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BERICHT/034: Am Lebensrand - der assistierte Suizid ... Palliativmediziner geben Gesetzentwürfen ein "ungenügend" (SB)


Palliativmediziner geben Gesetzentwürfen ein "ungenügend"

Anhörung von Sachverständigen im Bundestag zur Neuregelung der Sterbehilfe (Teil 2)

Von Christa Schaffmann - 7. Dezember 2022


Anders als die große Mehrheit der Juristen (Schattenblick berichtete darüber am 2. Dezember) [1] gaben Sachverständige aus der Palliativmedizin und weiteren Ärztegruppen allen drei Gesetzentwürfen zur Neuregelung der Sterbehilfe mehr oder weniger schlechte Noten. Am Ende abstimmen werden nicht sie, sondern der Deutsche Bundestag. Ihre Kommentare und Empfehlungen haben dennoch Gewicht. Nach der Anhörung am 28. November scheint es nicht mehr so klar, ob im Januar oder Februar eine Neuregelung der Sterbehilfe verabschiedet werden wird. Der folgende Bericht erklärt, wieso.


Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), vertreten durch Heiner Melching, sieht bei den Entwürfen für die Gruppe der Menschen mit fortschreitenden Erkrankungen und begrenzter Lebenserwartung "gravierende Mängel, Unschärfen und missverständliche Regelungen, die inhaltlich unzureichend erscheinen und in der Umsetzung nicht praktikabel sind". Deshalb lehnt die DGP die Umsetzung dieser Gesetzesvorhaben ab. Stattdessen empfiehlt sie die Fortsetzung der Diskussion über einen angemessenen Umgang mit der assistierten Selbsttötung. Zu erörtern sei u. a. die Frage, ob eine gesetzliche Regelung der Suizidprävention überhaupt zielführend sein kann oder ob stattdessen nicht andere flankierende Maßnahmen das im Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 26. Februar 2020 bestätigte Grundrecht auf Inanspruchnahme von Hilfe beim Suizid besser abbilden können. "Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die aktuell gültige Gesetzeslage der Ausübung dieses Grundrechts nicht im Wege steht ... und diese bereits praktiziert wird."

In der Tat besteht keine Notwendigkeit einer gesetzlichen Neuregelung; Karlsruhe hat diese auch nie gefordert. Doch das Ziel der DGP ist nicht, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte, das Urteil des BVerfG einfach zu akzeptieren. Sie strebt zunächst im Rahmen der Weiterentwicklung der Suizidprävention die "Eingrenzung der unerwünschten Aktivitäten von Suizidhilfeorganisationen" an, sieht in ihnen "Profiteure einer gesetzlichen Regelung", ohne darauf näher einzugehen, was an diesen "unerwünscht" ist und wer da wie Profit macht statt Menschen bei der Umsetzung ihres verfassungsmäßig verbindlichen Rechts zu helfen.

Dass sie außerdem eine Liste sehr vernünftiger Vorschläge zur Verbesserung der palliativen Angebote zur besseren Information der Bevölkerung und ihrer Beratung vorlegt, lehnen auch die Verfasser der drei Gesetzentwürfe nicht ab; nur gehören diese Vorschläge eben nicht in ein Gesetz, dass der Regelung der Umsetzung des Karlsruher Urteils dient.

Interessant ist, dass die DGP beim assistierten Suizid die "Beziehungsebene" zwischen der/dem Assistenzausführenden und dem Suizidwilligen anspricht und die "Juristizierung" des Lebensendes kritisiert. Die DGP sieht die Gefahr eines formalen Verwaltungsaktes wegen mangelnder Qualität der zwischenmenschlichen Beziehung zwischen dem Sterbewilligen auf der einen und ihm fremden Ärzten und Beratern auf der anderen Seite. Genau diese Gefahr droht tatsächlich durch zu viele Prüfungs- und Beratungstermine im Gesetzentwurf von Castellucci et al. Die Verwaltungsakte gehören zu den Versuchen, den assistierten Suizid unbedingt zu erschweren. Ob sich das durch den Einsatz von Palliativmedizinern ändern würde, darf bezweifelt werden.

Einige Kritikpunkte der DGP verdienen tatsächlich ein Nachdenken unter den Verfassern der Gesetzentwürfe oder eignen sich sogar als Ergänzungen. Das betrifft u. a. die Fristen und Konzepte für die Ermittlung der Dauerhaftigkeit und Freiverantwortlichkeit, die willkürlich anmuten. Der DGP fehlt auch eine Regelung der Begleitumstände des assistierten Suizids: Wo soll er stattfinden? Kann das Setting frei gewählt werden, wodurch selbst der öffentliche Raum infrage käme? Wird ein tödliches Mittel dem Sterbewilligen mit nach Hause gegeben und ihm damit der Sterbezeitpunkt überlassen?

