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BERICHT/033: Am Lebensrand - der assistierte Suizid ... Gesetzentwürfe zum assistierten Suizid auf juristischem Prüfstand (SB)


Gesetzentwürfe zum assistierten Suizid auf juristischem Prüfstand

Öffentliche Anhörung von Sachverständigen im Rechtsausschuss des Bundestages (Teil 1)

Von Christa Schaffmann - 30. November 2022


Sachverständige und Abgeordnete des Deutschen Bundestages haben am 28.11.2022 in Berlin sehr intensiv und viele Stunden lang über eine mögliche Neuregelung des assistierten Suizids debattiert. Alle drei vorliegenden Gesetzentwürfe wurden einer kritischen Prüfung unterzogen. Den Teilnehmern lagen zudem Stellungsnahmen namhafter Juristen, Mediziner und Ethiker vor. Abgeordnete des Bundestages konnten die anwesenden Sachverständigen zudem befragen. Fazit nach rund 6 Stunden Debatte in einem Satz: Es gibt noch viel zu tun - sei es die Überarbeitung der Entwürfe, die Präzisierung einzelner Aspekte und unter Umständen auch die Entscheidung über ein Zusammengehen von zwei Abgeordnetengruppen (Helling-Plahr et al. und Künast et al.), wodurch eine klare Mehrheit im Parlament erreicht werden könnte. Ob das alles bis zum zweiten Jahrestag des Karlsruher Urteils möglich sein wird, ist fraglich. Damals hatte das Bundesverfassungsgericht(BVerfG) das Verbot assistierter Sterbehilfe für verfassungswidrig erklärt. Es verlangte außer der Streichung des Paragraphen 217 kein neues Gesetz, überließ es aber dem Gesetzgeber, Regulierungen festzulegen. In einem ersten Bericht über die öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses des Bundestages unter Beteiligung des Gesundheitsausschusses widmen wir uns heute der Frage, wie nah oder fern aus der Sicht der Sachverständigen die drei Gesetzentwürfe vom Karlsruher Urteil sind und ob sie damit gegebenenfalls neue Klagen vor dem BVerfG provozieren. Ein demnächst erscheinender Bericht wird auf medizinische und ethische Aspekte eingehen.


Nach Einschätzung von Prof. Dr. Helmut Frister (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) vermag der Entwurf der Abgeordneten um Prof. Dr. Lars Castellucci (SPD) weder in seiner strafrechtlichen Grundkonzeption noch hinsichtlich des Verfahrens zur Überprüfung der Freiverantwortlichkeit bei der Suizidentscheidung zu überzeugen. Auch der Entwurf der Gruppe um Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) ließe sich aus seiner Sicht nicht empfehlen. Der von Katrin Helling-Plahr (FDP) dagegen sei in seinen Grundentscheidungen überzeugend. Frister empfiehlt allerdings, den Gedanken aus Künasts Entwurf eines besonderen Verfahrens bei Vorliegen einer medizinischen Notlage aufzugreifen und in derartigen Fällen die Beratung durch staatlich anerkannte Beratungsstellen und durch die Beurteilung eines zweiten unabhängigen Arztes zu ersetzen. Diese Empfehlung ist nicht unstrittig, wie dieser Bericht noch zeigen wird.

Klare Absage an Generalprävention und strafrechtliche Abschreckung

Nach Einschätzung von Prof. Dr. Karsten Gaede - Geschäftsführender Direktor des Instituts für Medizinrecht an der Bucerius Law School in Hamburg - setzt der Entwurf von Castellucci auf strafrechtliche Abschreckung, also auf eine für unverzichtbar erklärte Generalprävention. Trotz der grundlegend "neuen Sichtweise des Verfassungsrechts auf den autonomen Suizid wollen die Verfasser diesen unter Androhung von Strafen weiterhin vermeiden und dem Normalzustand der gesellschaftlichen Akzeptanz einer rechtlich gewährten Grundrechtsausübung entgegentreten". Bei dem Versuch, Strafrecht als Heilsbringer einzusetzen, werde von den Verfassern übersehen, dass die Anerkennung des Grundrechts auf einen assistierten freiverantwortlichen Suizid nicht zur faktischen Unmöglichkeit desselben führen darf. Politik solle vielmehr nach einem verhältnismäßigen Ausgleich suchen. Gaede kritisiert zudem Durchführungsmängel im Entwurf und ein "krasses Desinteresse an absehbaren Praxisproblemen", sollte er eine Mehrheit bekommen.

