Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

ARBEITERSTIMME/189: Novemberrevolution in München


Arbeiterstimme Nr. 162 - Winter 2009
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Novemberrevolution in München


Vor 90 Jahren brach die Monarchie in Bayern widerstandslos zusammen. Arbeiter und (teilweise) Bauern griffen nach der Staatsmacht. Adel und Bürgertum, unter dem Schock des verlorenen 1. Weltkriegs, vermochten zunächst nicht dem etwas entgegenzusetzen.

Eine große Zahl von Veranstaltungen erinnerte im Herbst dieses Jahres in München an die Revolution in Bayern und vor allem in München. Auch unsere Gruppe beteiligte sich als Mitveranstalterin an 3 Diskussionsveranstaltungen im Münchner Westend.

Warum? Haben wir nichts Besseres zu tun als längst vergangene Ereignisse wieder aufzuwärmen?

Es gibt einige Gründe dafür. Zum einen scheint es uns notwendig daran zu erinnern, daß der Freistaat Bayern, die Trennung von Schule und Kirche, das Frauenwahlrecht keine Erfindungen der CSU sind, wie viele konservative Medien, bis in die Schulen hinein, den Anschein erwecken wollen. Erstmals spielten auch Frauen (nicht nur Linke) eine politische Rolle. Diese Entwicklungen wurden erkämpft und die Rolle der rechten und reaktionären Kräfte bestand darin, dies vergessen zu machen und die positiven Ansätze soweit möglich zurückzunehmen.

"Landfremde" Gesellen (deutlich antisemitische Untertöne sind nicht zu überhören) hätten dem braven Bayernvolk die Revolution aufgedrückt. Die konservativen Kräfte und die Männer, die sie anführten (nicht nur Franz Josef Strauß ist gemeint) mußten und müssen die "Werte" des christlichen Abendlandes retten.

Allein das bedarf der Richtigstellung soweit es unsere schwachen Kräfte erlauben.

Weitere Gründe für unsere Aktivitäten sind interessante Besonderheiten der Münchner Revolution. Das ist zum einen die bedeutende Rolle von Anarchisten bzw. so genannten "freiheitlichen Sozialisten" und zum anderen die Beteiligung fortschrittlicher Bauern.

Aus Platzgründen müssen die Referate zusammengefaßt werden. Der Zusammenfasser bekennt, daß er trotz aller Mühe vielleicht auch subjektive Eindrücke nicht ganz unterdrücken konnte und bittet die Referenten um Nachsicht.

Es war das Bündnis der rechten Sozialdemokratie (MSPD) mit reaktionären Kräften der Bourgeoisie und des Militärs (Freikorps), das letztlich zum Scheitern der deutschen und auch der bayrischen Revolution führte.


Anarchistinnen und Anarchisten vor und in der Münchner Revolution

Der Referent Günther Gerstenberg begann mit einer ausführlichen Darstellung der elenden Lebens-, Wohn- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse an Beispielen aus dem Münchner Westend: "Die Arbeiter sterben durchschnittlich zwölf Jahre früher als die Bürger. Im Maschinensaal von Metzeler sind 23% der Arbeiter verstümmelt, 24% haben die Schwindsucht."(*)

(*) Alle Zitate wurden den Manuskripten der Referenten entnommen

Erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand auf der "Sendlinger Heide" das Westend. "Terraingesellschaften" kauften das wenig fruchtbare Land billig und verkauften es teuer an Bauherren. Die Mieten waren kaum aufzubringen: "Die Arbeiterinnen und Arbeiter schuften 10, 12 und noch mehr Stunden am Tag, unterwerfen sich der Fabrikdisziplin und kommen kaum über die Runden. Frauen erhalten 1897 bis zu 80 Pfennig täglich, Arbeiter bis zu 1 Mark 50." Arbeitslosigkeit führt zu Mietrückständen und Zwangsräumungen. Widerstandsversuche, sogenannte Krawalle, werden von berittener Polizei mit blankem Säbel niedergeworfen.