Freiverantwortliche Entscheidung nicht nur durch Krankheit gefährdet

Die Freiverantwortlichkeit bei der Entscheidung über den eigenen Tod ist durch das BVerfG ausdrücklich gefordert. Dem schließt sich die DGP an. Diese wäre nicht gegeben bei einigen psychischen Erkrankungen und bei Druck durch Angehörige oder Freunde, von der Möglichkeit des Freitods Gebrauch zu machen. Allerdings weisen weder die DGP noch die Verfasser der Gesetzentwürfe auf eine ebenfalls mögliche gegenteilige starke Beeinflussung durch Ärzte - aus ärztlichem Ethos - und Familienmitglieder hin, die dem Sterbewilligen seinen Wunsch unbedingt ausreden wollen, u. a. weil sie ihn nicht nachvollziehen können oder den eigenen Wunsch nach Weiterleben des geliebten Menschen höher bewerten als dessen freie Entscheidung über seinen Tod. Von einzelnen Sachverständigen wird darauf hingewiesen, dass viele zum Sterben Entschlossene darüber nicht oder erst sehr spät mit Familienmitgliedern sprechen. Interpretiert wird das als Zeichen der Unsicherheit bezogen auf den Sterbewunsch. Betroffene sehen das anders. Sie fürchten diese Gespräche, weil ihre Entscheidung nach Abwägung aller Konsequenzen feststeht und sie sich statt Debatten darüber nur noch Verständnis, Solidarität und vielleicht auch Hilfe bei den praktischen Dingen in der letzten Lebensphase wünschen.

Möglicher Rollenkonflikt für Ärzte bei der Suizidassistenz

Die aktuelle rechtliche Lage bedeutet für Menschen, die sich einen assistierten Suizid wünschen, aus der Perspektive der DGP ein Maximum an Freiheit und Selbstbestimmung. "Für die Ärztin/den Arzt geht dies mit einer großen Verantwortung und unter Umständen auch mit erheblichen Rollenkonflikten einher. Angesichts der Tragweite einer Entscheidung zur Suizidassistenz erscheint dies allerdings eine zu akzeptierende und eventuell sogar notwendige Zumutung", schreibt die DGP in ihrer Stellungnahme. "Nach unserem Verständnis kann der Impuls, das eigene Leben zu beenden, nur vom Betroffenen selbst, nicht aber vom Arzt oder der Ärztin ausgehen; es gibt keine medizinische Indikation, den Tod herbeizuführen." Dennoch - so merkt die DGP kritisch an - sei ihre Berufsgruppe häufig adressiert, sowohl als Beratende als auch als Assistenzausführende. Durch die Definition von Prozessschritten - wie in den vorgelegten Gesetzentwürfen - sei hier eine reale Gefahr zu sehen, dass schleichend dem Übergang von Suizidunterstützung ins medizinische Leistungsspektrum Vorschub geleistet wird und sich immer mehr Menschen für einen assistierten Suizid entscheiden.

Dunkle Zukunftsvisionen

Diese Sorge teilt die DGP nicht nur mit einigen Abgeordneten, wie die Anhörung im Rechtsausschuss erkennen ließ. Behauptet wurden alarmierende Entwicklungen in anderen Ländern nach Einführung liberaler Sterbehilfe ungeachtet der kaum bestehenden Vergleichbarkeit mit der Situation in Deutschland. Der peinliche Höhepunkt bei diesem Thema war der Vergleich neuer Angebote von Quark- und Joghurt-Sorten in Supermärkten mit der liberalen Handhabung des assistierten Suizids unter dem Motto: Was angeboten wird, wird auch von immer mehr Menschen mit Selbstverständlichkeit gekauft. Daraus wurde die Sorge abgeleitet, Selbsttötung mit Assistenz könne sich zu einer Art Modeerscheinung entwickeln, die andere Menschen unter Druck setzen würde dem "Trend" zu folgen.

Suizidprävention erst ausbauen - Gesetzgebung verschieben?

Das Fazit der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin: Suizidprävention ist ein zwingend notwendiger erster Schritt, bevor eine gesetzliche Neuregelung des assistierten Suizids überhaupt stattfindet. Sofern eine gesetzliche Regelung vom Bundestag als unumgänglich eingeschätzt werde, sollten die von der DGP in ihrer Stellungnahme erwähnten kritischen Anmerkungen unbedingt beachtet werden.

