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REZENSION/056: Christian Baron - Auf der Nachtseite des Lebens (SB)


Christian Baron

Auf der Nachtseite des Lebens

von Christiane Baumann


Auf der Nachtseite des Lebens. Zu Christian Barons packendem Roman Schön ist die Nacht

Mit einigen Figuren in Christian Barons neuem Roman konnte man bereits in seinem Debüt Ein Mann seiner Klasse (2020) Bekanntschaft schließen. Wurden dort Kindheit, Jugend und der schwierige soziale Aufstieg des 1985 in Kaiserslautern geborenen Arbeiterjungen Christian erzählt, so stehen nun dessen Großväter Willy Wagner und Horst Baron im Mittelpunkt. Auch dieser Roman ist autofiktional angelegt. Das Spannungsverhältnis von autobiographischer Grundierung und Fiktion erzeugt Authentizität und betont zugleich das Exemplarische des Erzählten, das am Romanerstling anknüpft. Der Arbeiter Willy hatte dort seinem Enkel erklärt: "Arbeit sei wichtig. Sie verhindere, dass aus uns Asoziale würden und sorge dafür, dass wir unsere Familien ernähren könnten." Der Roman Schön ist die Nacht entwirft ein krasses Gegenbild vom Arbeitermilieu in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre. Er schildert Ausbeutung und prekäre Arbeit, die für eine Familie Armut und das soziale Abseits bedeuten und mit Alkoholismus und Gewalttätigkeit kompensiert werden.

Die Geschichte von Willy und Horst beginnt in den Kriegswirren des Jahres 1944 in Kaiserslautern, das am siebten Januar gerade wieder einen Bombenangriff erlebt hat. Der elf Jahre alte Horst und der 15-jährige Willy begegnen sich auf dem Trümmerfeld. Der Jüngere ist aus dem Waisenhaus entwischt, der Ältere schiebt Brandwache. Beide überwinden das gegenseitige Misstrauen, stecken Ziele fürs Leben ab. Horst träumt von einer Villa, wie sie Apotheker Jansohn besitzt. Willy möchte vor allem "anständig bleiben". 29 Jahre später ist davon nichts geblieben. Von ehrlicher Arbeit kann der Zimmermann Willy seine Familie kaum ernähren und das Anständigbleiben erweist sich als Problem. Er schwankt permanent "zwischen Gesetzestreue und Regelbruch", denn ein anständiger Mann darf nicht stehlen, aber er muss auch seine Familie versorgen. Der ungelernte Arbeiter Horst ist da längst auf die schiefe Bahn geraten. "Dass man mit ehrlicher Arbeit was erreichen kann, hat noch nie gestimmt", das weiß er.

Schon in den 1950er-Jahren entpuppte sich der Slogan "Wirtschaftswunder und Wohlstand für alle" als Luftblase. In den 1970ern nun verschärfen sich im bundesdeutschen "Wunderland", so der Titel des ersten Romanteils, die sozialen Widersprüche: "Ölkrise und Konjunkturabschwung treiben die Arbeitslosenzahlen hoch." Billige Gastarbeiter erhöhen den Druck auf den Arbeitsmarkt. Baron seziert das Arbeitermilieu messerscharf und legt soziale Missstände offen. Der Roman erzählt, wie die Unterprivilegierten gegen andere Deklassierte ausgespielt werden. Man begegnet türkischen Gastarbeitern, Arbeitslosen und der Angst vor Arbeitslosigkeit ebenso wie Willys Liebe zur ehrlichen und anständigen Arbeit, gegen die Horst, der sich täglich als Gastarbeiter verdingt, eine tiefe Abneigung pflegt. Dass Arbeit etwas Gutes sei, wie man ihm immer gesagt hatte, würde doch "keine Sau" mehr glauben, so Horst. Es sei "idiotisch, eine Arbeit selber zu machen, die auch Maschinen erledigen könnten." Aber die Arbeiter seien für die Bonzen "einfach viel billiger", kosteten weniger als Roboter. Entfremdung nennt Karl Marx dieses Verhältnis der ausgebeuteten Arbeiterschaft zu ihrer Tätigkeit, die sie leisten muss, um zu leben. Anders als in seinem Romanerstling gelingt es Baron in Schön ist die Nacht durchgängig, die Ursachen der sozialen Misere sichtbar zu machen. Hierbei gerät Willys Mutter Hulda, eine Kommunistin, die während der Nazizeit im antifaschistischen Widerstand war, zur Schlüsselfigur. Mit ihren pointierten Marx-Exkursen und ihrem Plädoyer für "die menschlichste Staatsform", die für sie "eine richtige Demokratie, also nicht so was Scheinheiliges wie hier in der BRD", ist, provoziert sie Willy, aber auch Horst und setzt Impulse, die soziale Wirklichkeit, wie sie erlebt wird, zu durchdenken. Brechts Slogan "Der Mensch lebt durch den Kopf" aus dem Lied von der Unzulänglichkeit, das 1928 für die Dreigroschenoper entstand, ist nicht die einzige Kapitelüberschrift, die dazu auffordert, die soziale Wirklichkeit in ihren komplexen Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten zu begreifen.

