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REZENSION/769: Kai Köhler - Klassik in den Kämpfen ihrer Zeit (Musikgeschichte) (SB)


Kai Köhler


Klassik in den Kämpfen ihrer Zeit

Personen, Werke, Zusammenhänge, Gebrauchsweisen in der Musik




Foto: Culturespaces / Les chorégies, CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/], via Wikimedia Commons

Großer Publikumsandrang bei klassischer Musik - hier im Théâtre Antique in der französischen Stadt Orange am 26. November 2007
Foto: Culturespaces / Les chorégies, CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/], via Wikimedia Commons

Klassische Musik? Zu Zeiten der Studentenbewegung ein absolutes No-Go, galt sie doch gerade vielen heute nicht mehr ganz so jungen Menschen, die den gesellschaftlichen Protest und Aufbruch seinerzeit zu ihrer Sache gemacht hatten, als Sinnbild, wenn nicht Synonym für gesellschaftliche Rückständigkeit und eine hoffnungslos veraltete, konservative Herrschaftskultur, die mit dem verhassten Establishment gleich mit hinweggefegt gehört hätte. All dies ist heute Schnee von gestern und schon allein deshalb fragwürdig, weil das Etikett "klassisch" hier als Unterscheidungsmerkmal zu der dieser Stilrichtung gegenüber von ihren Fans als progressiv empfundenen Rock- und Popmusik verwendet wurde, wobei die Frage, wie denn die sogenannte Klassik in ihrer eigenen Blüte- oder auch Entstehungszeit von ihren Zeitgenossen erlebt und bewertet wurde und wie sich ihre Protagonisten zu den gesellschaftlichen Kämpfen und politischen Konflikten ihrer Zeit gestellt haben, noch gar nicht berührt wurde.

Kurz gefragt, wie "politisch" kann klassische Musik sein? Da ein Großteil der Komponisten, deren Werke noch heute in Konzertsälen und Opernhäusern zum festen Aufführungsrepertoire gehören, weil sie die beste Gewähr bieten, die Besuchererwartungen zu erfüllen und damit die Finanzierungsanforderungen zu gewährleisten, in früheren Jahrhunderten gelebt haben, wäre die Frage nach der politischen Qualität und Ausrichtung ihrer Werke mit Blick auf ihre Wirkzeit und nicht nach den heutigen Rezeptionsgewohnheiten zu stellen. Ebendieser Aufgabe hat sich der Literatur- und Politikwissenschaftler Kai Köhler in seinem vom Mangroven Verlag vorgelegten Buch "Klassik in den Kämpfen ihrer Zeit. Personen, Werke, Zusammenhänge, Gebrauchsweisen in der Musik" ausführlich und auf eine lesens- und empfehlenswerte Weise gewidmet, hat er doch seine lebendigen, menschlich nachvollziehbaren Schilderungen der musik- wie allgemeinhistorischen Hintergünde mit detaillierten musikanalytischen Argumentationen auf der Basis pointierter Bewertungen verknüpft.

Es handelt sich bei diesem Werk um eine Sammlung bereits zuvor in linken Medien wie der Tageszeitung "junge Welt" veröffentlichter Beiträge. Dem Autor ist es gelungen, bei den Lesenden Interesse zu verstärken oder sogar zu wecken für sein Thema, klassische Musik und ihre komponierenden Schöpfer vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Kämpfe ihrer Zeit zu beleuchten und ihr politisches Wirken nicht nur auf textlicher Ebene, sondern - und zwar mit großer Freude und aufgewendeten Mühe zu fundierten Musikanalysen - in den Kompositionen selbst aufzuspüren respektive seine Einschätzungen plausibel zu machen.

Der inhaltliche Faden, der sich durch diese Beitragssammlung zieht und nahezu vergessen lässt, dass es sich nicht um einen eigens für diese Buchveröffentlichung neu geschriebenen Text handelt, liegt zunächst einmal in der thematisch-chronologischen Gliederung. Auf ein Kapitel, in dem Texte unter dem Titel "Aufstieg, Niedergang und Perspektiven bürgerlicher Musik" zusammengefasst und Komponisten wie Beethoven, Wagner, Tschaikowsky und Strauss vorgestellt wurden, folgt ein weiteres, dessen Titel "Musik im Weltbürgerkrieg (1914-1945)" aufhorchen lässt, ist es doch keineswegs üblich, die bisherigen Weltkriege sowie ihr Dazwischen als "Weltbürgerkrieg" zu bezeichnen.

