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PERSONALIEN/071: Mechthild Klingenburg-Vogel, friedensbewegte Ärztin im Einsatz gegen Atomwaffen (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 9, September 2022

Friedensbewegte Ärztin im Einsatz gegen Atomwaffen

von Martin Geist


PORTRAIT. Ihr Arbeitszimmer sieht nach Aktivität aus. Broschüren und Bücher nicht nur in den Regalen, sondern fast überall, wo sich etwas ablegen lässt. Zettel mit Notizen, ein Rechner natürlich, ein Telefon - und so gut wie jeder Zentimeter Wand voll mit Bildern, die sie selbst gemalt hat. Die Kieler Ärztin Dr. Mechthild Klingenburg-Vogel ist auf vielen Feldern aktiv. Und das, obwohl sie es mit ihren 73 Jahren weiß Gott ruhiger angehen könnte.


Dr. Mechthild Klingenburg-Vogel in ihrem Arbeitszimmer - Foto: © by Martin Geist

Dr. Mechthild Klingenburg-Vogel Foto: © by Martin Geist


Im Juni weilte die Ärztin in Wien als Beobachterin bei der ersten UN-Staatenkonferenz zum Atomwaffenverbotsvertrag. Dieser Vertrag ist nach der Ratifizierung durch inzwischen 65 Staaten seit dem 21. Januar 2021 Teil des Humanitären Völkerrechts der UNO und in den Augen von Mechthild Klingenburg-Vogel "ein Meilenstein der Hoffnung auf dem Weg zu einer Welt ohne Nuklearwaffen".

Genau dieses Thema bewegt sie seit Jahrzehnten. 1949 in Stuttgart geboren und später in Stuttgart-Hohenheim, Freiburg und München Medizin studierend, blickte sie früh über den Tellerrand oder besser gesagt das eigentliche Krankenbett hinaus. "Ich war schon damals sozialpolitisch und auch kulturell aktiv", berichtet die drahtig wirkende Frau, die in mancherlei Hinsicht stets eine Grenzgängerin war und ist.

Vor fast 50 Jahren zog sie in ihrer Münchener Zeit die eine oder andere Strippe im Marionettentheater "Kleines Spiel", einem 1947 gegründeten Miniatur-Schauspielhaus, in dem einst der große Schriftsteller und Dramatiker Tankred Dorst erste Gehversuche mit gesellschaftskritischen Stücken unternommen hatte. "Das war wirklich ein extrem kreativer Haufen", erinnert sich Klingenburg-Vogel, die diese Zeit als "sehr lebendig und sehr prägend" in Erinnerung hat.

"Da ging es um Dinge, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann."
Mechthild Klingenburg-Vogel

Ärztliches und gesellschaftliches Wirken sind für sie dabei keine getrennten Spielfelder, sondern Dinge, die immer wieder ineinander greifen. Auch das war ein Grund, weshalb sie sich fürs Fachgebiet Psychosomatische Medizin entschied und 1977 als Assistentin an die Universitätsklinik Ulm ging. Der 2004 verstorbene Arzt und Professor Thure von Uexküll - als Pionier dieser Fachrichtung zunächst in konservativen Kreisen der Medizin eher skeptisch beäugt und heute weithin anerkannt - eröffnete in der schwäbischen Hochschulstadt eine internistisch-psychosomatische Klinik, deren Verantwortliche einen breiten Blick auf Gesundheit, Krankheit und Wechselwirkungen mit psychischen oder sozialen Faktoren richteten. "Da ging es um Dinge, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann", erzählt die Ärztin und nennt als Beispiel das Sterben in den Krankenhäusern: "Oftmals wurden die Menschen in ihren letzten Stunden ins Badezimmer geschoben, wer Glück hatte, kam in ein sogenanntes Sterbezimmer." Solche Zustände zu ändern, auch das war ein Anliegen der reformorientierten Medizin, die bald ein weiteres Betätigungsgebiet jenseits von Behandlungsräumen und Praxisräumen finden sollte.

Nachdem 1980 der "Krefelder Appell" mit einem Manifest gegen die damals Nachrüstung genannte atomare Aufrüstung einen Meilenstein der aufkeimenden Friedensbewegung markiert hatte, regte sich auch im ärztlichen Berufsstand etwas. Es entstand die weltweit aktive Organisation "Ärzte gegen den Atomkrieg", die heute IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War) heißt und deren deutsche Sektion "IPPNW Deutschland - Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges und in sozialer Verantwortung e.V." hierzulande immer noch als größte berufsbezogene Friedensorganisation gilt.

Klingenburg-Vogel stieß zu dieser Organisation, weil sie nach eigenen Worten einen "fast unaushaltbaren Widerspruch" wahrnahm: "In meiner internistischen und psychoanalytischen Tätigkeit bemühte ich mich intensivst um einzelne Schicksale, und gleichzeitig waren wir mit der drohenden Massenvernichtung konfrontiert. Die Befürchtung war ja sehr verbreitet, dass es bald zum endgültigen atomaren Knall kommen könnte", ruft die Medizinerin das damalige Klima in Erinnerung.