Wer sich nicht abfinden will und wer von der kirchlichen Bigotterie abgestoßen ist, organisiert sich in Lese- und Sparvereinen, in Genossenschaften und Gewerkschaften. Tschechische und italienische Arbeiter bringen fortschrittliche Traditionen aus ihren Heimatländern mit. "Es kommt vor und in den Fabriken zu heftigen Auseinandersetzungen, zu Sabotage und Streiks." Anarchistische Vorstellungen in der Tradition der Aufklärung und der Säkularisation stehen gegen religiöse Orientierung. "Der lesende Arbeiter erkennt: Letztlich kann nur das Individuum vor sich selbst bestehen." Die rigorose Organisationsdisziplin der bayrischen SPD unter Georg v. Vollmar kann (und will?) solche Lebenseinstellungen nicht dulden. "Die Folge war, daß die SPD nicht nur einzelne aufmüpfige Querköpfe aus der Partei warf, sondern ganze Vereine ausschloß. Nicht wenige dieser Ausgeschlossenen sammelten sich im Freidenkerverband. In den Quellen werden diese sowohl als 'freiheitliche Sozialisten', als Freidenker, als Anarchisten oder auch nach 1900 als Syndikalisten bezeichnet."

"Wichtig erscheint mir, daß der Anteil der ehemaligen Sozialdemokraten an der anarchistischen Bewegung sehr groß ist. Es waren diejenigen, die erkannt hatten, daß man die richtigen Ziele nicht mit den falschen Mitteln erreichen kann. Sie hatten selbst erfahren, daß die Organisationsstruktur der SPD ein Abbild des personalpolitischen Stützpfeilersystems des Staates war, wo ein innerer Zirkel die Macht auf sich vereinigt, und daß, wer in den inneren Zirkel vorstoßen wollte, sich anpassen mußte an die Choreographie des Denkens, Fühlens und Handelns der Mächtigen."

Die in den Geschichtsbüchern noch häufig beschworene Kriegsbegeisterung im August 1914 war auch in München mehr Ideologie als Tatsache. "Weinende, verzweifelte Arbeitermütter am Münchner Hauptbahnhof. Großeltern, die sich noch an den 70er/71er Krieg erinnern und ihre Enkel warnen. Junge Männer, die vor dem Gestellungsbefehl fliehen."

Derartiges findet sich in den Münchner Archiven.

Am 7. November 1918 sammeln sich rund 50.000 Menschen auf der Theresienwiese zu einer Kundgebung gegen den Krieg. MSPD, USPD und Gewerkschaften haben dazu aufgerufen. Die Mehrheit zieht mit dem Nachfolger Georg v. Vollmars, Erhard Auer, friedlich zum Friedensengel. Etwa 1000 folgen Kurt Eisner von der USPD durch das Westend zur Guldeinkaserne. Die Soldaten schließen sich der Revolution an. Vom Westend aus zieht Eisner zu den Kasernen im Münchner Norden. Ohne Blut vergießen gehen die Soldaten mit. Der Anarchist Erich Mühsam zieht mit seiner Frau Zenzl und einigen Anhängern in die Maxvorstadt vor die Kaserne des königlichen Leibregiments. Er fordert die Abdankung der Wittelsbacher und läßt die "Bayerische soziale Volksrepublik" hochleben. Die "Leiber" schließen sich an. Von dort geht es zu anderen Kasernen am Oberwiesenfeld. Hier kommt es vereinzelt zu Schüssen. Es gibt aber keine Toten.

In der offiziellen Geschichtsschreibung wird die Rolle der Anarchisten beim Sturz der Monarchie und der Gründung der Republik diskret verschwiegen.