Dem Sozialismus, genauer gesagt dem Thema "Sozialistische Musik und sozialistische Staatlichkeit", widmete Kai Köhler den dritten Abschnitt seines Buches, in dem das Gespann Bertolt Brecht und Hanns Eisler ebenso Berücksichtigung fand wie Dmitri Schostakowitsch und weitere sowjetische Musikschöpfer. Spätestens hier zeigt sich, dass die zeitliche Abfolge - der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass sich Köhler in weiteren Abschnitten den Themen "Musik im Westen und nach 1989", "Mediale Versetzungen" und "Musiktheater" widmete -, lediglich ein Hilfsgerüst darstellt, um sich der eigentlichen Frage, ob und wie es den Komponierenden gelungen ist, ihre (politischen) Botschaften in ihrer und durch ihre Musik an die Menschen zu bringen, anzunähern.


Foto: Bundesarchiv, Bild 183-19204-2132 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en], via Wikimedia Commons

Kreatives Gespann - der Dichter, Schriftsteller und Regisseur Bertolt Brecht (r.) im Gespräch mit dem Komponisten Hanns Eisler (l.) am 21. März 1950 in der Akademie der Künste der DDR in Berlin
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-19204-2132 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en], via Wikimedia Commons

Es hätte dem Autor, beispielsweise in der Einleitung, gut zu Gesicht gestanden, in aller Deutlichkeit klarzustellen, wo er sich auf dem "Schlachtfeld" der von ihm geschilderten, auch mit musikalischen Mitteln ausgetragenen gesellschaftspolitischen Kämpfe sieht und welche Absichten er mit dieser Publikation verfolgt. Nicht, dass er ein Geheimnis daraus gemacht hätte, dass er der sozialistischen Seite nahesteht, was sich aus seiner publizistischen Tätigkeit für Medien wie die "junge Welt" ohnehin erschließt. Nein, es wäre wünschenswert gewesen, hätte er beispielsweise klipp und klar gesagt, dass seiner Auffassung nach Musik - so auch die, die "klassisch" genannt wird - danach zu bemessen sei, ob sie imstande ist, "Entwicklung" und "Fortschritt" in sich zu verwirklichen und gesellschaftlich zu befördern. Doch lassen wir den Autor selbst zu Wort kommen zu der gewiss schwierig zu beantwortenden Frage, worin denn "das Politische der Musik" zu bemessen oder auch nur festzustellen sein möge:

Denn auf der abstraktesten, am schwierigsten nachzuvollziehenden Ebene zeigt sich das Politische der Musik im Gehalt der Form. Große, fortschrittliche Kunst liegt da vor, wo die Form selbst Dialektik versinnbildlicht. Spannungsverhältnisse, Widersprüche führen zu Konflikten und diese zu Widersprüchen auf höherer Ebene: Die bedeutendsten Werke der Musik stehen im Kontext des deutschen Idealismus, insbesondere der Hegelschen Philosophie als der Grundlage des Marxismus; was natürlich nicht heißt, dass es sich um deutsche Musik handeln muss.

Für eine progressive Form ist es nicht notwendig, dass die Komponisten Philosophie kennen oder sie gar verstehen. Die Anschauuungen des am Beginn seiner Geschichte fortschrittlichen Bürgertums flossen in die Musikästhetik und in das musikalische Handwerk ein. Spätere Komponisten übernahmen die Technik und konnten fortschrittlich schreiben, ohne auf der Ebene von Politik und Gesellschaft jemals fortschrittlich zu denken. (S. 13) 

