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DAS BLÄTTCHEN/2027: Russlands Suche nach der Welt von morgen


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
26. Jahrgang | Nummer 1 | 2. Januar 2023

Russlands Suche nach der Welt von morgen

von Peter Linke, zz. Almaty


Über hundert Teilnehmer, darunter auffallend viele aus dem Nahen Osten und Asien, beteiligten sich in diesem Jahr am traditionellen Waldai-Diskussionsforum, benannt nach dem gleichnamigen Höhenzug im Nordwesten Russlands, wo die Veranstaltungsreihe 2004 ihren Anfang nahm.

"Die Welt nach der Hegemonie: Gerechtigkeit und Sicherheit für alle" - so der etwas pompöse Titel des diesjährigen Waldai-Berichts, der das Ende vom "Ende der Geschichte" sowie den Übergang von einer unipolaren zu einer neuen, demokratischen Weltordnung postuliert. Letzterer werde schmerzhaft sein, da der Krieg erneut zum führenden Faktor der Weltpolitik werde: Eine Welt ohne Supermächte, so die Berichterstatter, benötige ein System der Selbstregulierung.

Aber sind die gegenwärtigen internationalen Akteure eigentlich in der Lage, ein solches zu schaffen - das war die Frage, die im Mittelpunkt der sich an die Präsentation des Berichts anschließenden Diskussion stand.

Schnell wurde in diesem Kontext deutlich, dass der fortschreitende Zerfall der existierenden internationalen Ordnung selbst in aufsteigenden Ländern wie China weniger als Chance, denn als Bedrohung empfunden wird: Die meisten Chinesen, so Wang Wen von der Pekinger Volksuniversität, gingen davon aus, dass die Schwächung der Vereinigten Staaten nur eine Frage der Zeit sei. China könne warten und derweil die Vorteile der existierenden internationalen Ordnung nutzen.

Diese Äußerung rief BK Sharma, Direktor des Instituts der Vereinigten Streitkräfte Indiens, auf den Plan: China, warnte der Ex-General, zeichne ein sehr wohlwollendes Bild von der kommenden Weltordnung, spreche gern von "einer Schicksalsgemeinschaft" - allerdings decke sich diese Vision nur sehr bedingt mit Pekings strategischem Verhalten.

Nur eine von vielen Kontroversen, wie sie sich während des dreitägigen Treffens beim Abarbeiten eines erstaunlich breiten Themenkatalogs zeigen sollten, der von Covid-19, der Kuba-Krise und dem Krieg in der Ukraine über wirtschaftliche Themen wie alternative regionale Zahlungssysteme oder Importsubstitutionen bis hin zu west-östlichen Werten und Mythen bis zu neuesten technologischen Trends reichte.

Welchen Platz sollte Russland im neu entstehenden Weltgefüge einnehmen? Dazu verständigten sich unmittelbar vor Waldai einflussreiche Vertreter der russischen geopolitischen Analystengemeinschaft auf einer Konferenz in Moskau.

Der Übergang zu einer neuen Weltordnung werde sich über Jahrzehnte hinziehen und mehrere Phasen durchlaufen: Zunächst würde der Westen (vor allem die USA) weiter versuchen, die Welt zu dominieren und mit gewaltsamen Mitteln zu stabilisieren. Gelingen werde dies allerdings nicht: Die internationalen Beziehungen würden sich zunehmend chaotisieren und bislang gültige Vereinbarungen massiv an Bedeutung verlieren. Infolge dessen werde es zur Bildung massiver regionaler und zivilisatorischer Blöcke kommen, zwischen denen sich neue Formen des Mit- und Gegeneinanders herausbildeten. Schließlich werde sich auf Grundlage jenes Projektes, das sich in der Phase der Regionalisierung als das erfolgreichste erwiesen habe, eine neue Weltordnung formieren.

Russland müsse in jeder einzelnen Phase spezifische Aufgaben lösen: Dem kollektiven Druck des Westen widerstehen, Chaos in den internationalen Beziehungen möglichst verhindern, Russland freundlich gesinnte Länder unterstützen, seine zivilisatorische Selbstidentifikation vertiefen, zivilisatorische Partnerschaften im Rahmen der BRICS*, der EAWG** und der SOZ*** pflegen sowie die Formierung von Institutionen der Neuen Weltordnung nach dem Prinzip Einheit in Vielfalt vorantreiben.

Dabei strebe Russland - auch und vor allem kommende Auseinandersetzungen mit China antizipierend - die Führerschaft der nicht-westlichen Welt an. Um in dieser Rolle akzeptiert zu werden, brauche es freilich neue Ideen - etwa von der Qualität der (sowjetischen) Saga vom antikolonialen Kampf. Der globale Süden könne mit der Idee der "Russischen Welt" nur wenig anfangen, wohl aber mit tatkräftigem Widerstand gegen die "amerikanozentrische Pyramide". Vor diesem Hintergrund empfehle sich eine Rückkehr zur direkten Widerstandsrhetorik gegen den westlichen Imperialismus.

Die vor wenigen Tagen erfolgte Einweihung eines Fidel-Castro-Denkmals in Moskau durch Wladimir Putin und seinen kubanischen Amtskollegen Miguel Diaz-Canel setzte diesbezüglich einen wichtigen Akzent. Wesentlicher freilich dürfte die Frage sein, ob das derzeitige Kaderpotential Russlands ausreicht, diesen "anti-imperialistischen Ruck" zu bewerkstelligen. Nach Meinung der Moskauer Konferenzteilnehmer sei es längst an der Zeit, im Zusammenspiel von Wissenschaft und Wirtschaft den mittel- und langfristigen Bedarf des Landes an diversen Spezialisten zur globalen Durchsetzung russischer nationaler Interessen zu bestimmen.

