Die Fixierung auf Einzelereignisse, die zur Begründung umfassender Maßnahmen nicht nur gegen das Interesse an eigener Lebenssicherung, sondern auch die sozialökologische Zukunft des Planeten herhalten muss, mündet in einen Imperativ der Mangelkontrolle, für dessen Durchsetzung die Bereitschaft der Bevölkerung zum Erbringen von Opfern aller Art wie ihrer bereitwilligen Zustimmung zu neuen Kriegen unabdinglich ist.

Hofreiter fordert alle dazu auf zu überdenken, was sie in der Vergangenheit für richtig gehalten haben, das heißt Prinzipien über Bord zu werfen, die noch vor wenigen Wochen als unantastbar erschienen. Die hochgradige Wandlungsfähigkeit dieses und anderer PolitikerInnen in Leitungspositionen der Regierung und Koalitionsparteien ist nur dann erstaunlich, wenn die Ideologie von Freiheit und Demokratie als etwas anderes denn als eine zur Durchsetzung marktwirtschaftlicher Verwertungsimperative dienende Wertenorm verstanden wird. Schon in der Gründungsphase der Grünen war dem Reformismus linksalternativer Lesart die Absicht zu entnehmen, soziale Innovation ideologisch zu legitimieren, um die Beute kapitalistischer und imperialistischer Gewalt im Glauben auf die eigene Seite zu bringen, damit höchst fortschrittlichen und humanen Zielen zuzuarbeiten. Von daher ist einem Hofreiter kein Vorwurf zu machen, wenn die Bundesrepublik auch auf sein Betreiben hin einen Schritt näher zum Kriegseintritt rückt. Wie schon Joseph Fischer gezeigt hat, findet die politische Adaption grüner Naturideale im Fressen und Gefressen werden bioorganischer Stoffwechselaktivitäten zu sich selbst.


Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter - Foto: © 2017 by Schattenblick

Die heile Welt des Klimaschutzes - Ortstermin Hambacher Forst
Foto: © 2017 by Schattenblick

Fußnoten:
[1] in freier Übersetzung aus dem Englischen
https://www.youtube.com/watch?v=b8KE4fREfbE

[2] https://politische-reden.eu/BR/t/37.html

[3] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/baerbock-nationale-sicherheitsstrategie/2517738

[4] https://www.deutschlandfunkkultur.de/natalie-amiri-afghanistan-taliban-frauen-100.html

[5] https://www.heise.de/tp/features/The-Empire-is-back-3424767.html

[6] https://www.akweb.de/politik/greg-yudin-in-russland-droht-ein-faschistisches-regime/?fbclid=IwAR05agLk0jBGmS2gDX7BG0mVPraHYkROh0NptD--tfeE9SLa4Et0-6uorHI

[7] https://socialistworker.co.uk/features/ukraine-the-shadow-of-2014-on-todays-war/

[8] https://portside.org/2022-02-26/prelude-ukraine-crisis-military-managerialism-and-limits-institutional-discourse
https://www.counterpunch.org/2022/03/25/stockholm-syndrome-2022-the-faustian-bargain-of-left-militarism-in-ukraine/
Zach Dorfman: Secret CIA training program in Ukraine helped Kyiv prepare for Russian invasion, Yahoo News, March 16, 2022

[9] https://www.deutschlandfunk.de/wie-verhalten-gegenueber-katar-und-china-interview-a-graf-lambsdorff-fdp-dlf-64d28020-100.html

[10] https://gen-ethisches-netzwerk.de/maerz-2022/die-leihmuetter-der-ukraine

[11] https://transversal.at/transversal/0422/lorey/de

[12] https://www.nbcnews.com/news/world/scum-traitors-pressure-ukraine-putin-turns-ire-russians-rcna20410

[13 ] ab 1:17 - https://www.youtube.com/watch?v=t8PkjAhjmiI&t=8s

[14] in freier Übersetzung aus dem Englischen
https://www.youtube.com/watch?v=rMifwzfwyFA

[15] https://transversal.at/transversal/0422/lorey/de

[16] https://bostonreview.net/articles/the-u-s-christians-who-pray-for-putin/

[17] ab 1:01 - https://www.youtube.com/watch?v=lPyavfLuxxg

[18] https://truthout.org/articles/women-are-leading-russias-antiwar-protests-and-theyre-in-putins-crosshairs/

[19] https://www.youtube.com/watch?v=qCljI3cIObU

[20] https://materialien.org/oekonomie-des-krieges-krieg-der-oekonomie/

[21] https://www.klassegegenklasse.org/griechische-eisenbahnerinnen-blockieren-us-panzerlieferung-in-die-ukraine/?fbclid=IwAR3JwVUJSuucSGDPjpPMFANs_a6ymmje1dUQk1b0PU2FROuYvo0g_nXt8vE

[22] https://www.klassegegenklasse.org/eisenbahnerinnen-in-belarus-sabotieren-russischen-angriff-wie-eine-dritte-position-im-krieg-entstehen-kann/?fbclid=IwAR2Z4afU5TMzOz6rBIJ4Bvjl9vB2V6yS-wliOXwLoUu1NdytY-n7JPYcBjc

[23] https://hamburg.verdi.de/gruppen/arbeitskreis-frieden/++co++d2f444e6-8725-11eb-8d52-001a4a160119

[24] Detlef Hartmann: Leben als Sabotage - Zur Krise der technologischen Gewalt, Tübingen 1981, S. 114

[25] https://www.deutschlandfunk.de/haertere-sanktionen-interview-mit-anton-hofreiter-gruene-vorsitzender-des-aus-dlf-1b1675d9-100.html

4. April 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 173 vom 9. April 2022


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