Nehmen wir die Aussage des Autors, "große, fortschrittliche Kunst" läge da vor, wo "die Form selbst Dialektik versinnbildlicht". Hilft uns das weiter? Müssen wir nicht, um dies diskutieren zu können, erst einmal klären, wie Köhler Begriffe wie "Form" und "Dialektik" im Kontext zu klassischer Musik verstanden wissen möchte? In seinem Beethoven gewidmeten Beitrag sagt der Autor beispielsweise, es sei diesem nicht darum gegangen, mit der Form ein "vorgegebenes Schema" zu erfüllen, sondern "mit jedem Werk eine ganz neue, dem musikalischen Material entsprechende Verlaufsform zu entwerfen". Stets habe sich Beethoven "um das dialektische Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, damit um eine philosophische Grundfrage" gekümmert, die er "auskomponiert" habe. (S. 23) Um Interesse zu wecken bei heutigen, nicht zwingend klassikaffinen Leserinnen und Lesern - was Kai Köhler ja gelungen ist -, hätten Dialektik und Philosophie und was der bedeutungsschweren Dinge mehr sind, nicht bemüht zu werden brauchen.

Doch zurück zu dem an klassische Musik gestellten Anspruch des Autors, sie möge einer positiven, also fortschrittlichen Gesellschaftsveränderung das Wort reden oder vielmehr den Ton vorgeben. Zu Richard Wagner schreibt er, seine "Anfänge können, nach den Maßstäben der Zeit, als progressiv gelten". Köhlers Auffassung zufolge besteht eine Verbindung zwischen politischer und musikalischer Fortschrittlichkeit, hielt Wagner doch "Verbindungen zu den oppositionellen Schriftstellern des Jungen Deutschland, und seine ersten, noch konventionellen Opernversuche aus den 1830er Jahren können als gesellschaftskritisch gedeutet werden." (S. 29) Die Zeit von 1839 und bis 1842 sei eine "Phase politischer Radikalisierung Wagners" gewesen. Nach erfolglosen Versuchen, seine Werke in Paris zu verkaufen, habe sich sein deutscher Nationalismus zu einem "Hass auf das Geschäft mit Kunst" verstärkt, das er "bedenkenlos mit dem Judentum identifizierte". Die Ablehnung überkommener Opernregeln sei bei ihm "mit der Ablehnung der Gesellschaft verbunden, zu der sie gehörten". (S. 30)

Als Komponist sei Wagner im Urteil des Autors mit seinen hohen Ansprüchen, "etwas völlig Neues zu schaffen", nämlich das "Musikdrama als Gesamtkunstwerk", das die vorherigen Gattungen ersetzen sollte, gescheitert. (S. 34) Gleichwohl attestiert Köhler ihm "unzählige musikalische Schönheiten" sowie "szenische und musikdramaturgische Konstellationen, die Erkenntnisse ermöglichten", meint aber, dass dies nicht "auf eine Gesellschaft, die den Fortschritt im Kapitalismus weiterentwickelt und planbar macht", verweise. Stattdessen habe Wagner "auf eine unumschränkte Herrschaft, auf Vergröberung und Brutalisierung" gezielt; daran, dass "die Faschisten ihn mochten", sei er "nicht unschuldig" gewesen. (S. 38)


Foto: Christian Michelides, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Umstritten - Richard Wagner und sein Werk, hier eine Aufführung der Oper Lohengrin in Oslo am 2. März 2015
Foto: Christian Michelides, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Gibt oder vielmehr gab es den Komponisten, die nach Ansicht des Autors dem Anspruch, in ihrer Musik die Idee von einer Gesellschaftsveränderung, die über die Zerstörung bisheriger Strukturen hinausgeht, Genüge getan haben? Diese Frage ist mit einem eindeutigen Ja zu beantworten. Dmitri Schostakowitsch beispielsweise, im Kapitel "Sozialistische Musik und sozialistische Staatlichkeit" gleich mit fünf Beiträgen vertreten und laut Köhler "unter den Komponisten des 20. Jahrhunderts in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung", sei "einer der wenigen Musiker, die in fast jedem Werk die politischen Umstände der Entstehung und den politischen Gehalt mitzudenken zwingen", gewesen. (S. 201)

