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USA/302: Das sozioökonomische System der USA ... (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2010

Das sozioökonomische System der USA: Vorteile, Probleme, Entwicklung

Von Karl Aiginger


Wie kann der "amerikanische Weg" im Vergleich zu Europa gewertet werden? Es geht um die wirtschaftliche Performance, um die Verteilung von Mobilität und Offenheit bis hin zu Fragen von Gesundheit, Bildung und Umwelt: All diese Fragen sind für die USA vor allem hinsichtlich der neuen Strategie Europas und des Aufstiegs Chinas bedeutend.


Die USA sind - gemessen am erzielten Einkommen - noch immer die erfolgreichste Wirtschaftsregion der Welt. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt 2010 - nach Berücksichtigung von Kaufkraftunterschieden - um 30% höher als in der EU 15 (wenn nicht anders erwähnt, bezieht sich "Europa" auf die EU 15). Ihr BIP beträgt 85% der EU 27. Der Vorsprung des Pro-Kopf-Einkommens der USA, verglichen mit der EU 27, würde 40% ausmachen. Je Erwerbstätigen sind es 29%, je Arbeitsstunde 18%. Die US-Erwerbstätigen arbeiten 1.742 Stunden pro Jahr, die Europäer 1.593 Stunden. Die absolute Wirtschaftsleistung zu Wechselkursen wird zwar heute von jener der EU 27 knapp übertroffen, jedoch mit einer um 60% größeren Bevölkerung, China erzielt mit einer viermal so großen Bevölkerung ein Drittel der Wirtschaftsleistung.

Der wirtschaftliche Vorsprung der USA gegenüber Europa hat sich in den letzten 15 Jahren nicht verringert, obwohl dies oft erwartet wurde. Die US-Wirtschaft ist seit 1990 um 2,6% (real, p.a.) gewachsen, die europäische um 1,7%. Im Pro-Kopf-Wachstum ist der Unterschied etwas kleiner. Die US-Bilanz verliert an Glanz, wenn man neben der Wirtschaftsleistung die Außenhandelsbilanz, das Budget und den Arbeitsmarkt einbezieht, denn die USA haben eine defizitäre Handels- und Leistungsbilanz. Das signalisiert Wettbewerbsprobleme im industriellen Sektor, kostet Arbeitsplätze und bringt Instabilität für die Weltwirtschaft, ist aber für die USA kein Problem, solange andere Länder in den Vereinigten Staaten hohe und stabile Erträge erwarten.

Das Budgetdefizit in den USA war schon vor der Krise hoch und liegt 2010 mit 10% deutlich höher als in Europa. Die Schuldenquote ist heute relativ zur Wirtschaftsleistung ähnlich, steigt aber schneller. Die Schulden sind nicht durch Zukunftsinvestitionen (z.B. Bildung) entstanden, sondern aus einer Kombination hoher Militärausgaben und dem Versuch der Bush-Regierung, Steuern zu senken. Viele US-Bundesstaaten sind ebenso stark verschuldet wie Griechenland.


Steigende Unsicherheit

Die Arbeitslosigkeit war bis 1984 in den USA höher als in Europa. Seither liegt sie bis 2008 in den USA niedriger (z.B. 2008 5,8% vs. 7,1% in EU 15). In der Krise ist sie stark gestiegen und zur Jahresmitte 2010 ein Grund für die steigende Unsicherheit. Spiegelverkehrt liegt die Erwerbsbeteiligung heute in den USA höher als in Europa, nachdem sie bis Mitte der 70er Jahre in Europa höher lag.

Die Wohlfahrt eines Landes ist auch von Verteilung, Armut und der Absicherung von Risiken abhängig. Die Relation der Top-20-Einkommen zu den niedrigen 20% ist in den USA doppelt so hoch. Auch die Armutsquote liegt, verglichen mit dem Durchschnitt der europäischen Länder deutlich höher. Da die regionalen Unterschiede (zwischen Ländern) in Europa größer sind als in den USA, wird der Unterschied geringer, würde man gesamteuropäische Armuts- und Ungleichheitsindikatoren berechnen.

Das US-Gesundheitssystem ist extrem teuer (16% des BIP, EU 15 ca. 10%, 2008). Dennoch waren 20% der Bürger bis 2010 nicht versichert. Die Spitzenmedizin in den USA ist, gemessen an Heilungserfolgen bei Operationen und schweren Krankheiten, ausgezeichnet. Ernährungsgewohnheiten und in der Folge Dickleibigkeit sind ein Problem mit großen Unterschieden nach Schichten und Hautfarbe.

Der Staatssektor ist in den USA kleiner. Die Steuer- und die Staatsausgabenquote liegen um fast zehn Prozentpunkte unter jenen der EU. Der Anteil der Sozialausgaben liegt ebenfalls niedriger, der Unterschied wird kleiner, wenn man auch private Sozialausgaben dazu zählt. Ein höherer Anteil der Bevölkerung - mit starken Unterschieden zwischen weißer und schwarzer - befindet sich im Gefängnis.

