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DAS BLÄTTCHEN/2035: Krisenmanagement im 19. Jahrhundert


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
26. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2023

Krisenmanagement im 19. Jahrhundert

von Detlef Jena


Je länger der Krieg Russlands gegen die Ukraine dauert, um so lauter werden die Stimmen, die fordern, Politik und Diplomatie müssten ein schnelles Ende erzwingen. Die alte Losung Bertha von Suttners "Die Waffen nieder" gewinnt zunehmend Anhänger. Es hilft auch kein Verweis mehr darauf, dass die Ukraine seit Jahrhunderten ein bevorzugtes Schlachtfeld europäischer Großmachtinteressen ist. Vielmehr soll immer wieder daran erinnert werden, welche politisch realen Möglichkeiten zur Krisenbewältigung im Europa der Vergangenheit von deren herausragenden Politikern erfolgreich genutzt worden sind.

Der Wiener Kongress 1814/15 hatte dem Kontinent nach den Jahren der Kriege gegen Napoleon mit der "Heiligen Allianz" eine fragile Friedensordnuung gebracht, deren Grundlage in einer relativen Kräftebalance zwischen Russland und den westlichen Großmächten bestand. Der Krim-Krieg 1853/56 hatte diese Balance ins Wanken gebrachte und die Gründung des Deutschen Reichs hatte sie zerstört. Es begann ein kompliziertes Machtgerangel um den europäischen Frieden imperialer Interessenausgleiche.

Nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 erstarkte Frankreich relativ schnell und Bismarck witterte erneut eine französische Gefahr für Europa. Die versteckten Drohungen gegen Frankreich riefen Widerstand in London und Paris hervor. Beide intervenierten in Berlin und Bismarck musste zur Kenntnis nehmen, dass man in der deutschen Hegemonialpolitik gegenüber Frankreich eine Störung des europäischen Gleichgewichts sah. Diese Balance erfuhr einen weiteren Schlag, der in einen offenen Konflikt zwischen allen Großmächten auszuufern drohte, als Russland nach dem russisch-türkischen Krieg von 1877/78 im Frieden von San Stefano seinen Einfluss auf dem Balkan ausdehnte und die österreichisch-ungarischen wie die englischen Interessen im Mittelmeer tangierte. England drohte Russland mit Krieg, falls es nicht den mit der Türkei geschlossenen Vertrag von San Stefano revidierte.

Da schlug Bismarcks europäische Stunde! Der bislang als europäischer Friedensstörer verschriene Bismarck mauserte sich zum Friedensstifter. Deutschland war nicht in den Krieg auf dem Balkan involviert. Also konnte der Reichskanzler gut jeder Art von Angriffskriegen abschwören. Der berühmte Satz, wonach er keine gesunden Knochen auch nur eines einzigen pommerschen Musketiers auf dem Balkan opfern wollte, unterstrich die politische Neutralität Deutschlands. Als der Vorschlag unterbreitet wurde, den europäischen Konflikt zwischen England, Russland und Österreich-Ungarn, der aus ihren Rivalitäten am Schwarzen Meer und auf dem Balkan eskaliert war, auf einer internationalen Konferenz in Berlin zu lösen, konnte sich der "ehrliche Makler" Bismarck vergnügt die Hände reiben: Er dirigierte den europäischen Friedenskongress und konnte dort den misstrauischen Verdacht zerstreuen, selbst einen "napoleonischen" Weg zu gehen. Wenn Bismarck auch nicht der Schiedsrichter Europas war, so konnte er auf dem Berliner Kongress, der am 13. Juli 1878 endete, doch als Schulmeister Europas eine "Interessengemeinschaft zwischen der deutschen Sicherheit in der Mitte Eu ropas und dem Frieden in Europa" herstellen (so der Historiker Hermann Oncken). Bismarck verfolgte auf dem Berliner Kongress, der Russland zurückdrängen und die Kräftebalance in Europa wiederherstellen sollte, auch das Ziel, alle Großmächte von Deutschland abhängig zu machen und keine Koalitionen dieser Mächte gegen das Deutsche Reich zu erlauben.