"Insgesamt verlangt § 217 Abs. 2 StGB-E den Untersuchenden und Beratenden eine Art Herkulesaufgabe ab, weil ihnen die letztendlich einzig auf Suizidvermeidung bedachten Abgeordneten [...] offenbar keine Norm praktikabel machenden Hilfestellungen an die Hand geben wollen [...]. So dürfte Suizidassistenz zwar vereinzelt möglich sein, wenn das Engagement mehrerer mutiger Fachleute zusammenkommt [...]. Eine eher zufällige und bei Einzelgruppen verbleibende Anwendbarkeit des Rechts sollte dem Parlament indes nicht genügen." Gaede empfiehlt eine "beträchtliche Überarbeitung", sollten die Abgeordneten um Castellucci am Ende doch "auf eine real zulässige Suizidassistenz abzielen". - Zweifel daran sind weit verbreitet.

Künasts Entwurf dagegen hält Gaede für eine maßvollere Alternative zum großflächigen Einsatz des Strafrechts. Gut wäre eine detailliertere Erklärung, wie die medizinische Beurteilungskompetenz zu sichern wäre. Dem Entwurf von Helling-Plahr bescheinigt er eine "zulässige moderate Form der weich-paternalistischen Hürden". Bedenken meldet er hinsichtlich der Großzügigkeit an. An keiner Stelle werde die tatsächliche Einhaltung von Anforderungen über Sanktionsvorschriften mit Nachdruck versehen. Eine weitere Anmerkung dürfte allen Gesetzentwürfen guttun, auch wenn Gaede sie explizit im Zusammenhang mit dem Entwurf von Helling-Plahr erwähnt: "Überdies ist nicht zu verkennen, dass schon die vorgeschlagenen Kommunikationsobliegenheiten für den Betroffenen, der sich fremden Personen öffnen muss, sehr belastend sind." Dem dürften alle Menschen zustimmen, die derzeit die Debatte um den assistierten Suizid verfolgen, weil sie selbst über diese Option nachdenken.

Sterbehilfe-Organisationen erlauben oder verbieten?

Eine weitere Grundfrage, die das Parlament zu entscheiden hat, sieht Gaede in der Beantwortung der Frage, ob Sterbehilfeorganisationen zu dulden oder durch eine staatliche Regelung, Zulassung und Aufsicht zu administrieren sind, wie in den Entwürfen von Helling-Plahr und Künast vorgesehen. Bei allen dahinter stehenden Sorgen, dass unter Umständen zum Suizid motiviert werde, betont Gaede den vom Karlsruher Urteil gesetzten Rahmen: Eine erneut auf jede Vermeidung von Suizidwünschen ausgerichtete staatliche Regelungsmaxime ist mit dem Recht auf einen selbstbestimmten Suizid unvereinbar! Aus seiner Sicht spricht eine Reihe von Gründen dafür, Sterbehilfe-Organisationen, die Suizidassistenz leisten, zu regeln. Für bedenklich hält er es, die Verantwortung für die Suizidassistenz auch jenseits von Fällen eines primär medizinisch begründeten Suizidwunsches ausschließlich der Ärzteschaft zuzuweisen. Das sei sowohl bei Castellucci, der von "Kernkompetenz von Ärzten" beim Suizid spricht, als auch bei Helling-Plahr zu kritisieren. Dagegen ließe der Ansatz von Künast erkennen, dass es grundsätzlich nicht um eine originär der Ärzteschaft zuzuschreibende Problematik gehe.

Strafe für Hilfe bei strafloser Haupttat? - Ein Unding!

