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NAHOST/1081: Erdbebennothilfe blockiert - Aufhebung westlicher Sanktionen gegen Syrien gefordert (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 8. Februar 2023
german-foreign-policy.com

Sanktionen gegen Nothilfe

Hilfsorganisationen fordern Aufhebung der EU-Sanktionen gegen Syrien, weil sie die Erdbeben-Nothilfe blockieren. Sanktionen tragen seit Jahren massiv zum Hunger in Syrien bei.


DAMASKUS/BERLIN - Hilfsorganisationen fordern die sofortige Aufhebung der EU-Sanktionen gegen Syrien, da diese die Nothilfe nach dem verheerenden Erdbeben blockieren. Die Sanktionen träfen schon "seit Jahren die Bevölkerung schwer", erklärt der Generalsekretär des Middle East Council of Churches (MECC); ihretwegen komme nun aber auch noch die kirchliche "Erdbebenhilfe nicht in Syrien an". Der Leiter des syrischen Roten Halbmonds berichtet, sanktionsbedingter Treibstoffmangel verhindere, dass genug Hilfskonvois in das syrische Erdbebengebiet aufbrechen könnten. Die Sanktionen werden bereits seit Jahren von Hilfsorganisationen wie der Caritas scharf kritisiert, weil sie Armut und Hunger im Land eskalieren lassen. In Syrien sind, da Nahrungsmittelimporte wie auch die Einfuhr etwa von Dünger und Geräten für die Landwirtschaft sanktionsbedingt kaum noch möglich sind, laut Angaben des World Food Programme zwölf von 22 Millionen Einwohnern Nahrungsmittelunsicherheit ausgesetzt. Statt die Sanktionen aufzuheben, verlangt Außenministerin Annalena Baerbock, Grenzübergänge in Nordsyrien zu öffnen - und macht sich so das Erdbeben zunutze, um eine alte westliche Forderung durchzusetzen.

Der Streit um die Grenzübergänge

Der erbittert geführte Streit um die Grenzübergänge in Nordsyrien dauert mittlerweile seit mehreren Jahren an. Im Jahr 2014, als der Krieg in Syrien noch umfassend tobte, wurden vier Grenzübergänge im Norden des Landes bestimmt, über die Hilfsgüter in Gebiete gebracht werden durften, die nicht von der Regierung in Damaskus kontrolliert wurden. Seitdem hat sich die Lage im Land jedoch beträchtlich verändert; die Regierung hat die Kontrolle über weite Teile des Landes zurückgewonnen. Sie ist seit Jahren bereit und in der Lage, den Transport von Hilfsgütern nicht mehr über das Ausland, sondern über syrisches Territorium in diejenigen Gebiete zu gewährleisten, die bis heute von Aufständischen gehalten werden. Faktisch geht es besonders um die Provinz Idlib, in der bis heute der Al Qaida-Ableger Hayat Tahrir al Sham (HTS) die Macht innehat. Damaskus insistiert darauf, Hilfstransporte für Idlib über sein Territorium abzuwickeln, und wird dabei von Moskau unterstützt, das im UN-Sicherheitsrat nur noch Lieferungen über einen einzigen Grenzübergang aus der Türkei direkt nach Idlib zustimmt, den Übergang Bab al Hawa. Der Westen wiederum, der die erneute Öffnung der Grenzübergänge erzwingen will, um Syriens Souveränität zu schwächen, stellt sich bei den Lieferungen über syrisches Territorium quer.

Die Folgen der Strafmaßnahmen

Eine Ursache dafür sind die Sanktionen gegen Syrien, die die westlichen Staaten bis heute aufrechterhalten und die Hilfslieferungen über syrisches Territorium verkomplizieren, wenn nicht gar unmöglich machen. Sanktionen wurden von den USA, von der EU und weiteren westlichen Staaten verhängt; die EU hat sie zuletzt Ende Mai vergangenen Jahres um ein Jahr verlängert.[1] Dabei sind ihre Folgen für die syrische Bevölkerung katastrophal. Bereits seit Jahren wird regelmäßig darauf hingewiesen, dass sie die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten verhängnisvoll erschweren. In einer Analyse, die im Juli 2022 an der renommierten Bostoner Tufts University veröffentlicht wurde, heißt es, die Sanktionen verhinderten nicht nur den Import von Lebensmitteln, indem sie - den Transport- und den Finanzsektor blockierend - Lieferung und Bezahlung völlig unmöglich machten. Sie schädigten auch die in Syrien traditionell starke Landwirtschaft, indem sie die Einfuhr etwa von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln, von Gerät wie Bewässerungspumpen und Bulldozern und sogar von Treibstoff verböten. Hinzu komme, dass sie stark zum Absturz der syrischen Währung beigetragen hätten und nicht zuletzt Überweisungen von Angehörigen aus dem Ausland - eine wichtige Einkommensquelle - erschwerten.[2]

"Die Bombe der Armut"