Die Beziehungen der Romanfiguren sind ebenso vielschichtig wie ambivalent. Die Freundschaft von Willy und Horst zerbricht vor dem Hintergrund der unerträglichen sozialen Verhältnisse und erweist sich am Ende doch als tragfähig, wenn Willy seinen Freund auf dem Sterbebett begleitet. Willys Ehe mit Rosi ist geprägt von Gewalttätigkeit und Alkoholismus. Sie ist aber auch zart und voller Zuneigung, als beide erneut zueinander finden und Willy die krebskranke Rosi bis zum Tod pflegt. Nicht zufällig liest Willy immer wieder in "seinem Böll", in Heinrich Bölls Roman Und sagte kein einziges Wort (1953), der bundesdeutsches Arbeitermilieu der 1950er-Jahre in bedrückender Weise beschreibt und als einer der bewegendsten Eheromane der Nachkriegszeit gilt. Der "furchtbare Atem der Armut", wie es bei Böll heißt, rührt Willy an: "Der kannte die Dinge des Lebens". Folgen dieser Armut sind Krankheit und Gewalttätigkeit, soziales Außenseitertum. Es ist erschütternd, geradezu ungeheuerlich, wie Barons Roman diesen "Atem der Armut" in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre offenlegt. Es sei daran erinnert, dass zeitlich parallel das andere Deutschland, die DDR, weitreichende Sozialmaßnahmen für Arbeiter und Bauern umsetzte, Arbeitslosigkeit und soziales Elend dort der Vergangenheit angehörten.

Von den vielfältigen literarischen Bezügen im Roman sind Texte Bertolt Brechts hervorzuheben. Die Kapitelüberschriften weisen insbesondere auf die Tradition des Arbeiterliedes. Sie sind kontrapunktisch zum Erzählten angelegt. Während Willy und Horst von den prekären sozialen Verhältnissen nahezu erdrückt und straffällig werden, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, mahnen Liedzeilen an die Geschichte der Arbeiterbewegung, ihre Kämpfe und Ideale. "Wer kämpft kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren", meint Hulda provokant. Doch die soziale Dimension dieser Maxime geht an den Protagonisten vorbei. Barons Roman Schön ist die Nacht kreist, wie übrigens auch Bölls Roman, konzentrisch um die Frage der sozialen Gerechtigkeit, die die Arbeiter Willy und Horst nicht mit Klassenkampf verbinden, sondern in Robin-Hood-Manier angehen, wenn sie "diese ungerechte Welt mit ungerechten Mitteln um ein Quäntchen gerechter machen" wollen. Damit sind sie zum Scheitern verurteilt.

