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REZENSION/767: Bernd Hontschik - Heile und Herrsche! Eine gesundheitspolitische Tragödie (SB)


Bernd Hontschik


Heile und Herrsche!

Eine gesundheitspolitische Tragödie


Das deutsche Gesundheitssystem bröckelt. Schulden über Schulden. Insolvenzen, Krankenhausschließungen, Übernahme staatlicher Kliniken durch private Investoren. Arztpraxen und medizinische Versorgungszentren, die von Kapitalgesellschaften oder Klinikkonzernen aufgekauft werden, und Ärzte, die sich danach plötzlich damit konfrontiert sehen, dass sie ihrem medizinischen Auftrag nicht mehr so nachkommen können, wie sie es für richtig erachten, sondern gezwungen werden, sich dem wirtschaftlichen Diktat ihrer Betreiber zu beugen. Pharma-Konzerne, die die Produktion wirksamer Medikamente einstellen, weil die behandelten Krankheiten durch eine erfolgreiche und schnelle Heilung seltener auftreten und die sinkende Gewinnmarge für dieses Mittel wirtschaftlich gesehen nicht mehr von Interesse ist.

Die Patienten haben das Nachsehen und sehen sich vielerorts und besonders auf dem Land mit einer desolaten haus- und fachärztlichen Versorgung konfrontiert. Immer mehr Praxen schließen aus Altersgründen, weil kein Nachfolger gefunden werden kann. Wartezeiten auf Facharzt-Termine oder Operationen erstrecken sich über Monate, und die Patienten im Krankenhaus bekommen die Folgen einer eklatanten Unterbesetzung und der daraus folgenden Überforderung sowohl des ärztlichen als auch des Pflegepersonals direkt zu spüren. Oftmals werden sie vorzeitig entlassen, ohne dass sichergestellt ist, ob sie zu Hause zurechtkommen, und ohne Gewährleistung einer angemessenen Nachsorge. Der Patient als Individuum geht im Zuge der zunehmenden Digitalisierung verloren.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) gibt an, dass bis zu 40 Prozent der Krankenhäuser eine Insolvenz droht. Und nach einer aktuellen Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts können 96 Prozent der Kliniken die gestiegenen Kosten durch die hohen Energiepreise und die enorm angestiegene Inflation nicht mehr aus den laufenden Einnahmen finanzieren. Auch die gesetzlichen Krankenkassen erwarten ein Rekorddefizit im kommenden Jahr, das voraussichtlich mit Hilfe eines erhöhten Zusatzbeitrags auf die Mitglieder umgelastet wird. Dazu kommt, dass immer mehr Menschen von Armut betroffen sind und sich trotz Versicherungspflicht keine Krankenversicherung mehr leisten können. Laut den Zahlen des statistischen Bundesamts waren im Jahr 2021 mindestens 80.000 Personen nicht krankenversichert, wobei man von einer hohen Dunkelziffer ausgehen muss.

Wer anfängt, sich mit der Frage, wie es soweit kommen konnte, zu beschäftigen, sieht sich nicht nur in vielen Fachartikeln, sondern auch in den aktuellen Meldungen und Nachrichten mit einer Flut medizinischer Fachbegriffe und Abkürzungen konfrontiert: Upcoding, DRG (Diagnosis Related Groups), CMI (Case Mix Index), ICD (International Classification of Diseases), P4T (Pay for Transparency), P4Q (Pay for Quotient), P4P (Pay for Performance), M-RSA (Morbiditäts-Risikostrukturausgleich) und so weiter und so fort. Viele kleine und größere Gesetzesänderungen haben in den letzten Jahrzehnten den Weg freigemacht für die Umwandlung eines solidarisch angelegten Gesundheitswesens in ein Gesundheitswirtschaftssystem, "in dem heute wesentliche medizinische Entscheidungen von Ökonomen und Politikern getroffen werden" (vorderer Klappentext).

Einen Weg durch diesen Dschungel von Informationen bietet das Buch "Heile und Herrsche! Eine gesundheitspolitische Tragödie" von Bernd Hontschik, das jedem, der sich einen schnellen Überblick über die komplexen Zusammenhänge verschaffen möchte, einen überaus hilfreichen Einstieg in die Thematik bietet. Der kleine Band mit nur 143 Seiten kommt mit einem flexiblen Einband, großer übersichtlicher Schrift und großem Zeilenabstand äußerst leserfreundlich daher.