Entsprechend werden die Sanktionen international schon seit Jahren immer wieder scharf kritisiert (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Zu den Organisationen, die regelmäßig die sofortige Aufhebung der Sanktionen gefordert haben, da sie der Bevölkerung schweren Schaden zufügen, gehört das katholische Hilfswerk Caritas. Auf einer Veranstaltung der Caritas rund zehn Jahre nach dem Beginn der Unruhen in Syrien im März 2011 beklagte der Apostolische Nuntius in Damaskus, Mario Zenari, in dem Land, das jetzt eine Zeitlang von Bomben und Raketen verschont geblieben sei, sei "die schreckliche 'Bombe' der Armut explodiert".[4] Tatsächlich grassieren Armut und Hunger in Syrien, verursacht insbesondere durch die westlichen Sanktionen, in furchtbarem Ausmaß. Von den etwas über 22 Millionen Einwohnern litten laut Angaben des World Food Programme (WFP) zwölf Millionen an Nahrungsmittelunsicherheit, 2,5 Millionen sogar an schwerer.[5] Eine der Ursachen sei, hieß es, dass sich der Preis für einen Standard-Nahrungsmittelkorb von Oktober 2019 bis Oktober 2022 um den Faktor 15 verteuert habe. Ende Januar teilte das WFP mit, in Syrien gebe es jetzt mehr Hunger denn je seit Beginn des Kriegs; demnächst könnten 70 Prozent der Bevölkerung außerstande sein, sich angemessen zu ernähren.[6]

Die Bevölkerung im Visier

Nach dem katastrophalen Erdbeben in der Türkei und in Syrien, das in beiden Ländern Tausende Todesopfer gefordert und verheerende materielle Schäden angerichtet hat, fordern nun Hilfsorganisationen mit neuem Nachdruck die sofortige Aufhebung der Sanktionen. Die Sanktionen verschlimmerten die ohnehin "schwierige humanitäre Situation", kritisierte gestern der Leiter des syrischen Roten Halbmonds, Khaled Hboubati. So gebe es ihretwegen etwa "keinen Treibstoff", um Hilfskonvois in die Erdbebengebiete zu entsenden.[7] Die EU müsse die Maßnahmen umgehend aufheben. Dieser Forderung schloss sich gestern der Generalsekretär des Middle East Council of Churches (MECC), Michael Abs, an. Im MECC sind rund 30 Kirchen und kirchliche Gemeinschaften sämtlicher großen Konfessionen zusammengeschlossen. "Die Sanktionen treffen seit Jahren die Bevölkerung schwer", hält Abs fest: "Wegen der Sanktionen kommt nun auch die Erdbebenhilfe nicht in Syrien an, weil wir keine Gelder aus dem Libanon nach Syrien überweisen können."[8] Experten weisen zudem darauf hin, dass die Sanktionen nicht nur die Nothilfe blockieren: Sie hätten auch das Ziel, den Wiederaufbau kriegszerstörter Infrastruktur zu verhindern - und würden deshalb den Wiederaufbau nach dem Erdbeben wohl ebenfalls erschweren.[9]

Die Ziele des Westens

Westliche Regierungsstellen haben bereits erklärt, dass sie die Sanktionen trotz deren fataler Auswirkungen auf die Nothilfe nicht aufheben werden: Ein solcher Schritt wäre "kontraproduktiv", wird etwa Ned Price, Sprecher des US-Außenministeriums, zitiert.[10] In Berlin ist ebenfalls keine Bereitschaft zu erkennen, den einmütigen Forderungen christlicher wie auch islamischer Hilfsorganisationen aus dem Nahen und Mittleren Osten nachzugeben. Stattdessen versteift sich die Bundesregierung darauf, den alten Konflikt um die Öffnung der Grenzübergänge in Nordsyrien für Hilfslieferungen wieder aufleben zu lassen, um die Erdbebenkatastrophe zur Durchsetzung lange verfolgter politischer Ziele zu nutzen. "Zentral" sei jetzt nicht eine Aufhebung der Sanktionen, sondern "die Öffnung der Grenzübergänge", äußerte gestern Außenministerin Annalena Baerbock; "alle internationalen Akteure - Russland eingeschlossen" - sollten jetzt "ihren Einfluss auf das syrische Regime nutzen", um die alte westliche Forderung durchzusetzen.[11] Welches Interesse Russland haben soll, der Forderung einer Politikerin nachzukommen, die sich im Krieg mit ihm sieht, ist allerdings unklar - umso mehr, als das Land, ebenso wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Iran und weitere Staaten, längst Nothilfe nach Damaskus auf den Weg gebracht hat.


Anmerkungen:

[1] Syrien: Sanktionen um ein weiteres Jahr verlängert. consilium.europa.eu 31.05.2022.

[2] Mohammad Kanfash: Sanctions and Food Insecurity in Syria. sites.tufts.edu 06.07.2022.

[3] S. dazu Der Krieg nach dem Krieg
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8200
und Hoffen auf die Hungerrevolte.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8307

[4] Stop sanctions. After 10 years of war Syria is now under the 'bomb' of poverty. caritas.org 23.03.2021.

[5] WFP Syria Situation Report #11. November 2022.

[6] Hunger soars to 12-year high in Syria, WFP chief calls for urgent action. wfp.org 27.01.2023.

[7] Abby Sewell, Kareem Chehayeb: Aid to quake-hit Syria slowed by sanctions, war's divisions. apnews.com 07.02.2023.

[8] Michael Maier: Christliche Kirchen fordern Ende der EU-Sanktionen gegen Syrien. berliner-zeitung.de 07.02.2023.

[9], [10] Abby Sewell, Kareem Chehayeb: Aid to quake-hit Syria slowed by sanctions, war's divisions. apnews.com 07.02.2023.

[11] Baerbock verlangt Öffnung der Grenze zwischen Türkei und Syrien. spiegel.de 07.02.2023.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 10. Februar 2023

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