Eisner ruft am Abend des 7. November im Mathäser Bierkeiler den Freistaat aus. Er bildet ein Kabinett, dem auch Vertreter der MSPD, vor allem Erhard Auer als Innenminister angehören. Daneben bildet sich ein revolutionärer Arbeiterrat, der die Anarchisten Mühsam und Landauer kooptiert. Daraus entsteht der Landesarbeiterrat und ein Zentralrat. Die Anarchisten, vor allem Mühsam, kritisieren die Zusammenarbeit mit der MSPD, die über die bürokratischen Mittel verfügt und diese einsetzt, um fortschrittliche Ansätze ins Leere laufen zu lassen. Natürlich kommt es zu Reibungen zwischen Kabinett und Räten. Mühsam z.B. besetzt mit seinen Anhängern die Redaktionen bürgerlicher Zeitungen. Eisner hebt die Besetzung auf und läßt Mühsam vorübergehend festnehmen.

Eisners Vorstellung einer Synthese aus parlamentarischer und Rätedemokratie bekommt keine Chance in der Praxis. Bei den Landtagswahlen am 12.1.1919 erleidet Eisners USPD eine vernichtende Niederlage. Sie bekommt nur 2,5 % der Stimmen. Stärkste Fraktionen werden Bayrische Volkspartei und MSPD.

Eisner will als Ministerpräsident zurücktreten. Auf dem Weg zum Landtag wird er von dem Offizier Graf Arco Valley, Mitglied der reaktionären völkischen Thule Gesellschaft, erschossen.

Die bürgerliche Reaktion formiert sich. Die Landtagsparteien MSPD, USPD und bürgerliche Listen schließen am 8.3.1919 den Nürnberger Kompromiß. Er sieht im wesentlichen die Stärkung des Landtags und der von diesem gewählten Regierung Hofmann (MSPD) vor. Der Rätekongreß, dem auch viele MSPD-Mitglieder angehören, stimmt mehrheitlich zu.

Noch einmal scheint die revolutionäre Seite die Oberhand zu gewinnen. Am 7.4.1919 ruft der Rätekongreß die Räterepublik aus. Die Münchner Arbeiter und Soldaten schließen sich an. Die großen Industriestädte Bayerns, Nürnberg und Augsburg, gehorchen weiter der Regierung Hoffmann. Eugen Leviné, KPD, analysiert treffend, daß die Räterepublik unter diesen Umständen keine Chance hat und lehnt eine Beteiligung der KPD ab.

Die Regierung Hoffmann sammelt mit Unterstützung der Reichsregierung, d.h. Noskes, Freikorps zur militärischen Niederschlagung der Räterepublik. Das war schon seit spätestens Januar 1919 vorbereitet worden.

Am 13.4.1919 erfolgt ein Putsch in München. Freikorps und reaktionäre Studenten besetzen den Hauptbahnhof und strategische Stellungen in der Stadt. Doch die Rote Armee verjagt die Putschisten und erobert nach heftigen Kämpfen auch den Hauptbahnhof zurück.

Die KPD schließt sich jetzt der Räteregierung an und übernimmt die wichtigsten Funktionen. Leviné hält die Sache zwar für verloren, meint aber die Kommunisten dürfen die Arbeiterklasse in der Niederlage nicht im Stich lassen.

In Oberbayern formieren sich das Freikorps Oberland und andere Formationen. Die Bauern strömen ihnen zu. Zumindest eine der Ursachen dafür ist die Hetze der katholischen Kirche: In München würden Priester ermordet, Nonnen vergewaltigt usw. Nichts davon war die Wahrheit.

Die Übermacht der "Weißen" erobert am 1. und 2. Mai 1919 München zurück.

Die folgenden Massaker fordern mindestens 1000 Todesopfer. Später werden Anhänger der Räterepublik auch in die Psychiatrie eingeliefert. Wer für die Roten ist, muß ja verrückt sein.

Bayern wird zur "Ordnungszelle des Reiches" Unter dem Schutz dieser Ordnung formieren sich die Nationalsozialisten.