"Unser Eid auf das Leben verpflichtet uns zum Widerstand", lautete einer der Slogans der Protestierenden im weißen Kittel. Unter anderem im schwäbischen Mutlangen, wo die atomaren Pershing-II-Raketen hätten stationiert werden sollen, ging sie zusammen mit vielen anderen auf die Straße, wo sie von Einheimischen teils heftig angefeindet wurden.

Als "Angst, die sich in Wut ausdrückt", interpretiert das die Frau, die zusammen mit ihrem aus Norddeutschland stammenden Mann 1988 nach Kiel zog und eine eigene Praxis als Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalyse eröffnete. Auf ganz kleiner Flamme praktiziert sie nach wie vor, mehr noch macht sie Supervision fürs Kieler John-Rittmeister-Institut, das sie im Jahr 1989 mit gründete und für die Aus- und Weiterbildung in Psychotherapie zuständig ist.

An ihrem Einsatz gegen Atomwaffen hält Klingenburg-Vogel beherzt fest. Als im Juni dieses Jahres in Wien die erste Überprüfungskonferenz zum Atomwaffenverbotsvertrag durch die Vertragsstaaten stattfand, waren explizit auch Nichtregierungsorganisationen sowie das Internationale Rote Kreuz eingeladen. Mit dabei war die Kieler Antikriegsveteranin, die auch an einer zweitägigen Vorkonferenz in der Wiener Akademie der Wissenschaften mitwirkte. "600 Teilnehmende aus 60 Nationen befassten sich in eindrucksvollen Vorträgen, Workshops und Diskussionen mit verschiedenen Aspekten der atomaren Bedrohung", resümiert sie und betont: "Für mich, die ich seit 40 Jahren in der ärztlichen Friedensbewegung aktiv bin, war besonders erfreulich, wie viele sehr kompetente junge Frauen und Männer sich engagieren und wie stark die Länder des globalen Südens vertreten waren."

Zu Wort kamen in Wien auch Atombombenopfer, die japanischen Hibakusha, und ebenso die Leidtragenden von Atomtests. Außerdem wurden neue Untersuchungen etwa über das Gender-Bias der Krebsraten vorgestellt. Waren die Opfer als unter fünfjährige Mädchen der radioaktiven Strahlung ausgesetzt, so erkrankten sie später doppelt so häufig an Krebs wie Jungen, die dasselbe Schicksal erlitten hatten. Bei als jungen Erwachsenen Verstrahlten ist nach diesen Studien das Verhältnis immer noch um 50 % höher. Die Ärztin berichtet weiter: "Erschütternd waren immer wieder die Leidensgeschichten der Atombombenüberlebenden, die oft wegen schwerster Brandverletzungen zahllose Operationen zu überstehen hatten und wegen des Risikos für Fehlgeburten oder Missbildungen über mehrere Generationen gesellschaftlich gemieden wurden."

In Hiroshima und Nagasaki waren durch die hohe Druckwelle und Brände etwa 100.000 Menschen sofort tot, darunter 90 % der Krankenschwestern und -pfleger sowie 80 % des ärztlichen Personals. In den folgenden Wochen starben weitere rund 130.000 Menschen an der akuten Strahlenkrankheit und an schwersten Verletzungen und Brandwunden.

Sei es durch neue Strategien, die auf einen alles entscheidenden Erstschlag setzen, sei es durch ein mögliches Hochschaukeln etwa im Ukraine-Krieg, sei es aus purem Versehen: Die Gefahr einer neuerlichen atomaren Auseinandersetzung ist aus Sicht der Medizinerin heute mindestens so groß wie im Kalten Krieg. Angesichts dessen empfindet die Ärztin nach all den Jahren immer wieder auch Verzweiflung über das, "was wider besseres Wissen an Zerstörerischem stattfindet". Und auch "Trauer über das unwiederbringlich Zerstörte in der Natur". Halt gibt ihr dann wiederum die aktuell 30 Mitglieder zählende Kieler IPPNW-Gruppe. Auch die Freunde, die Familie, das Wandern, Kulturerlebnisse und nicht zuletzt das Malen sind feste Säulen in ihrem Leben.

Was motiviert sie auch noch nach Jahrzehnten, warum macht sie immer noch weiter? "Bei den Ärzten ohne Grenzen und anderswo gibt es noch viel engagiertere Kolleginnen und Kollegen als mich", relativiert sie und verrät, warum sie sich hauptsächlich für eine menschlichere Welt einsetzt: "Unsere Generation fragte die eigenen Eltern, wie sie Hitlers Verbrechensregime zulassen konnten, und wir müssen Verantwortung übernehmen, dass so etwas in Bezug auf Krieg oder Klima nicht noch einmal geschieht. Krieg darf keine Lösung sein - und Atomkrieg erst recht nicht."

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 9, September 2022
75. Jahrgang, Seite 26-27
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 1. Oktober 2022

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