Vor drei Jahren hatte ich mich entschlossen, ein Buch zu schreiben. Mit ihm wollte ich zeigen, dass der Mensch keine Maschine ist, dass die Medizin als profitables Geschäftsmodell dabei ist, ihre Seele zu verlieren, und dass man gegen Krankheiten keinen Krieg führen kann. Ich war zunehmend empört über eine Gesundheitspolitik, die wie am Fließband ständig neue Gesetze mit immer neuen Fantasienamen produzierte, um die Umgestaltung des Gesundheitswesens zu einer renditeorientierten und digitalisierten Gesundheitswirtschaft zu beschleunigen... (Seite 9)  

...schreibt der Autor zu Beginn seiner Ausführungen. Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehen konnte, war die weitere Entwicklung im Zuge der Bekämpfung der Corona-Pandemie, nämlich der Umbau des Gesundheitssystems zu einem profitablen Herrschaftsinstrument:

Dem Gesundheitswesen wurde eine politische Aufgabe zugeordnet, um es zur Ausübung politischer Macht zu gebrauchen. Die hat inzwischen eine neue Dimension erreicht, eine Dimension, die man bisher nur aus mehr oder weniger hellsichtigen Science-Fiction-Romanen kannte. Im Zeichen der Corona-Pandemie wurden sämtliche ehernen Grundsätze des Gesundheitswesens und der Humanmedizin gebrochen. Die "Überlastung unseres Gesundheitswesens" als Horrorvision wurde zur "alternativlosen" Begründung für einschneidende Maßnahmen in jeden Alltag, von der Kinderkrippe bis zum Altersheim. (Seite 12)  

Spannend, tempo- und detailreich führt der Autor den Leser zunächst quer durch die Geschichte und die Entwicklung der Medizin und des Gesundheitswesens. Er erzählt von ersten schriftlichen Erwähnungen von Belohnungen ärztlicher Tätigkeit im 3. Jahrtausend v. u. Z. in Mesopotamien, über die Regelungen im alten Ägypten, im alten Griechenland, in China, über die mittelalterliche Mönchs- und Klostermedizin bis hin zu einer "schon fast modern anmutende[n] Variante ärztlicher Bezahlsysteme" (Seite 19), die im 13. Jahrhundert durch den Stauferkaiser Friedrich II. eingeführt wurde. Und ehe man sich's versieht, ist der Autor auch schon in der Neuzeit und im Heute angelangt.

Mit großer Leichtigkeit und Verständlichkeit erläutert er die verschiedenen Entwicklungsstufen des heutigen Gesundheitssystems in Deutschland bis zum aktuellen Stand der Dinge. Medizinische und politische Fachbegriffe werden erklärt und in den Kontext einsortiert. Das Kapitel "Krankenkassen" zeichnet nicht nur den historischen Weg der Sozialversicherungen nach, sondern wirft auch einen Blick auf die Entwicklung der Krankenversicherung in anderen europäischen Ländern und den USA.

Weitere Überschriften lauten: "Krankenhäuser", "Gier", "Digitales", "Medizin als Herrschaftsinstrument", "Wie könnte das Gesundheitswesen der Zukunft aussehen?" und "Wo kann ich mitmachen?"

Es ist das Verdienst des Autors, dass er durch seinen kurzweiligen Schreibstil und sein Vermögen, komplexe Sachverhalte verständlich und übersichtlich darzustellen, beim Leser Interesse an der Materie zu wecken vermag und es diesem ermöglicht, sich eine eigene Meinung zu bilden und die aktuellen Entwicklungen im Gesundheitswesen in ihrer politischen Bedeutung einzuordnen.

