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ITALIEN/408: Parlament nach Draghi-Rücktritt aufgelöst - Neuwahlen am 25. September (Gerhard Feldbauer)


Premier Draghi nach erneuter Niederlage im Senat zurückgetreten

Staatspräsident Mattarella löst Parlament auf
Wahlen am 25. September

von Gerhard Feldbauer, 22. Juli 2022


Entgegen den Erwartungen hat Premier Draghi mit 95 Ja- bei 38 Nein-Stimmen von 192 anwesenden Senatoren am Mittwoch in der Vertrauensabstimmung eine Niederlage erlitten. Herbeigeführt wurde sie durch die Senatoren der Regierungsparteien von M5S, Lega und FI, die nicht abstimmten, berichtete ANSA am Mittwochabend. Noch am Morgen hatte die staatliche Nachrichtenagentur nach einem Gipfel von Draghi mit Mitte-Rechts einen "neuen Hoffnungsschimmer" für einen Verbleib des Premiers im Amt gesehen. Draghi zog die Konsequenzen und teilte Staatspräsident Mattarella nochmals seinen Rücktritt mit. Nach Konsultationen mit den Präsidenten der Kammern - Senat und Abgeordnetenhaus - hat dieser das Parlament aufgelöst und vorgezogene Wahlen ausgeschrieben, die am 25. September stattfinden, berichtet die staatliche Nachrichtenagentur ANSA. Der Staatschef bat Draghi, bis zu den Wahlen im Amt zu bleiben.

Gescheitert war Draghi bereits am 14. Juni bei der Abstimmung über ein Hilfspaket im Umfang von rund 26 Milliarden Euro für italienische Familien wegen der hohen Energiepreise, die mit der Vertrauensfrage gekoppelt war. Seinen danach eingereichten Rücktritt hatte Staatspräsident Mattarella, um Neuwahlen im Herbst an Stelle der planmäßigen im Frühjahr 2023 zu vermeiden, abgelehnt und ihn zur neuen Vertrauensabstimmung ins Parlament zurückgeschickt, bei der er nun im Senat ein weiteres Mal gescheitert ist.

Der frühere Premier, M5S-Chef Giuseppe Conte, hatte die Hilfen als unzureichend abgelehnt und Verbesserungen, u. a. die Erhöhung eines Familien-Bonus über die vorgesehenen 200 Euro hinaus und einen Mindestlohn gefordert. Außer einigen vagen Zusagen hatte Draghi die in neun Punkten zusammengefassten Forderungen Contes nach einem Kurswechsel der Regierung abgelehnt und darauf bestanden, dass "Format und Umfang" der Mehrheit unverändert bleiben, andernfalls "die Legislaturperiode vorbei" sei. Conte wies die Beschuldigung, für die Krise verantwortlich zu sein, zurück. Gleichzeitig hatte er die Bereitschaft signalisiert, in der Regierung zu verbleiben, indem er seine Minister nicht zurückrief. Vergeblich hatte Draghi am Mittwoch laut ANSA versucht, einzulenken und erklärt, "eine starke und kohärente Regierung" mit einem "neuen konkreten und aufrichtigen Entwicklungspakt" zu bilden, um "drei Notfälle anzugehen: Pandemie, Wirtschaft und Soziales".

Das linke Manifesto schätzt ein, nun zeige sich, dass die gestürzte "Nationale Einheits"-Regierung, die die Spitze der Wirtschafts- und Finanzelite vertrat, "eine Zwangsheirat" war und den Kräften der Linken geschadet hat. "Während sich Mitte-Links tendenziell verengt, feiert die ganze Rechte am Horizont einen Wahlsieg im Herbst." Salvini, Meloni und Berlusconi werden "auf die Straßen zurückkehren und die Fahnen des Kampfes gegen das Bürgereinkommen, den Mindestlohn, die ökologische Umstellung schwenken".

Die Anhänger Draghis hatten nichts unversucht gelassen, sein Verbleiben durchzusetzen. Bürgermeister und Unternehmer hatten die Parlamentarier aufgerufen, ihm das Vertrauen auszusprechen. An der Spitze von über 1600 Unterschriften standen die von Roberto Gualtieri, Bürgermeister des PD in Rom, und von Giuseppe Sala, der in Mailand als parteiunabhängiger "Linker" auf der Liste des PD gewählt wurde. Einen weiteren Appell, den Interessenvertreter des Kapitals an der Macht zu halten, hatten die gesellschaftlichen Verbände ACLI, ARCI, Action Cattolica, Confcooperative, CNCA, FUCI, Gruppo Abele, Legambiente, Legacoop Sociali, Libera, MEIC und Movimento Politico per l'Unità erlassen.

Das Ruder herumgerissen hat die Chefin der faschistischen Brüder Italiens (FdI) Giorgia Meloni. Nachdem ihr Umfragen einen "haushohen Sieg" bei Wahlen voraussagten, haben Salvinis Lega und Berlusconis FI, die bis dahin für Draghi waren, sich ihr angeschlossen und das Ende eingeleitet. Draghi "müsse angesichts des besonderen Augenblicks die Flucht ergreifen", zitierte ANSA sie, und meinte, dass für Meloni "eine neue Phase beginne, die sie zurück in die Regierung bringen könnte".

Völlig ausgeklammert blieb, dass den Hintergrund der Auslösung der Regierungskrise die Unterstützung des von der NATO und der EU in der Ukraine geführten Krieges bildet und der M5S-Chef weitere Waffenlieferungen abgelehnt und eine Verhandlungslösung gefordert hatte. Worauf sich Außenminister Luigi Di Maio, der für einen "Sieg der Ukraine" über Russland eintrat, mit über 60 Parlamentariern abspaltete und eine neue Partei Insieme per il Futuro (IpF) bildete, die Draghi weiter unterstützte.

Die Märkte, die Draghi bisher unterstützen, reagierten mit Besorgnis. Laut ANSA zeigte der FTSE MIB-Index einen Rückgang von 4 %, was die schlechteste Performance unter den europäischen Börsen sei. Staatspräsident Mattarella ist nun des langen Feilschens müde und hat auf die Möglichkeit verzichtet, Draghi zu beauftragen, bis zum Ende der Legislatur im Frühjahr 2023 im Amt zu bleiben. Auch von der Einsetzung einer Übergangsregierung - in Rom war davon die Rede, an deren Spitze könnte der Präsident der Staatsbank, Ignazio Visco, treten, machte er keinen Gebrauch.

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Quelle:
© 2022 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 22. Juli 2022

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