Als bemerkenswerter Schritt in diese Richtung kann der jüngste Vorstoß des Moskauer (Primakow-)Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen (IMEMO) in eine der Schlüsselregionen zukünftiger russischer Außenpolitik gelten: Im Oktober organisierte das Institut zusammen mit dem Kasachstanischen Institut für Strategische Studien (KISI) in Kasachstans Hauptstadt Astana einen hochrangigen akademischen Gedankenaustausch zwischen russischen und zentralasiatischen Spezialisten zur Organisation künftiger gemeinsamer Forschungsprojekte mit regional- und globalpolitischem Bezug unter breiter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure. Nicht von ungefähr betonte dabei insbesondere KISI-Direktor Erkin Tukumow die Notwendigkeit innovativer Formen "informeller Diplomatie", ist doch gerade Kasachstan auf diesem Gebiet seit einiger Zeit recht erfolgreich unterwegs. So richtete Astana im vergangenen Oktober zwei entsprechende Großveranstaltungen aus:

  • Zum einen das mittlerweile 6. Forum für Interaktion und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien (CICA), aus der Taufe gehoben 1992 vom damaligen Präsidenten Kasachstans, Nursultan Nasarbajew.
  • Zum anderen den inzwischen Kongress der Führer weltweiter und traditioneller Religionen (CLWTR) - erstmals einberufen 2003 auf Initiative Nasarbajews nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 - der sich neben eher traditionellen Fragen wie der Wahrung spiritueller und moralischer Werten in der heutigen Gesellschaft, oder der Rolle religiöser Führer bei der Zurückdrängung von Extremismus und Terrorismus auch neuen Themen wie Bildung oder dem sozialen Status von Frauen zuwandte.

Mit derartigen Initiativen gewinnt Astana unspektakulär an geopolitischer Stärke - eine wesentliche Voraussetzung für Präsident Tokajews "multivektorale" Außenpolitik in einer zunehmend chaoplexen Welt.

In der gegenwärtigen Umbruchsituation eine Plattform zu bieten, auf der Verhältnisse neu durchdacht und alternative Bündnisse geschlossen werden können, macht Kasachstan zu einem interessanten internationalen Akteur - insbesondere für revisionistisch orientierte, den internationalen Status Quo in Frage stellende Mächte wie Russland.

Moskau seinerseits nutzt zunehmend von Astana zur Verfügung gestellte Gesprächsräume, um mit der größeren nicht-westlichen Welt zu kommunizieren. Ein deutliches Novum in der russischen Außenpolitik - mit möglicherweise weitreichenden Konsequenzen nicht nur für die Länder der Region.

Die rasante "Entwestlichung" der russischen Außenbeziehungen bleibt dabei nicht ohne Folgen für die Themenpalette, die Russland diesen Ländern offeriert: So war auf dem am Rande der CICA-Tagung durchgeführten 1. russisch-zentralasiatischen Gipfel neben militärpolitischen Fragestellungen viel die Rede von alternativen Finanzierungsstrukturen (SPFS**** statt des westlichen, für Russland nur noch eingeschränkt zugänglichen westlichen SWIFT-Systems) sowie von verbesserter regionaler Energiesicherheit durch Bau neuer Wasser- und Atomkraftwerke, praktische Hilfe bei der Wiederherstellung des zentralasiatischen Energieverbundes, Ausbau der Transportinfrastruktur für Öl, Gas und Kohle, Erschließung neuer Energieressourcen in der Kaspiregion, verstärkte Nutzung von komprimiertem Erdgas und anderes mehr.

Inwieweit die Verantwortlichen in der Region auf diese Vorschläge eingehen werden, bleibt abzuwarten. Für die Medien war im Übrigen das zentrale Gipfelereignis die Forderung des tadschikischen Präsidenten Emomali Rachmon, Russlands Staatsoberhaupt möge sich gegenüber den Ländern der Region nicht so verhalten, wie es zu Sowjetzeiten üblich gewesen sei. Auch wenn einige Beobachter der Meinung sind, Rachmons Beschwerde sei nicht mehr gewesen als ein geschicktes Manöver, um vom schwelenden Grenzkonflikt zwischen Tadschikistan und Kirgistan abzulenken, zeigt der Vorgang dennoch, wie groß das gegenseitige Misstrauen ist.

Und Kasachstan bleibt in seiner Haltung gegenüber Russland höchst gespalten: Während die einen, wie etwa der auch im Westen gern zitierte Dosym Satpaev, seit Jahren fordern, ihr Land möge sich endlich aus der sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Umklammerung Moskaus lösen, verweisen andere, wie Danijar Ashimbajew, immer wieder auf die gegenseitig vorteilhafte kasachisch-russische Symbiose, die bis in tiefste kulturelle Schichten reiche, und die dementsprechend betonen, dass nur durch Russland der chinesische und westliche Einfluss auf Kasachstan im Zaum gehalten werden könne.


Anmerkungen:

* BRICS - steht für die Anfangsbuchstaben der ursprünglich fünf dieser Organisation zugehörigen Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika.

** EAWG - Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft.

*** SOZ - Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit.

**** SPSF - "System zur Übermittlung von Finanzmitteilungen" - von Russland 2014 eingeführtes Transaktionssystem

*

Quelle:
Das Blättchen Nr. 1/2023 vom 2. Januar 2023, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 20. Januar 2023

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