Kurt Eisner, Revolutionär des Alltags(*)

(*) Referent Klaus Weber

Eisner spielte eine wichtige Rolle bei den Streiks im Januar 1918 in München. Er saß dafür bis zum 14.10.1918 im Gefängnis München-Stadelheim ein. Da er für die Nachwahl um den Wahlkreis Georg v. Vollmars, der aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten war, gegen Erhard Auer (MSPD) kandidierte, mußte er freigelassen werden. Der Wahlkampf mit zahlreichen Versammlungen bot ihm reichlich Gelegenheit, gegen den Krieg, die Monarchie und die Untätigkeit der MSPD zu argumentieren.

Verbündete Eisners bei seiner Kampagne - auch über München hinaus - waren der Bayerische Bauernbund, dessen bedeutendste Vertreter die Brüder Karl und Ludwig Gandorfer waren. Karl Gandorfer war seit 1912 Reichstagsabgeordneter. Ludwig Gandorfer war mit Karl Liebknecht persönlich befreundet. Auch eine Anzahl MSPD-Mitglieder, Betriebsräte und Linke gaben Unterstützung.

Kurt Eisner war ein mitreißender Redner. Er gebrauchte volkstümliche Worte und Begriffe. Seine Rednergabe wurde mit derjenigen Rosa Luxemburgs verglichen.

Am 3.11. hielt Eisner eine Rede auf der Theresienwiese. Seine Anhänger zogen anschließend zum Gefängnis Stadelheim und befreiten politische Gefangene.

Die Revolution bricht am 7. November aus. Die MSPD hat zu einer Kundgebung für einen raschen Friedensschluß aufgerufen. Eisner, Felix Fechenbach und Ludwig Gandorfer reden vom Rand der Theresienwiese aus. Fechenbach ruft den Versammelten zu: "Soldaten! Auf in die Kasernen! Befreien wir unsere Kameraden! Es lebe die Revolution!" Diese marschieren, Eisner, Gandorfer und Fechenbach an der Spitze, erst zur Guldeinkaserne im Westend und dann zu den anderen im Norden Münchens. Die Soldaten laufen zu den "freien Truppen" über.

Um 21 Uhr sind alle Kasernen ohne Todesopfer auf Seiten der Revolution. Eine Stunde später sind alle Ministerien, Polizeipräsidium, Bahnhof, Post, Telegrafenamt und die wichtigsten Presseredaktionen besetzt. Ein Indiz dafür, daß nicht allein Spontaneität sondern auch Planung und Organisation eine Rolle spielten. Eisner eilt zum Matthäser-Bräu, wo die neu gebildeten Arbeiter- und Soldatenräte schon tagen. Sie wählen Eisner zu ihrem Vorsitzenden und ziehen dann zum Landtagsgebäude. Hier wird Eisner zum Ministerpräsidenten ausgerufen.

König Ludwig III flieht. An den Türmen der Frauenkirche wehen rote Fahnen. Die Revolution hat gesiegt. Wirklich?

Eisner lädt die Massen zur Revolutionsfeier ins Nationaltheater. Statt Galauniformen, Orden und Damen in großer Toilette drängen sich Arbeiter/innen, Soldaten mit roten Armbinden in die Oper. Beethovens Leonoren Ouvertüre wird gespielt aus der Oper, in der der Komponist die Ideale der bürgerlichen Freiheitsvorstellungen ausdrückt - aber auch zur Erinnerung an den Wiener Kongreß, bei dem die Fürsten diese Freiheit niederwarfen und Monarchie, Kirchenherrschaft und Nationalismus noch für eine Zeit durchsetzten. Eisner gedenkt in seiner Rede seines Freundes Ludwig Gandorfer, der am 10.11. Bei einem Autounfall ums Leben kam: "Es ziemt sich für mich, heute, wo ich zum ersten Male Gelegenheit habe vor ihnen zu reden, vor den breiten Massen zu sprechen, die mit am Werke der Revolution gearbeitet haben, des Mannes zu gedenken, der durch einen unsinnigen Zufall zum Opfer der Revolution geworden ist. Durch die Zeiten wird einst wie eine Legendengestalt die Person des blinden Bauern aus Niederbayern schreiten, in dessen Kopfe dieses Werk seherisch vorbereitet wurde."

