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DIAGNOSE/176: 10 Jahre leben mit einer schizoaffektiven Störung und ihre Überwindung - ein Erfahrungsbericht (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 174 - Heft 4/21, Oktober 2021
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen
Porträt eines mehrfachen Seitenwechsels

von Ralf-Gero C. Dirksen


Netto hatte ich rund zehn Jahre akut mit meiner schizoaffektiven Störung - der phasenhaften Kombination aus Depression und Psychose - zu tun. Meistens wurde ich in psychiatrischen Fachkliniken, überwiegend auf geschlossenen Stationen behandelt, bis ich meinen Abschluss als "Master of Desaster" (1) machte und die Krankheit hinter mir ließ. Meine Geschichte soll Anlass sein, um Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, trotzdem Hoffnung zu machen.

Erste Psychiatrieerfahrung

Meine erste Krise ereilte mich mit Mitte zwanzig, als ich mich im Studium befand. Auslöser war eine unglückliche Liebe, die mich im Innersten erschütterte. Nach der Trennung war ich verbittert, fand aber kein Ventil für meine heftigen Gefühle. Zeitweise glaubte ich, meine Ex-Freundin an bestimmten Orten zu sehen, ohne es genau bestätigen zu können. Diagnose: psychotische Depression.

Der Seitenwechsel von einem durchschnittlich unbeschwerten Studentenleben in das Grauen einer Depression kam bei mir relativ spontan und massiv. Keineswegs sind es Depressionen (Plural!), die irgendetwas unbestimmtes darstellen, so etwas wie eine schlechte Angewohnheit, die man halt hat. Depression (Singular!) ist ein nicht steuerbarer seelischer Zustand mit extremen kognitiven und körperlichen Auswirkungen: Watte im Kopf, innere Unruhe, schwere Beine. Eben noch Normalität, und dann empfindet man sich selbst als komplett anders im Vergleich zu seinem Vorleben. Ängste bestimmen den Tag; was mache ich, wenn mir die einfachsten Dinge nicht mehr gelingen? Ich konnte nicht mehr mit anderen mitschwingen, traute mich nicht mehr, jemanden anzusprechen, weil ja auch kein Selbstwert mehr vorhanden war. Ich fühlte mich vollständig von meiner Umwelt abgeschnitten, auf mich allein zurückgeworfen, unendlich einsam. Und dann die Bedrohung aus dem Innern, der man am liebsten nachgeben möchte, damit endlich alles ein Ende hat. Ich war mehr als ein Mal kurz davor, mir das Leben zu nehmen: Ich stand auf einem Hochhaus oder lag mit dem Föhn in der Wanne. Ich hatte Riesenglück und wahrscheinlich höheren Beistand, dass ich noch am Leben bin. Bei einer Depression erscheint Suizid für die Betroffenen als eine reelle Lösungsalternative.

Nach insgesamt neun Monaten war das außergewöhnliche Leben in einer psychiatrischen Fachklinik zu Ende und ich nahm mein gewohntes Leben in der Universitätsstadt wieder auf. Ich hatte das Gefühl, wieder der neugierige und ehrgeizige Mensch zu sein, nur glücklicher. Meine bestehenden Probleme wie Prüfungsangst und eine generelle Unsicherheit blieben weiterhin verdeckt.

Psychiatrie als Beruf

Das Thema Psychiatrie hatte mich aber aufgrund meiner eigenen Erfahrungen so "angefressen", dass ich nach dem Studienabschluss eine duale Ausbildung zum Public-Relations-Berater begann und mir eine Fachklinik suchte, für die ich eine PR-Konzeption verfassen konnte. Ich war beseelt von der Aufgabe der gesellschaftlichen Entstigmatisierung psychiatrischer Patientinnen und Patienten. Nicht weniger als der Imagewandel von den alten "Schlangengruben" zu einem modernen Unternehmen der Gesundheitswirtschaft schwebte mir als Ziel vor. Dabei halfen mir ganz erheblich meine eigenen persönlichen Erfahrungen, von denen ich aber in der betreffenden Klinik niemandem erzählte. Der Seitenwechsel blieb geheim. Ich wäre sonst mit meinem Anliegen Ende der Neunzigerjahre nicht ernst genommen worden. Nach dem Abschluss der PR-Ausbildung wurde ich als Leiter Kommunikation übernommen und stieg schnell zur Führungskraft für Strategie und Kommunikation auf. Berufsbegleitend absolvierte ich eine Weiterbildung in Health Care Management mit MBA-Abschluss und wechselte in die Schweiz zu einem privaten Krankenhauskonzern, wo ich Kommunikationsdirektor wurde.