Die amerikanische Gesellschaft ist offener für Zuwanderung und für vertikale Mobilität. Die Bevölkerung steigt seit 1970 um 50% (von 205 Millionen auf 310 Millionen), auch in den beiden letzten Jahrzehnten noch um 60 Millionen. Die Einwanderung von 1990 bis 2009 beträgt 20 Millionen Personen. Die europäische Bevölkerung (EU 15) wuchs seit 1970 nur von 340 auf 398 Millionen (+17%), ist einem starken Alterungsprozess unterworfen und wird ab 2025 sinken. In den USA ist die Geburtenrate hoch (14 je 1.000 Einwohner vgl. mit 10 in Europa), der Anteil der Nicht-Weißen unter der US-Bevölkerung wird 2042 über 50% liegen. Die regionale, berufliche und Aufwärtsmobilität ist höher. Die USA sind bei der Überprüfung der Einreise - besonders seit 2001 - restriktiv und haben eine Mauer gegen Mexiko errichtet. Sie gehen bei internationalen Problemen oft einen Sonderweg und verzögern die Unterzeichnung von Vereinbarungen.

Die Umwelt hat in den USA einen geringeren Stellenwert. Der Energieverbrauch ist, gemessen an der Wirtschaftsleistung, noch immer fast doppelt so hoch wie in Europa, ebenso die Emission von Treibhausgasen, trotz des hohen Anteils von Atomkraft. Im Index der Umweltqualität der Yale Universität liegen die USA an 60. Stelle. Die USA bremsen bei Klimaschutzabkommen und der Verteuerung fossiler Energie. Ehrgeizige nationale Projekte zur Gewinnung alternativer Energien haben begonnen.

Die Forschungsausgaben sind langfristig um mehr als ein Viertel höher als in Europa (2,8% vs. 2,0%, 2008). Der Anteil der Grundlagenforschung und der Firmenforschung ist hoch, je Beschäftigten gibt es doppelt so viele Forscher. Neue Technologien und Industrien werden schnell entwickelt und angewendet, Europa ist oft ein Follower in der zweiten Phase des Produktzyklus, dann allerdings mit beachtlichem Erfolg. Die Akademikerquote und der Anteil der Sekundärabschlüsse sind wesentlich größer. Bezüglich der Qualität der Ausbildung liegen die USA besonders im Spitzenfeld besser, im unteren Bereich schlechter. Im Pisa-Ranking liegen die USA im Bereich der Naturwissenschaft (Science) knapp unter der Mitte der Länder, weit hinter Großbritannien und Deutschland, die Streuung der Ergebnisse ist groß: Die USA haben sowohl einen hohen Anteil im besten Segment wie auch im schlechtesten. Eine ähnliche Position knapp unterhalb der Hälfte der Länder nehmen die US-Schüler im Bereich Mathematik ein.


Die USA, ein Wohlstandsland?

Zwei Indikatoren versuchen, eine Gesamtwertung des Wohlstands vorzunehmen. Die Lebenserwartung bei der Geburt liegt in Europa höher als in den USA, nämlich bei 80,6 Jahren vs. 77,8 Jahren. Die Lebenserwartungen für Personen ab dem 65. Lebensjahr, die eher Gesundheitssystem, Stress oder Lebenszufriedenheit widerspiegeln, liegen etwas näher (85,5 Jahre in der EU 15 vs. 83,4 Jahren in den USA).

In Befragungen bezeichnet ein größerer Teil der Amerikaner sich als "glücklich". Es ist unklar, ob die Antworten nicht auch nationale Normen widerspiegeln. In den USA ist jede(r) für ihr (sein) eigenes Glück verantwortlich, man kann Unzufriedenheit nicht einem Dritten anlasten (Staat, Gesellschaft, Hierarchie).

Die jüngste Finanzkrise (siehe Aiginger 2010A) ist in erheblichem Ausmaß auf amerikanische "Innovationen" zurückzuführen (neben makroökonomischen Ungleichgewichten und Regulierungsfehlern); sie wurden allerdings in anderen Ländern begeistert gekauft. Der Zwang zu hohen Renditen hat eine Rolle gespielt, ebenso Deregulierungen, Wegblicken der Regulierungsinstanz, niedrige Lohnquoten und die politische Priorität von Hauseigentum. Obwohl "Epizentrum" der Krise, hat die Wirtschaftsleistung in den USA 2009 weniger gelitten als in Europa, und die erste Erholungsphase war wesentlich steiler. Dies spiegelt die interne Flexibilität der US-Wirtschaft wider und auch die Politik, die pragmatisch und wenn nötig intensiv gegensteuert. Die Stimulierungspakete waren in den USA größer, die Geldpolitik expansiver und die Bereitschaft zu verstaatlichen (z.B. General Motors) überraschend. Generell scheint die Steuerungswilligkeit und -fähigkeit des US-Systems größer als in Europa (mit seiner Zersplitterung zwischen EU-Ebene und nationalen Entscheidungen).