Die Regierung Eisner sorgt, so gut es in der Zeit möglich war, für die Verbesserung der Ernährungslage. In Verhandlungen mit den Siegermächten wird die Kriegsschuld Deutschlands anerkannt, er strebt eine Föderalisierung Deutschlands an.

Die Rätekonzeption versucht er weiterzuentwickeln, behält aber die parlamentarische, repräsentative Demokratie bei.

Das Bayerische Staatsgrundgesetz der Republik führt das Frauenwahlrecht ein, senkt das Wahlalter von 26 auf 21 Jahre, schafft Adelstitel ab, trennt Kirche von Schule, Religion wird Wahlfach.

So weit sind wir heute nicht mehr.

Innenminister Erhard Auer und die MSPD behindern durch die von ihnen beherrschten Apparate die fortschrittlichen Entwicklungen nach Kräften.

Die Landtagswahl findet am 12.1.1919 statt. MSPD und BVP erhalten jeweils über 30% der Stimmen. Eisners USPD erleidet mit 2,5% eine vernichtende Wahlniederlage.

"Ein selbsternannter Aktionsausschuß zum Schutz des Landtags besetzt den Bahnhof und verschiedene Ämter und verlangt die Verhaftung Eisners und seine Abschiebung in die Tschechoslowakei. Als neuen Mann an der Spitze Bayerns schlägt der Putschistenführer Lotter den Sozialdemokraten Auer vor."

Vor der Konstituierung des neuen Landtags will Eisner seine Rücktrittsrede halten. Auf dem Weg wird er am 21.2.1919 von dem rechtsextremen Offizier Graf Arco auf Valley erschossen.

Der Referent ging weiter auf die politisch-literarische Arbeit Eisners ein:

Er selbst war jüdischer Herkunft, "wenig religiös", blieb aber Mitglied der jüdischen Gemeinde. Seine häufig ironischen Erzählungen kleidet er gern in volkstümliche, häufig religiöse, Sprache und entsprechende Bilder. Damit erreicht er die religiösen Vorstellungen seiner Zeitgenossen und kann daran anknüpfen. Vorstellungen, die damals noch weit mehr Einfluß auf das Denken und das Gefühl haben als heute. So schildert er etwa den König Herodes, der die Geburt des Jesuskindes erlebt und erfährt, daß dieses Kind den Frieden und ihm selbst den inneren Frieden bringen wird. Er überlegt lange wie er dabei helfen kann und läßt alle Knaben in seinem Reich umbringen, damit niemand das friedenbringende Kind stören kann. Die heiligen 3 Könige finden eine Welt ohne Krieg, ein Reich der Weiber gar nicht gut. Sie überschütten das Jesuskind mit Gold und Weihrauch (man könnte sich auch vorstellen mit Kapital und Kirche). Als die Mutter das Kind hervorholt ist es tot, erdrückt von den Gaben der Könige. Die Pfaffen aller Religionen werden diese Geschichte wohl weniger gut finden.

Eisner spricht zwar auch von "Religion des Sozialismus". Er sieht das Christentum als Bewegung zur Befreiung der Menschen, gewendet gegen Arbeitgeber, staatliche Kriegstreiber und Pfaffen.

Eisner nutzt Sprache und Material des Alltagslebens um Empörung, Rebellion und Befreiung als selbstverständliche Handlungsweisen erscheinen zu lassen.


Vergnügen während Krieg und Revolution...

 ...hieß der Titel der dritten und letzten Veranstaltung, referiert von Martin W. Rühlemann in dieser Reihe.