Trotzdem wollte ich mich immer noch weiterbilden und mehr lernen. Ich begann deshalb ein Promotionsstudium im Fach Organisationsentwicklung und Gruppendynamik in Wien.

Dabei hatte ich nicht mit den mehrfachen Belastungen gerechnet, die auf mich zukamen. Im Job war ich häufig angespannt, im Zweifel darüber, ob meine Leistungen wirklich gut genug waren. Die üblichen Intrigen im Business und toxische Vorgesetzte setzten mir zu. Meine Frau bemerkte, dass ich nicht abschalten könne. Die Freizeit wurde von dem Dissertationsvorhaben aufgefressen, dazu kam das permanente Pendeln mit dem Flugzeug zwischen Arbeits-, Studien- und Wohnort. Ich war regelrecht ausgebrannt. Nach rund fünfzehn Jahren kam die Krankheit wieder als ausgewachsene schizoaffektive Störung. Der Profi wurde wieder Betroffener.

Odyssee durch die Psychiatrie

Diesmal war das gestörte Gefühl eine nicht enden wollende Belastung. Meist brauchte ich mehrmals täglich Professionelle und Angehörige, die mir sagen mussten, dass "alles wieder gut wird". Insbesondere meine Mutter, zu der ich eine besonders emotionale Vertrauensbeziehung habe, musste mir immer wieder das Gleiche sagen, damit ich wenigstens mal für eine Minute Glauben und Zuversicht spüren und die Angst in Schach halten konnte.

Die Therapien in den Krankenhäusern habe ich aktiv mitgemacht, wenn ich dazu in der Lage war. Ich wollte ja, dass es mir wieder besser geht. Zum Teil gab es dort innovative Ansätze wie Schwertarbeit, Wasser-Shiatsu oder eine Art osteopathische Körpertherapie. Aber auch jede Form von Sport hat bestimmt ihren Nutzen für Spannungsabbau und Genesung. Die klassische Ergo- oder Musiktherapie hat meines Erachtens aber wenig geholfen. Therapie ist immer ein indirektes Vortasten.

Bei mir besserte sich der Gesundheitszustand meist nach mehreren Wochen oder Monaten, bis er sich dann nach einigen Wochen wieder verschlechterte. Ein ewiges Auf und Ab, das mich allmählich zermürbte. Meines Erachtens ist eine psychische Erkrankung ein beschleunigender Flummi, der an die Wände einer Box - dem eigenen Wesen - springt und für seelisches Chaos sorgt. Was kann ich tun, damit der Ball wieder in der Mitte "schwebt" und ich ausgeglichen bin?

Jahrelang war ich in Kliniken, die mir vor allem mit einer immer wieder wechselnden Pharmakotherapie helfen wollten. Am Ende hatte ich das Gefühl, dass das Prinzip der Behandlung für mich "Viel hilft auch viel" lautete. Im Gegensatz dazu trat das Psychoanalytische immer mehr in den Hintergrund und wich einer "therapeutischen Begleitung", wobei das Prinzip "Walk and Talk" beim Rauchen im Park ganz sinnvoll ist: Therapeutin und Patient sind gleicher, und beim Gehen können die Gedanken besser fließen, während man sich sonst wie mit einem "Brett vor dem Kopf" fühlt. Ich habe auch eher Schutz und die Gespräche mit Pflegenden in den Kliniken gesucht als allein mein drastisches Erleben zu Hause durchstehen zu müssen.

Erneute Seitenwechsel

Sogar meine Dissertation habe ich in einer psychiatrischen Klinik zu Ende geschrieben. Ich war unsicher über meinen Weg und fragte meine Mitpatientinnen und Mitpatienten, ob ich meine Doktorarbeit abschließen sollte. Alle bejahten. So funktionierte ich mein Krankenzimmer kurzerhand zum Büro um und machte mich an die Arbeit. Das hat mir insgesamt sehr viel Auftrieb gegeben, sodass die Freiheitsgrade ohne schizoaffektive Episoden größer wurden. 2011 vollzog ich dann noch mal einen Seitenwechsel und wurde Referent im Vorstandsbereich Medizin und Qualitätssicherung der Management-Holding eines öffentlich-rechtlichen Klinikenverbundes in München; dieses Mal mit Wissen des Vorstands über meine Krankheitsgeschichte.