Barack Obama versucht, Schwächen des amerikanischen Systems abzubauen. Die Reform des Gesundheitssektors soll und wird die Zahl der Unversicherten senken, Unilateralismus und das Postulat der "Einzigartigkeit" wurde abgeschwächt. Der Umweltbereich steht auf der Agenda. Die Reduktion von Arbeitslosigkeit hat Priorität vor Budgetkonsolidierung. Der interne Widerstand gegen seine Politik wird allerdings vor den Kongresswahlen und durch die Tea Party-Bewegung stärker. Auch gibt es widersprüchliche Signale (z.B. Ölbohrungen in sensiblen Gebieten). Erst die Geschichte wird zeigen, ob es eine längerfristige Annäherung an das europäische Modell geben wird (die explizit nicht geplant ist). Es könnten auch später die Differenzen wieder größer werden und handelspolitische Konflikte hinzukommen.

Die weltwirtschaftliche Machtverteilung hat sich durch die Krise bleibend geändert. China und Indien haben mitgeholfen, eine Krise im Ausmaß der "Großen Depression" zu verhindern (neben der Wirtschaftspolitik in den Industrieländern; siehe Aiginger 2010B). China ist die zweitgrößte Wirtschaftsmacht, auch Südamerika und Afrika wachsen 2010 relativ rasch. Die Türkei und andere Länder der Schwarzmeerregion haben entscheidende Energieressourcen. Keines dieser Länder orientiert sich explizit am amerikanischen Modell, allerdings auch nicht am europäischen. Die Modelle sind auch innerhalb der asiatischen Länder unterschiedlich, haben aber eine erhebliche zentrale Koordination gemeinsam.

Auch in Europa sind mindestens fünf Modelltypen zu unterscheiden, mit dem angelsächsischen Modell auf der einen Seite, das dem US-Modell relativ ähnlich ist, allerdings auch eigene Elemente hat (staatlichen Einfluss in Gesundheit und Bildung) und starken Veränderungen unterworfen ist (Thatcher/Blair/Cameron), und dem skandinavischen Modell auf der anderen Seite. Dieses vereint Effizienz, soziale Inklusivität und Ökologie, gibt der Zukunft einen hohen Stellenwert. Die neuen Mitgliedsländer der EU schätzen Elemente des amerikanischen Modells als Gegensatz zum früheren Übergewicht von Planung und Staatseinfluss.

Die Unterschiede haben 50 Jahre eines prinzipiell erfolgreichen Integrationsprozesses überlebt. Die Diversität und der Verzicht auf eine "Wirtschaftsregierung" führen allerdings dazu, dass die Vorteile des Modells nicht vermarktet oder über eine aktive Außenwirtschaftspolitik genutzt werden.

Das größte Lob des europäischen Modells kommt von einem Amerikaner (der in der Transformation der ehemaligen Planwirtschaft das amerikanische Modell mit Härte durchsetzen wollte), nämlich von Jeffrey Sachs: "Europa ist ein Friedensmodell, hat starke Demokratien, es gibt keine soziale Unterklasse. Es verhandelt bei politischen Konflikten statt zu bombardieren, hat die höchste Lebenserwartung und die geringste Kindersterblichkeit. Europa zeichnet sich aus durch hohe Energieeffizienz und Bekenntnis zu alternativen Energien, Europäer haben mehr Freizeit" (Financial Times, 19.8.2008).


Quellen:

Karl Aiginger (2010A):
The Great Recession versus the Great Depression: Stylized Facts on Siblings That Were Given Different Foster Parents. Economics: Vol. 4, 2010-18.
http://www.economics-ejournal. org/economics/journalarticles/2010-18.

Karl Aiginger (2010B):
Post Crisis Policy: Some Reflections of a Keynesian Economist, in: The World Economy in Crisis -the Return of Keynesianism? (Edited by Sebastian Dullien et al. Metropolis, 2010.
http://www.wifo.ac.at/aiginger/postcrisispolicy.

Karl Aiginger/Alois Guger:
The European Socio-Economic Model, Differences to the USA and Changes Over Time, in: Giddens, A., Liddle, R., Diamond, P (eds.): Global Europe, Social Europe, Polity Press, Cambridge, United Kingdom, 2006, pp. 124-150.

Kurt W. Rothschild:
"Europe and the USA: Comparing What with What? KYKLOS, Vol. 53,2000, pp. 249-264.


Karl Aiginger (* 1948) ist seit 2005 Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) und Honorarprofessor für Volkswirtschaft an der Johannes-Kepler-Universität Linz.
Karl.Aiginger@wifo.ac.at


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2010, S. 22-25
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2010