Aus juristischer Sicht bewertet auch der Deutsche Anwaltsverein den Entwurf der Gruppe um Castellucci sehr kritisch, u.a. weil es keine gesicherten Erkenntnisse gebe, inwieweit die Zulassung von Sterbehilfe kausal zu vermehrten Suiziden führen kann, weshalb "ein Strafbedürfnis für die geschäftsmäßige Förderung der straflosen Selbsttötung nicht erkennbar und nicht begründet" sei. Die reine Möglichkeit, dass ein straffreier assistierter Suizid bei mehr Menschen den Sterbewunsch erzeugen oder intensivieren könnte, sei im Sinne der Rechtsgutlehre nicht ausreichend, um hierauf - wie die Gruppe um Castellucci es plant - mit einer strafrechtlichen Regelung zu reagieren. Es gebe mildere und besser geeignete Instrumente, wie sie der Verein im Entwurf von Helling-Plahr sieht. Untauglich sei der Entwurf von Castellucci auch, weil er "etwas zum Gefährdungsdelikt erklärt, was eine Unterstützungshandlung bei einer straflosen Haupttat ist". Anders gesagt: Wenn die Selbsttötung als solche nicht verboten ist (und das ist sie nicht!), kann auch die Hilfe bei der Selbsttötung nicht strafbar sein.

Kollision mit angeblich auch beim Suizid existierender Pflicht des Staates zum Lebensschutz

Eine Ausnahme unter den Juristen bezüglich der Bewertung der Gesetzentwürfe macht Prof. Dr. Arndt Sinn, Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches und Europäisches Straf- und Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht sowie Strafrechtsvergleichung (Universität Osnabrück). Aus seiner Perspektive setzt Castelluccis Entwurf die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Regulierung der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung um und bringt die seines Erachtens auch in diesem Zusammenhang bestehende Pflicht des Lebensschutzes durch den Staat mit dem Recht des Einzelnen in einen angemessenen Ausgleich. Er begrüßt das Verbot von Werbung für die Hilfe zur Selbsttötung. Die notwendigen Informationen stünden, wie die Verfasser in ihrer Entwurfsbegründung versichern, zur Verfügung, indem Ärzte, Krankenhäuser und sonstige Einrichtungen sie liefern dürften.

Rechtsanwalt Prof. Dr. Christoph Knauer, Honorarprofessor für Wirtschaftsrecht und strafrechtliche Revision an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Vorsitzender des Ausschuss Strafprozessrecht der Bundesrechtsanwaltskammer, erinnert nachdrücklich daran, dass das Bundesverfassungsgericht von der Freiheit des Einzelnen ausgeht, deren Beschränkung rechtfertigungsbedürftig ist. "Mit der erklärten Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit des Paragraphen 217 StGB ist die Förderung der Selbsttötung zwar umfassend straflos gestellt, dennoch sehen sich Suizidwillige und Menschen, die ihnen helfen wollen, weiterhin rechtlichen und faktischen Hürden gegenüber, die aus einer fehlenden gesetzlichen Ausgestaltung der Suizidhilfe resultieren", so Knauer. Damit stellt er sich auf die Seite all derer, die eine gesetzliche Neureglung unterstützen und sie nicht für unnötig halten. Castelluccis Entwurf jedoch sei dafür nicht geeignet, da er die Suizidhilfe im Ausgangspunkt wieder unter Strafe stellen will; das ist mit dem Grundgesetz und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 nicht vereinbar."

Faktisch kein Raum zur Wahrnehmung verfassungsrechtlich geschützter Freiheit

Das BVerfG habe unmissverständlich klargestellt, dass Eingriffe in das Recht auf selbstbestimmtes Sterben durch ein Verbot der Hilfe zur Selbsttötung verfassungsrechtlich nur dann verhältnismäßig sind, wenn die assistierte Selbsttötung nicht so sehr verengt werde, dass dem Einzelnen faktisch kein Raum zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich geschützten Freiheit verbleibt. Im Urteil des BVerfG heißt es dazu: "Wenn die Rechtsordnung bestimmte, für die Autonomie gefährliche Formen der Suizidhilfe [...] unter Strafe stellt, muss sie mindestens sicherstellen, dass trotz des Verbots ein Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt." Helfer müssten ihre Bereitschaft zur Suizidhilfe auch rechtlich umsetzen dürfen, sonst bliebe das Recht des Einzelnen faktisch leer. Solange es hilfsbereiten Dritten, so Knauer, grundsätzlich verboten bleibt, Suizidhilfe zu leisten, wird die Mehrheit davon absehen, solche Hilfe überhaupt anzubieten.