Das Arbeiten und Leben in der Isarmetropole hat mir sehr viel Spaß gemacht. Damit ich aber im Berufsleben mithalten konnte, glaubte ich meine Medikamente mit Zustimmung eines ärztlichen Psychotherapeuten umstellen und reduzieren zu müssen. Dies stellte sich als Fehler heraus und ließ mich schließlich in eine schwere Psychose fallen. Klinikaufenthalte in München und Baden-Württemberg schlossen sich an.

Ich hatte zwischendurch auch gute Phasen, die ich nutzte, um Versäumtes wie Bildung oder Reisen nachzuholen. Als die ständigen Aufenthalte in der Psychiatrie nicht mehr abreißen wollten, bekam ich eine Elektrokonvulsionstherapie (EKT) als "Ultima Ratio" für resistente Krankheitsverläufe. Danach dauerte es noch etwa ein halbes Jahr, bis es mir nachhaltig besser ging. Deshalb kann ich nicht genau sagen, ob es einen Kausalzusammenhang zwischen der EKT und der Verbesserung meines Zustands gab. Zwischenzeitlich hatte aber die behandelnde Oberärztin meine Zwangsentlassung veranlasst, weil ich aus ihrer Sicht nicht mehr als therapierbar galt - ein erlebter Tiefpunkt ärztlicher Behandlungskunst! Mit meiner Hoffnung war ich am Ende, ein Gefühl der Resignation machte sich breit. Es heißt ja, wenn man nicht mehr laufen kann, dann trägt einen der Herrgott. Und mich musste er viel herumtragen. Es gab unzählige Situationen, in denen ich dekompensierte. Eine Grenzerfahrung, bei der man glaubt, dass es jetzt nicht mehr weitergeht, und irgendwie schließt sich doch wieder etwas Neues an. Als ich dann in eine andere norddeutsche Klinik kam, fand ich Ruhe und Geborgenheit in der Kirche des Hauses. Mit anderen Patientinnen und Patienten sprach ich nicht viel und zog mich meist zurück. Ich litt immer an einem extremen Morgentief. Als ich dann spürte, dass das Tief immer flacher wurde, bis es ganz ausblieb, da konnte ich es fühlen: "Es ist vorbei, ich bin frei!" Sofort begann ich alles, was mir möglich war, nachzuholen - vor allem die Kontakte zu Freunden und das Reisen.

Lösungsansätze

Im Laufe der Zeit habe ich dann einiges für mich herausgefunden. Erst mal musste ich mir Zeit verschaffen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als die Erkrankung mit allen Konsequenzen zu akzeptieren. Ich stellte fest, dass ich wieder Mut fasste, indem ich kleine Mutproben bestand: irgendwo alleine hinfahren, auch wenn es einem nicht gut ging; in die Sauna gehen und die Nähe der anderen Menschen dort spüren; jemanden Unbekanntes ansprechen und zum Kaffee einladen. Merkt er, dass irgendetwas nicht mit mir stimmt? Bei einer Reise mit meiner Schwester ging mir der "Arsch ganz schön auf Grundeis". Aber dass ich fliegen durfte und dabei fast schon ein bisschen mit den Stewardessen flirtete, das war eine riesige Belohnung. Es war gut, das gemacht zu haben, erkannte ich schließlich.

Um die Eigenstigmatisierung eines psychisch kranken Menschen zu durchbrechen, griff ich zu einem Trick: Ich schrieb Listen zu ganz unterschiedlichen Erlebnissen in meinem Leben und sah diese Erlebnisse als meinen gedanklichen Besitz an. Das konnten Reisen sein, Treffen mit Freunden, Besuche von Museen oder sakralen Bauten, Opern- bzw. Kinovorstellungen etc. Gleichzeitig unternahm ich Aktivitäten, um diese Listen fortzuführen. Manchmal setzte ich auch nur ein geplantes Ziel auf eine Liste. Wenn das dann erreicht wurde, war das ein schöner Erfolg. So gelang es mir, die Identifikation mit meiner positiven Vergangenheit wiederzubeleben und mit den Aktivitäten der Gegenwart und Plänen der Zukunft zu verknüpfen, sodass eine Brücke über das Tal der psychischen Erkrankung gebaut werden konnte.

Heute gehe ich davon aus, dass mehrere Faktoren zur Genesung geführt haben. Vor allem muss man aber seinen eigenen Weg finden, der zu Lösungen führt, die eine Antwort auf die Frage geben: "Was ist gut für mich?"