Andreas Lob-Hüdepohl, Professor für Theologische Ethik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin und Mitglied des Deutschen Ethikrates, gab als eingeladener Sachverständiger seine Stellungnahme ausdrücklich in seinem eigenen Namen ab. Die Freiverantwortliche Suizidentscheidung ist seines Erachtens als Ausdruck des Rechts auf Selbstbestimmung immer zu respektieren. "Aber auch freiverantwortliche Entscheidungen sind immer in konkrete Lebensumstände eingebunden." Entscheidungen für den Tod fallen - so Lob-Hüdepohl - weil die betreffende Person unter den obwaltenden Bedingungen ihres Lebens (Krankheit, Einsamkeit, Erschöpfung, Lebenssattheit usw.) nicht mehr leben kann und/oder leben will. "Suizidwünsche sind oftmals nicht nur unbeständig ('volatil'), sondern in der Regel gepaart mit einem veritablen Lebenswillen." In Ermangelung befriedigender Gestaltungsmöglichkeiten würden die Betroffenen im Suizid einen Akt letzter Freiheit sehen.

Sollte sich an der Grenze einer suizidpräventiven Begleitung von Menschen in suizidalen Lebenskrisen der Wunsch nach einem Suizid mit oder ohne Assistenz verdichten, hätten Einrichtungen und Institutionen die Pflicht, diese Entscheidung zu respektieren. Wie lange ein Sterbewilliger eine solche Begleitung ertragen soll, erwähnt er nicht, sondern schreibt nur: An diesem Punkt fände alles Bemühen um eine Suizidprävention ihre ethische Grenze.

Die Dringlichkeit einer gestärkten breitgefächerten Suizidprävention besteht Lob-Hüdepohl zufolge unabhängig von einer rechtlichen Regelung der Suizidassistenz. Er unterstützt daher den diesbezüglich, zusätzlich zum Gesetzentwurf, gestellten Antrag von Castellucci et al. [2] zeitgleich mit oder - aus seiner Sicht weit besser - sogar noch vor einer gesetzlichen Neuregelung des assistierten Suizids zur weiteren konkreten Ausgestaltung der Suizidassistenz. Dieser Antrag unterstreiche den Willen, in jedem Fall einer bestimmten Form der Normalisierung des Suizids im Sinne einer emotionalen Gewöhnung und damit einer schleichenden "Vergleichgültigung" entgegenzuwirken.

Es gibt viel zu tun jenseits der Neuregelung des assistierten Suizids

Den Teilnehmern der Anhörung lag auch eine Stellungnahme des Nationalen Suizidpräventionsprogramms (NaSPro) vor, das von Prof. Dr. med. Barbara Schneider vertreten wurde. Darin wird eine lange Liste von Lücken trotz schon jetzt wirksamer Suizidprävention präsentiert. An erster Stelle kritisiert das NaSPro, dass die existierenden Angebote selten dauerhaft finanziert sind und häufig Projektcharakter haben. Hilfsangebote seien zudem wenig bekannt und nicht flächendeckend verfügbar. Es fehle an Kenntnissen über Suizidalität; das betreffe auch einen großen Anteil der Beschäftigten in Gesundheitsberufen. Forschung zum Thema werde nicht gezielt gefördert. Suizidstatistiken stünden nur mit großer zeitlicher Verzögerung zur Verfügung. - Woher bei einer so schlechten wissenschaftlichen Grundlage und Datenbasis die Sicherheit mancher Abgeordneter kommt, mit der sie zwingend die Notwendigkeit vieler Hürden oder sogar gerichtlicher Entscheidungen über die einzelnen Fälle von Suizidwilligen fordern, erschließt sich nicht.


Fußnoten:

[1] Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT
BERICHT/033: Am Lebensrand - der assistierte Suizid ... Gesetzentwürfe zum assistierten Suizid auf juristischem Prüfstand (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0rb0033.html

[2] Antrag "Suizidprävention stärken und selbstbestimmtes Leben ermöglichen" vom 3. März 2022
Deutscher Bundestag - Drucksache 20/1121
https://dserver.bundestag.de/btd/20/011/2001121.pdf


Über die Autorin:

Christa Schaffmann ist Diplomjournalistin und arbeitet seit zehn Jahren als freie Autorin und PR-Beraterin, nachdem sie zehn Jahre Chefredakteurin von Report Psychologie, der Fach- und Verbandszeitschrift des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen, war.

Weitere Artikel der Autorin zum Thema "Assistierter Suizid" in Form von Berichten und Gesprächen mit Expert*Innen verschiedener Berufs- und Interessengruppen sind im Schattenblick unter dem kategorischen Titel "Am Lebensrand - der assistierte Suizid ..." zu finden unter:

Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT → BERICHT
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/ip_medizin_report_bericht.shtml

Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT → INTERVIEW
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/ip_medizin_report_interview.shtml


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 178 vom 24. Dezember 2022


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