Die Kürze, mit der eine Vielzahl von Fakten und anekdotenreichen, zum Teil amüsanten Details aufbereitet wird, gibt dem Buch eine bunte Oberfläche, die es abwechslungsreich und leicht lesbar macht, unter der jedoch auf jeder Seite die Ernsthaftigkeit des Autors durchschimmert. Hinweise auf Skandale und Zitate zeitgenössischer Personen, über die man sich, wenn man möchte, leicht empören kann, tragen ebenfalls zur Kurzweiligkeit bei. Dabei tut das der Seriosität des Buchs insofern keinen Abbruch, als der Autor keinen Hehl daraus macht, dass es sich um eine Streitschrift handelt, also eine "Schrift, in der gegen eine bestimmte Person, Sache polemisiert wird" (DWDS - Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache).

Man muss dem Autor nicht in allen seinen Ausführungen und teilweise etwas sehr verkürzten Meinungsäußerungen folgen, und kann dennoch einen großen Gewinn aus dem Buch ziehen, indem man sich gerade an diesen Textstellen reibt und angeregt wird, sich weiter in die Materie einzulesen. Die vielen Fußnoten und das ausführliche Quellenverzeichnis sind dabei von großem Nutzen.


Porträt von Bernd Hontschik - Foto: Barbara Klemm / bienenkorb / CC BY-SA 4.0 - unverändert, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

"Wenn man das Gesundheitswesen verstehen wollte, musste man der Spur des Geldes folgen. Bisher.
Inzwischen kommt die Spur der Macht hinzu." (Seite 5)
Foto links: Barbara Klemm / bienenkorb / CC BY-SA 4.0 - unverändert
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Der Chirurg und Autor Bernd Hontschik wurde 1952 in Österreich geboren. Seine Schulzeit verbrachte er in Frankfurt am Main, wo er auch sein Medizinstudium absolvierte. Nach seiner Facharztausbildung praktizierte er bis 1991 an den Städtischen Kliniken Frankfurt-Höchst und danach bis 2015 in eigener Praxis. In den 80er Jahren engagierte er sich als Vorstandsmitglied von medico international und von 1998 bis 2013 als Vorstandsmitglied der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin. Seit 15 Jahren schreibt er regelmäßig Kolumnen für die Frankfurter Rundschau, in denen er häufig Missstände und Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen anprangert. Sein Bestseller "Körper, Seele, Mensch" eröffnete im Jahr 2006 die von ihm herausgegebene Taschenbuchreihe "medizinHuman" im Suhrkamp Verlag.

Bernd Hontschik fordert eine medizinische Versorgung frei vom ökonomischen Diktat. Seine Mission ist die Rettung des Gesundheitswesen. "Niemals darf die Medizin als Herrschaftsinstrument missbraucht werden. Sie muss allein dem erkrankten Individuum dienen." (Klappentext Rückseite) Seinen eindringlichen Appell formulierte er in einem aktuellen Artikel für das IPPNW-Forum, den Mitteilungen der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e.V. folgendermaßen:

Wir müssen uns darauf besinnen, worum es in der Medizin eigentlich geht. Wir müssen uns daran erinnern, dass wir eine Aufgabe haben. Diese Aufgabe droht unterzugehen, in Management-Programmen, in Codierungen, in Konzerninteressen, in Studien und im Kampf ums Geld. Wenn wir Ärzt*innen unsere Patient*innen zu Sachen, zu Werkstücken machen lassen, ist es aus mit der Medizin. Man müsste Ärzt*innen dann in die Rote Liste der bedrohten Arten aufnehmen. Unsere Aufgabe ist die Begleitung unserer Patient*innen in der einsamen Welt der Krankheit, oder im günstigen Fall aus der einsamen Welt der Krankheit - so weit es eben geht - wieder zurück in die Welt der Gesundheit. Und deswegen lautet die immer wieder gleiche Botschaft:

Es geht um die Rettung des solidarischen Gesundheitswesens und der Humanmedizin vor dem Würgegriff des Kapitalismus.

(Quelle des Zitats: Bernd Hontschik: "Das große Schiff Gesundheitswesen", IPPNW-Forum Nr. 171 - September 2022
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/gesund/m3bu0245.html)  

26. September 2022

Bernd Hontschik
Heile und Herrsche! Eine gesundheitspolitische Tragödie
Westend, Mai 2022
143 Seiten
18,00 Euro
ISBN: 978-3864893582


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 177 vom 1. Oktober 2022


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