Psychische Erkrankungen können jeden treffen. Aber man kommt da auch wieder raus. Ich appelliere an Betroffene, Ausdauer zu haben und immer wieder neue Dinge auszuprobieren. In meinem Fall tappte ich selbst lange im Dunkeln. Ich wollte immer nur wieder zurück in mein altes Leben.

Ich war ein erfolgreicher, mehrfach studierter Manager im Gesundheits- und Sozialwesen, der u.a. für psychiatrische Einrichtungen tätig war - mit gesellschaftlichem Ansehen, einem Top-Gehalt und privater Idylle mit einer Ehefrau und diversen Freunden. Das alles habe ich nicht mehr. Heute beziehe ich eine Erwerbsminderungsrente, bin geschieden, weil meine Frau die durch die Krankheit bedingte Wesensveränderung von mir wie das In-sich-gekehrt-Sein nicht mehr ertragen wollte. Meine damaligen Lebensmittelpunkte in der Schweiz und in Süddeutschland habe ich eingetauscht gegen die Wurzeln meiner Kindheit und Jugend in Schleswig-Holstein, um wieder frei atmen zu können. Inhalte meiner früheren vielseitigen Vollzeitjobs habe ich jetzt in meine interdisziplinäre Tätigkeit als freiberuflicher Wissenschaftsjournalist integriert. Aber natürlich arbeite ich nicht mehr acht bis zwölf Stunden täglich wie früher, sondern genieße mein begrenztes Arbeitspensum und viel Freizeit. Ohne die ganze Administration des Berufslebens bin ich heute auch viel kreativer.

Fazit

Mancher Abschied war auch schmerzhaft - so empfand ich die Rückkehr in meine beschauliche Heimatstadt zunächst als Höchststrafe. Schnell begann ich aber, die Nähe zu meiner Familie und die besondere Work-Life-Balance einer Kleinstadt zu schätzen. Heute lebe ich ein zufriedenes Leben. Eine alte Frau auf Madeira hat mir mal erzählt, was ihrer Meinung nach Glück bedeutet. Sie sagte: "Gesundheit - Zeit (für die Seele) - ein bisschen Geld". Ich bin nicht der größte Fisch im Teich, aber einer der schönsten, was heißen soll, dass ich nicht mehr so ehrgeizig und karriereorientiert wie früher bin, sondern meine Nischen suche, gerne in der Freizeit oder einer ehrenamtlichen Tätigkeit. Zum Beispiel habe ich Deutsch für Flüchtlinge unterrichtet oder Kinder aus prekären Familienverhältnissen betreut. Mit der Überwindung der schizoaffektiven Störung bin ich zurückgekehrt, aber in ein anderes Leben. Demütig zu sein und sich zugleich seiner selbst bewusst werden. Seit Jahren bin ich nun völlig beschwerdefrei. Ich fühle mich gesegnet und voller Zuversicht. Die Champions-League habe ich schon gewonnen (nach den ganzen Strapazen mit der Erkrankung), warum soll ich jetzt nicht auch die Weltmeisterschaft gewinnen? Nicht auf dem höchsten beruflichen Niveau, sondern so, dass es zu mir passt: Vielleicht beginne ich noch mal ein Studium, mache eine Weltreise oder begleite einfach Menschen mit psychischer Erkrankung bei ihrer Genesung. Ich kann wieder machen, was ich wirklich möchte.


Über den Autor:
Dr. phil. Ralf-Gero C. Dirksen ist Gesundheitsökonom und Organisationsentwickler mit den Schwerpunkten Strategie, Kommunikation und Digitalisierung im Gesundheitswesen sowie psychiatrieerfahrener Wissenschaftsjournalist. (2)


Anmerkungen

(1) Dies ist eine Würdigung meines Freundes, dem leider schon verstorbenen Künstler Jiri Keuthen, der mich immer so nannte, als wenn er geahnt hätte, was mit der Bewältigung einer psychischen Krankheit noch auf mich zukommen würde. Neben meinen anderen Abschlüssen bin ich sehr stolz auf diesen "Titel".

(2) Die ganze Geschichte ist nachzulesen in dem E-Book: Ralf-Gero Dirksen (2019): Wenn die Seele brennt. Leben mit schizoaffektiver Störung - ein Erfahrungsbericht. 2., neu bearb. Aufl., München: neobooks 2019, 141 S., ISBN 978-3-7502-1589-4

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 174 - Heft 4/21, Oktober 2021, Seite 9-11
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 9. April 2022

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