Diesem Maßstab folgend verkehrt der Entwurf von Castellucci Knauer zufolge die Grundaussage des BVerfG ins Gegenteil. Das Gericht betont, dass die Einschränkung der Freiheit des Einzelnen (hier: die Freiheit zu Sterben wann und wie er will) einer hohen Rechtfertigungslast unterliegt. Die Verfasser um Castellucci reißen die Rechtfertigungshürde, setzen die Rechtfertigung ihres Vorgehens schlicht voraus und belassen es nur bei einem minimalen Rest an Freiheit.

Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des § 217 StGB-E bestünden auch an der Forderung nach zwei fachpsychiatrischen Begutachtungen innerhalb von drei Monaten. Eine derartige Überregulierung lasse erwarten, dass viele Suizidwillige das Angebot realistischer Weise wegen Ärztemangels nicht mehr in Anspruch nehmen können, weil sie inzwischen gestorben sind.

Keine Bewertung der Motive von suizidgeneigten Menschen erlaubt

Dagegen zeuge Künasts Entwurf von dem Ziel, die Entscheidung Karlsruhes zu respektieren und dem Sterbewilligen Zugang zu einem tödlichen Medikament zu gewähren. Allerdings habe Karlsruhe es keinesfalls als zulässig erachtet, zwischen schwerkranken und nicht-schwerkranken Suizidwilligen zu unterscheiden und bei Letzteren höhere Anforderungen zu stellen. Vielmehr habe das BVerfG wiederholt betont, dass die Beweggründe der Sterbewilligen keinerlei Bewertung etwa "anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit" zugänglich sind, so Knauer. Auch die gesetzliche Festlegung auf ein Medikament werde den Grundsätzen des BVerfG nicht gerecht. Abgesehen davon berücksichtige diese eine mögliche Unverträglichkeit im Einzelfall nicht; auch die erwartbare Entwicklung neuer Medikamente in der Zukunft ließe eine solche gesetzliche Festlegung außer Acht.

Helling-Plahrs Entwurf gewährleiste Knauer zufolge vollumfänglich das Recht auf selbstbestimmtes Sterben und schütze durch das umfassende Beratungskonzept und die ärztliche Aufklärung gleichzeitig die Autonomie des Einzelnen. Knauer unterstützt ausdrücklich die im Gesetzentwurf erlaubte nicht nur Ärzten zustehende Hilfe beim Suizid. Diese solle auch anderen Personen, insbesondere Angehörigen straffrei zustehen. Knauers Fazit: Allein der Entwurf von Helling-Plahr zur Regelung der Suizidhilfe entspricht im vollen Umfang den grundsätzlichen Anforderungen des BVerfG. "Der Entwurf von Castellucci ist nicht nur strafrechtsdogmatisch widersprüchlich, sondern verfassungswidrig und wird vor dem BVerfG keinen Bestand haben können."


Über die Autorin:

Christa Schaffmann ist Diplomjournalistin und arbeitet seit zehn Jahren als freie Autorin und PR-Beraterin, nachdem sie zehn Jahre Chefredakteurin von Report Psychologie, der Fach- und Verbandszeitschrift des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen, war.

Weitere Artikel der Autorin zum Thema "Assistierter Suizid" in Form von Berichten und Gesprächen mit Expert*Innen verschiedener Berufs- und Interessengruppen sind im Schattenblick unter dem kategorischen Titel "Am Lebensrand - der assistierte Suizid ..." zu finden unter:

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veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 178 vom 24. Dezember 2022


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