München zählte schon 1850 mit 100.000 Einwohnern zu den Großstädten Deutschlands, nur in Berlin, Hamburg und Breslau lebten zu dieser Zeit mehr Menschen. 1914 lebten in der Stadt bereits knapp 650.000 Menschen. "Die ländliche Zuwanderung war in München, wie in den meisten deutschen Städten des 19. Jahrhunderts, der entscheidende Bestandteil der Stadtentwicklung und des Bevölkerungswachstums. 1914 gab es in München Dutzende von Varietés und Singspielhallen und 46 Kinos. Die Anzahl der Kinos stieg bis 1919 weiter auf 59."

"Im August 1914 machte die nationale Kriegsbegeisterung auch vor den Varietés und Kinos nicht halt. Der Historiker Martin Baumeister ('Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur 1914-1918, Essen 2005') spricht in seiner Untersuchung des Berliner Kriegstheaters von einer 'Selbstmobilisierung der Medien'."

Offensichtlich wich die anfängliche Befürchtung der Inhaber um den finanziellen Bestand ihrer Kinos, Varietés usw. der Erkentniss, dass auch in den Zeiten des Krieges Bedarf nach Vergnügen und Zerstreuung bestehn. "In München war es nicht viel anders: Zu Kriegsbeginn wurden die Varietés und Kinos zwar kurz geschlossen bzw. änderten ihr Programm. Josef 'Papa' Benz etwa, der eine Kleinkunstbühne in der Leopoldstraße betrieb, erklärte am 9. August ..., dass er sein Lokal mit als Erster bei Beginn der Mobilmachung geschlossen hätte. Ebenso hätte er Angehörige der feindlichen Nationen auf der Bühne und auch Tanzvergnügen unmoralisch gefunden ... Humoristische Aufführungen mussten hier ernsten patriotischen Stücken weichen. Vaterländischer Stolz und Hass gegen die Gegner standen im Mittelpunkt. Aktuelle Nachrichten wurden schon seit einigen Jahren als kinematographische Vorstellung präsentiert und jetzt als 'Neueste Kriegsberichterstattung' angekündigt. ... Ab Oktober 1914 gab es im Kolosseum wieder Varietévorstellungen: Bei verbilligtem Eintritt für das Militär war nun besonders die 'Eindeutschung' der Artistennamen auffällig: Aus einem Jongleur wurde etwa ein Fänger. Insgesamt legen die Künstler exotische und ausländische Namen ab, ... und das Publikum begeisterte sich für Programme 'ohne Franzmann und Englishman'. ..."

"Anfang 1917 mussten die Kinos für 2 Wochen schließen und am 30.1.1917 wurde das Bild- und Filmamt gegründet, das erst der Obersten Heeresleitung und dann dem Kriegsministerium unterstand. Damit begann die gezielte Propaganda in den Kinos. Üblicherweise gab es nun 1 1/4 Stunden Film, dann 30 Minuten Lustspiel und dann Aufklärung und Belehrung. Noch während des Krieges wurde am 18.12.1917 Universum Film (Ufa) gegründet, um die Importabhängigkeit bei Filmen zu beenden und eigene starke deutsche Filme produzieren zu können."

(...) "Zusammenfassend ist zu sagen, dass sowohl die Kinos als auch die Varietés und Singspielhallen während der Kriegsjahre anhaltend guten Besuch verzeichnen konnten... Die Kriegsberichterstattung als Film und Propaganda etablierte sich in den Kriegsjahren und war Teil des Programms."

Auch während der Revolutionstage ging der Betrieb im Vergnügungssektor, bis auf wenige Ausnahmen weiter. "Vor allem der Kinobesuch war bei jungen Menschen sehr populär. Als Schund und Kitsch schon im Kaiserreich gebrandmarkt, erkannte auch die Räteregierungen nicht die Dimensionen der neuen Populärkultur, hatten aber natürlich auch wenig Zeit eigene Akzente zu setzen."