Zwar sei er keineswegs der Erste gewesen, der politische Ereignisse musikalisch darzustellen suchte. Zu solchen Zwecken Titel und Liedtexte zu verwenden, versteht sich von selbst, auch mit Klangfarben, beispielsweise deftigen Paukenschlägen, Kriegsgetöse zu simulieren, liegt auf der Hand. All dies mache jedoch, Köhler zufolge, noch keinen sozialistischen Komponisten aus. Bei Schostakowitschs beiden "Revolutionssinfonien" (Nr. 11 "Das Jahr 1905" und Nr. 12 "Das Jahr 1917", gewidmet den russischen Revolutionen von 1905 und 1917) sei es nicht darum gegangen, das damalige politische Geschehen "einfach wiederzugeben" oder "bloß zu bejubeln", sondern darum, es "in seinem Zusammenhang und in seiner Entwicklung sinnlich nachvollziehbar werden zu lassen". (S. 229/230) Ein hoher Anspruch, schon schwer zu erfüllen unter Verwendung textlicher Mittel wie Werktiteln, Satzüberschriften und Liedzitaten. Doch das reiche nicht aus, so Köhler, und sagt:

Zweitens aber muss ein sozialistischer Komponist die musikalische Zeit aufheben. Das heißt, dass sein Werk nicht nur eine Reihe wie auch immer schöner und effektvoller Momente ist, sondern die Bestandteile des Geschehens in ihrer Geschichte zeigt. Die Zeichen für das Konkrete müssen also in einen Verlauf, eine Entwicklung eingebunden werden; und all dies betrachtet vom Wissensstand zum Zeitpunkt der Komposition, der mehr ist als das bloße identifikatorische Miterleben. Schostakowitschs Sinfonien 11 und 12 sind beispielhafte Lösungen dieser Aufgabe. (S. 230) 

Wer dies nun genauer wissen möchte oder einfach nur neugierig geworden ist, wie der Autor dies im Detail darstellt und begründet, dem sei die Lektüre dieses Buches wärmstens empfohlen. Darüber hinaus bietet es eine Fülle wenig bis kaum bekannter Fakten und Hintergrundinformationen auf der Basis bestimmter musik- wie auch allgemein-historischer Sichtweisen, die der Beschäftigung und Auseinandersetzung allemal wert sind ganz unabhängig davon, ob Köhlers Stellungnahmen wie hier die Aussage, ein sozialistischer Komponist müsse "die musikalische Zeit aufheben", bei den Lesenden nun auf Verständnis oder Zustimmung stoßen.

Klassische Musik per se als "unpolitisch" abzuwerten, weil in ihr "nur den schönen Künsten gefrönt werde", greift, wie sich aus dem Buch eindeutig herauslesen lässt, schlicht zu kurz. Die Parteinahme des Autors für die in der sogenannten Systemauseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die inzwischen mehr und mehr in Vergessenheit geraten, wenn nicht gebracht wurde, unterlegene Seite spricht für ihn. Der Autor, Jahrgang 1964, tritt diesem Vergessen(machen), die klassische Musik in ihren Entstehungszusammenhängen zum Anlass nehmend, entgegen.

Nun könnte eingewendet werden, dass die Erinnerung an die (bisher gescheiterten) Bemühungen, so etwas wie den Sozialismus respektive die Menschheitsutopie einer klassenlosen und deshalb herrschaftsfreien Gesellschaft (Kommunismus) zu verwirklichen, keineswegs vonnöten sei, um die mit dem Begriff Kapitalismus etikettierte herrschende Ausbeutungsordnung als unfähig, die drängenden Menschheitsfragen auch nur in Angriff zu nehmen, zu bewerten. Klassische Musik nach bestimmten Kriterien sozusagen zu Propagandazwecken als sozialistisch zu postulieren, wären insofern ebenfalls nicht erforderlich. Den Hörgenuss der hier vorgestellten Musik - bei dementsprechender Neigung - schmälert dieser Kritikpunkt ebenso wenig wie die ergiebige Lektüre des hier vorgestellten Buches.

8. Dezember 2022

Kai Köhler Klassik in den Kämpfen ihrer Zeit
Personen, Werke, Zusammenhänge, Gebrauchsweisen in der Musik
Mangroven Verlag, Kassel 2022
321 Seiten
ISBN 978-3-946946-26-7


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 178 vom 24. Dezember 2022


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