In Berlin trafen die damaligen großen Europapolitiker zum letzten Mal direkt zusammen: Bismarck, Fürst Gortschakow für Russland, Lord Beaconsfield (Disraeli) für das Vereinigte Königreich und Graf Andrássy für die Donaumonarchie. In den meist zweiseitig geführten Verhandlungen konnte der Konflikt in Kompromissen aufgelöst werden. Der große Verlierer war Russland, das einer Revision des Vertrags von San Stefano und einem weitgehenden Verlust der auf dem Balkan geschaffenen Klientelstaaten zustimmen musste. Großbulgarien wurde in zwei Staaten mit unterschiedlichem politischem Status zerschlagen - in das Fürstentum Bulgarien und in die autonome Provinz Ost-Rumelien. Da Rumänien, Serbien und Montenegro ihre Souveränität behielten, warf die Teilung eine glimmende Lunte in das Pulverfass der bulgarischen Nationalbewegung.

Aber Russland wurde nicht vom Balkan verbannt und die Interessenabgrenzung Russlands, Österreich-Ungarns und Englands auf dem Balkan trug insgesamt jenen Kompromisscharakter, den sich Bismarck erhofft hatte, um seine Hegemonialpolitik in Zentraleuropa mit Duldung der Flankenmächte durchsetzen zu können. In diesem Sinne besaß der Berliner Kongress von 1878 nicht den Charakter des Wiener Kongresses vom Jahre 1814/15. Der Berliner Kongress wollte und sollte keine neue politische Gesamtordnung für Europa herstellen. Er diente der Bereinigung einer europäischen Krisensituation, die durch Russland, die Türkei und den Balkan hervorgerufen worden war. Er ähnelte in diesem Sinne eher einer Fortsetzung des Pariser Friedenskongresses von 1856, der den Krim-Krieg abgeschlossen hatte. Der Berliner Kongress wurde nach den egoistischen Machtinteressen der Großmächte ausgerichtet und führte zu einem Kompromiss, in dem die europäische Balance vorerst gewahrt blieb. Das alles hatte Bismarck geschickt eingefädelt und gelenkt. Er trug das Ansehen eines Initiators, der den europäischen Frieden gerettet hatte, mit sich fort in die Geschichte. Dass er dabei die eigenen Machtansprüche Deutschlands bediente, wer wollte es ihm verdenken? Schließlich gab es keine verbindliche Verfassung für ganz Europa. Mochten einzelne Politiker oder Zeitungen auch gutherzig von einer Zeitenwende für Europa schwafeln.

Da gab es keine Zeitenwende. Die nachfolgende extreme Zuspitzung im deutsch-russischen Verhältnis lag in der historisch begründeten europäischen Machtpolitik. Russland sah sich durch Bismarck hereingelegt und verraten, weil der das seit Jahrhunderten betriebene Streben nach Ausdehnung der russischen Grenzen zumindest zeitweilig eingeschränkt hatte. Doch es ging nicht nur um politische Machtansprüche.

Die zweite Ursache für die sich beiderseits verschlechternden Beziehungen lag in der weltweiten Agrarkrise. Deutschland hatte etwa 30 Prozent des russischen Getreideexports aufgenommen. Die preußischen Junker und Großagrarier forderten die Absperrung des deutschen Binnenmarkts gegen russische Agrarimporte. Bismarck erließ im Januar 1879 Quarantänemaßnahmen gegen den russischen Viehimport, die quasi ein Ende der Fleischeinfuhr nach sich zogen. Als Anlass diente Bismarck die Pest, die 1879 im Gouvernement Astrachan wütete. Der Export von Agrarprodukten bildete den Lebensnerv der russischen Großgrundbesitzer.

Denen fiel es nicht schwer, die slawophile Presse zu bewegen, eine Verbindung zwischen Bismarcks angeblich antirussischer Haltung auf dem Berliner Kongress und dem Stopp der Agrarimporte herzustellen. Offener Hass schlug den deutschen Diplomaten und Unternehmern aus dem nationalistischen Teil der russischen Presse entgegen. Zar Alexander II. warf Bismarck vor, die guten Beziehungen zu Russland aufs Spiel zu setzen, eine neue europäische Krise heraufzubeschwören, die Russland zu kriegerischen Konsequenzen treiben könnte.

Man fand tatsächlich einen Ausweg: Die drei Kaiser von Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn trafen sich im September 1879 in den Masuren. Jeder entschuldigte sich bei jedem, die Krise war beendet. Na bitte, die Götter einigten sich friedlich, ohne dass der Berliner Vertrag geändert wurde. Russlands Außenminister Gortschakow hatte schon auf dem Berliner Kongress gebeten: "Ich möchte nicht wie eine qualmende Lampe ausgelöscht werden. Ich möchte untergehen wie ein Stern." Wenigstens er konnte für den Augenblick zufrieden sein.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 5/2023 vom 27. Februar 2023, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 14. März 2023

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