"Ende Oktober/Anfang November 1918 spielten Theater, Kinos und Varietés vor vollen Häusern, auch Kriegspropaganda wurde noch betrieben: Feste für die 9. Kriegsanleihe wurden abgehalten. (...) Erst am 8.11. betrafen die revolutionären Ereignisse auch die Vergnügungsorte ... Die Schließung der Lokale war auf 7 Uhr angeordnet worden und alle Zivilisten mussten uni 9 Uhr zu Hause sein. 'Das brachte von selbst ein Unterbleiben der abendlichen Theater-, Kino- und Varietévorstellungen.'

Aber schon am nächsten Tag, einem Samstag, wurde die Polizeistunde wieder auf 11 Uhr gelegt (vorher 11 1/2) und die Bühnen und Kinos nahmen normal wieder ihren Betrieb auf ... Die Revolution schien vorerst keine Auswirkungen auf das tägliche Vergnügungsprogramm zu haben, ebenso wenig wie die weiterhin andauernde Grippeepidemie mit täglichen Todesfällen (etwa 100 Personen wurden täglich in die Krankenhäuser eingeliefert). Die Filme in den Kinos waren die gleichen wie zu Kriegszeiten.

Doch nicht nur in Vergnügungsorten merkte man oftmals von der Revolution wenig: "Der erste Sonntag im Volksstaat verlief ruhig: Die Münchner Bevölkerung machte Spaziergänge, im Frauendom wurde eine ganz normale Messe abgehalten, bei der der Pfarrer mit keinem Wort auf die Ereignisse einging (am südlichen Turm wehte die rote Fahne)"

Während bei den kommerziellen Vergnügungsorten meist alles beim Alten blieb, hatte sich im Nationaltheater ein Künstlerrat gebildet. ... Für die populäre Kultur hatte dies aber keine sichtbaren Folgen. ... Bekannt ist die Geschichte vom Münchner Komiker Weiß Ferdl (Bürgerlich Ferdinand Weisheitinger). Dieser war während des Krieges als Soldat an der Front in einer Singspieltruppe aktiv, mit der er auch Gastspielauftritte in München hatte, z.B. beim Vaterländischen Abend im Löwenbräukeller am 1.8.1917. Im Dezember 1918 jedenfalls trug der Weiß Ferdl im Platzl sein Revoluzilaaziluzilai Lied vor, indem er die Revolutionäre als unversehns an die Macht gekommenen dumm liehen Mob beschrieb, allerdings in einer Form, die scheinbar akzeptiert wurde, er selbst schrieb später: 'Dieses Lied hatte den einen großen Vorzug gehabt, dass es allen Parteirichtungen gefallen hat. Während der Räteregierung saßen viele Rotgardisten bei uns im Platzl, auch denen hat es gefallen.' Weiß Ferdl engagierte sich auch in der reaktionären Einwohnerwehr. Nach Niederschlagung der Revolution wurde sie eine jener reaktionären Kräfte, die das Bild der 'Ordnungszelle Bayern' schufen, W.F. schrieb sogar ein Stück mit dem Titel 'Die Ordnungszelle' und spielte schon 1921 zum ersten Mal auf einer Veranstaltung der NSDAP.

Auch die Ausrufung der Räterepublik beeinträchtigte in den ersten Tagen das Vergnügungsleben scheinbar nicht, aber die Kino- und Varietébesitzer fürchteten eine Sozialisierung ihrer Betriebe ... Am 15. April fand deshalb im Konzertsaal Hotel Wagner eine Protestveranstaltung mit 2000 Personen gegen Sozialisierung statt."


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Foto: Feldherrnhalle 7. Nov. 1918
Foto: Erich Mühsam
Foto: Kurt Eisner
Foto: Rotarmisten auf Münchner Straßen


*


Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 162, Winter 2009, Seite 35 bis 39
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org

Die Arbeiterstimme erscheint viermal im Jahr.
Das Einzelheft kostet 3 Euro,
Abonnement und Geschenkabonnement kosten 13 Euro
(einschließlich Versandkosten).
Förderabonnement ab 20 Euro aufwärts.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2009