Kontrapunktisch verhalten sich auch Inhalt und Form des Romans zueinander. Der Komplexität des Erzählten stehen knappe Sätze, kurze Szenen und eine streng mathematische Struktur gegenüber. Wie im Film gibt es einen Vor- und Abspann, die drei Teile umschließen. Jeder Romanteil besteht aus vier Kapiteln. Die Vierzahl steht für die Welt mit ihren vier Himmelsrichtungen, Jahres- und Tageszeiten. Die jeweils vier Kapitel der drei Teile gehen in der Zwölfzahl auf, die den astronomischen Zeitrhythmus symbolisiert. Zwölf Monate bilden ein Jahr, zwölf Stunden zählen jeweils Tag und Nacht. Damit schließt sich der Kreis zum Romantitel. Beim Tango Schön ist die Nacht lernen sich Willy und Rosi kennen. Es ist ein hoffnungsvoller Anfang, doch der Schein trügt. Die Ironisierung des Titels weist auf ein weiteres Grundprinzip des Romans. Motive, Symbole und Subtexte konterkarieren das Erzählte. Während die Protagonisten um ihr tägliches Brot kämpfen, künden Schlager vom ewigen Glück und vom Platz an der Sonne. Der Sound der 1970er-Jahre aus Musik und Film, der Barons Roman eine unverwechselbare Authentizität verleiht, wird zum absurden Theater.

"Schön ist die Nacht, die lauschige Nacht, es leuchten die Sterne, ich habe dich gerne ..." Das Nacht-Motiv durchzieht den Roman. "Es war dunkel geworden, beinahe Nacht, und Nacht, das war die Zeit, in der die Sonne fehlte," und wo das Leben der Underdogs in Kneipen wie der "Goldmine", dem Treffpunkt von Willy und Horst, beginnt. "In der Nacht lag keine Eile, da konnte mancherorts ein Mensch noch ein Mensch sein", heißt es. Auf der Nachtseite des Lebens stehen die Unterprivilegierten. Das trifft einmal mehr auf die türkischen Gastarbeiter zu, die brutal ausgebeutet werden. Sie sind fleißig und angepasst, aber als Konkurrenz deutschen Arbeitern wie Horst verhasst. Existenznot und Heimatverlust bestimmen ihr Leben: "Wenn du eine Nacht hier verbringst, hörst du Männer weinen. Die Leute gucken uns an, als ob wir Affen wären."

Willy und Horst begegnen sich erstmals in einer Nacht des Jahres 1944. Damit bekommt das Nacht-Motiv eine historische Dimension, die in das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte, in die Nazizeit, reicht. Das Kriegserlebnis hat beide Protagonisten geprägt und wird immer wieder zum Bezugspunkt. Auch das ist etwas, was sie mit Bölls männlicher Hauptfigur Fred verbindet. Willy erinnert mit dem Krieg den "kältesten Winter seines Lebens", in dem ihn die "Leichen angestarrt hatten". Wenig später begreift er, dass das "Kämpfen vorüber gewesen war, das Morden aber noch nicht". Und Horst weiß 1979 in Zeiten des NATO-Doppelbeschlusses zur Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Deutschland: "Je größer die Kriegsgefahr, desto mehr Leute brauchten sie beim Militär." Es ist das Jahr, in dem SPD-Kanzler Helmut Schmidt mit dem US-Präsidenten Jimmy Carter über Nachrüstung verhandelt und es die Politiker "so gar nicht mit dem Frieden" hatten, obwohl klar war: "Frieden schaffen mit Waffen war aussichtslos". Wettrüsten und Kalter Krieg haben Konjunktur und verleihen Barons Roman eine verstörende Aktualität. Dass er an die starke Friedensbewegung erinnert, die sich dann in den 1980er-Jahren gegen nukleare Aufrüstung und den NATO-Doppelbeschluss formierte, um für ein friedliches Zusammenleben auf der Welt zu kämpfen, macht diese Leerstelle in den aktuellen Diskussionen geradezu schmerzlich bewusst.

Barons Roman endet im November 2011, als die Kinder von Horst und Willy, Ottes und Mira, die Christians Eltern waren, bereits tot sind. Sie gingen am Alkohol und am Krebs zugrunde. Was sie eigentlich zerstörte, das erzählt dieser ungewöhnliche und packende Roman über ihre Väter, ein Roman, der in jeder Hinsicht überzeugt.

Christian Baron
Schön ist die Nacht
Roman
Berlin: Claassen Verlag 2022
378 Seiten
ISBN 978-3-546-10026-7


16. Dezember 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 178 vom 24. Dezember 2022


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